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Markus und die ewigkeit - von HERBERT, 16.01.2010

Markus und die Ewigkeit


Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter langsam kleiner wurden. Plötzlich setzte sich der Mann in Bewegung, schrie „Dr. Gordon, warten sie,
Dr. Gordon!“ und „Mutter“.
Er schrie, während er schnell und schneller lief.
Vergebens. Der Zug war weg.


„Ach, Scheisse!“, schwer atmend erwachte Markus. Schweissüberströmt. Schon wieder der Bahnhof.
Schon wieder der gleiche Traum. „Verdammte Scheisse, oje, oje“, Markus sass bereits kerzengerade auf der Bettkante, das Herz pochte schreckensschwer, das erwachende Bewusstsein liess ihn unwillkürlich lachen. „Mein Gott, mein Gott, oha...“, Markus befühlte seine Bartstoppeln.
Dann begann er zu rezitieren: „Ha, ha, Alabama Slammer... der Alabama war ein Slammer, ha, ha...“ Das Gesöff war stark und gut. So sagte ihm die Erinnerung. Ein starker Drink, die Nase fuhr dabei hart am Wind. Dann waren sie auch schon da, die Lichter. Schön, die Lichter. Viele Lichter. Viel Schnee und einen herrlichen Arsch protokollierte ihm das Gedächtnis. Wenn nur dieser verdammte Alptraum nicht wäre. Markus stöhnte, seine Nase war verstopft. Und noch einmal: „Scheisse“. Er fragte sich unwillkürlich, was ihm die kleine Nutte wohl gelassen hatte. „Oh, bonito, bonito, oh senior...kommst du mit mir?“, er äffte die Stimme der Bordsteinschwalbe nach, während er seine Brieftasche in den
heruntergelassenen Hosen zu seinen Füssen ertastete. Sie war da.
Wenigstens etwas. Seine Uhr fehlte. Er hatte sie auf den kleinen
Rauchertisch neben dem Bett gelegt. Weg. Auch gut. Auch sein
Mobiltelefon war weg. Egal. Er zog die Hose hoch und wischte mit der Handfläche die Kokainresten von der Tischplatte. War nicht nötig, dass gleich die Drogenfahndung das Motelzimmer inspizierte, dachte er. Im dreckigen Badezimmer betrachtete er sein Spiegelbild und überlegte, er sollte vielleicht den Termin bei Dr. Gordon doch wahrnehmen. Der Seelenklempner würde ihn sicher aufhellen. Oder ihm wenigstens den beschissenen Traum erklären. Ein Nachtzug, Himmel, er war ja nicht einmal sicher, ob das jeweils ein Nachtzug war. Es fühlte sich eher nach dem letzten Zug nach irgendwo an. Irgendwie. Auf jeden Fall verpasste er immer etwas Lebenswichtiges. Darum der Schrecken und das Herzklopfen. Vielleicht war das alles auch total anders. Er konnte es nicht beurteilen.
Markus stopfte das Hemd in die Hose, griff nach seiner Krawatte und begann, nach Jacke und Zigaretten zu suchen.
Beides fehlte. Die Kleine war wohl tüchtig gewesen. Möge Gott sie segnen. Auf jeden Fall hatte sie Feuer im Arsch, er war ihr nicht einmal böse. Zerknittert schlurfe er zum Empfangsschalter. Das Zimmer bezahlte er mit der Kreditkarte und verlangte auch gleich ein Taxi. Die Blicke des Portiers sprachen für sich, als Markus ihm die billige Sonnenbrille für einen weiteren Zuschlag von zehn Scheinen abkaufte, zwei Zigaretten abschnorrte und das Stundenhotel mit unsicherem Gang verliess. Kurz vor elf Uhr mittags betrat er seine Wohnung. Der Anrufbeantworter blinkte in allen Farben. Die Nachrichten entsprachen seinen Umständen:
Das Büro, einmal, zweimal, noch einmal das Büro, die Mutter, das Büro, die Mutter, die Praxis, das Büro.
Zwei Aspirin halfen ihm, das Kommende psychisch vorzubereiten. Dann wählte er die erste Nummer. „Mensch Markus wo steckst du?“, die Stimme seines Partners und Mitarbeiters am anderen Ende der Leitung klang leicht hysterisch. „Ich habe um zwei Uhr den Termin mit dem Architekten und du pennst, oder was weiss ich?“ „Hallo Schätzchen ganz ruhig, hast du auf meinem Tisch nachgesehen? Was liegt wohl dort, was?“ Markus stellte sich vor, wie sein Partner Roberto jetzt atemlos durch das Architekturbüro wetzte, um seinen Tisch aufzusuchen. Wie ein wild gewordenes Fretchen oder sonst ein kleiner Nager. Er musste lachen. „Mann ich küsse dich. Die Pläne. Du hast sie fertiggemacht. Ich liebe dich. Leg dich hin und ruh dich aus. Ich hole dich heute Abend ab, ja. Wir gehen ins White Horse. Abgemacht?“
Robertos Stimme überschlug sich fast. Markus lachte: „Kindskopf. Aber mach mal. Viel Erfolg heute Nachmittag.“ Beide arbeiteten sie für das wohl bekannteste Architekturbüro in der Stadt, beide waren sie masslos und oft ausserordentlich kindisch. Oder grenzdebil, je nach Standpunkt des Betrachters. Die nächste Nachricht war von Dr. Gordon. Respektive von seiner Sprechstundehilfe: „Guten Tag Herr Frey, darf ich Sie an Ihren Termin bei Dr. Gordon erinnern? Sie werden um 14.00 Uhr in der Praxis erwartet.“ Den Termin würde er wohl sausen lassen, am Abend musste er
bei Kräften sein. Dann klingelte das Telefon. „Markus bist du da?“ Er beeilte sich, den Hörer abzuheben. „Klar Mama, alles in Ordnung Mama.“ „Wo warst du? Ich suche dich schon den ganzen Morgen. Im Geschäft warst du auch nicht. Heute Abend kommen die Fischers und ich will, dass du wenigstens beim Abendessen anwesend bist. Hörst du mich?“
„Klar und deutlich, Mama. Klar und deutlich.“ Ihr Redeschwall war ihm zu starker Tobak. „Aber warum muss ich denn mit Fischers
zusammenkommen?“ „Weil ich im Namen unserer ganzen Familie
eingeladen habe, weil Du ein Teil dieser Familie bist und weil Fischers Tochter bestimmt besser wäre, als die Flittchen mit denen Du dich herumtreibst. Hörst du mich?“ „Herrgott Mutter!“ Stille Verzweiflung stieg in Markus hoch. „Ich sehe nicht ein...“ „Markus, keine Widerrede! Ich habe dieses Essen schon vor einer Woche angekündigt. Sieh zu, dass Du rechtzeitig bist!“
Markus fühlte sich sehr müde, als er den Hörer auflegte. Falsch, dachte er, er würde den Termin mit Dr. Gordon eben doch wahrnehmen. Wenn er sich beeilte, könnte er noch den Mittagszug erreichen und wäre dann rechtzeitig in der psychologischen Praxis des Dr. Mabuse. Er lachte in sich hinein.
Flüchtig rasiert und zu stark parfümiert nahm er ein Taxi, damit er den Bahnhof rechtzeitig erreichen konnte. Im Bahnhofsgebäude angelangt, rannte er auf kürzestem Weg zum Abfahrtssteig.
Fast geräuschlos glitt der Mittagszug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter langsam kleiner wurden.
Plötzlich setzte sich der Mann in Bewegung, schrie: „ Dr. Gordon, warten Sie, Dr. Gordon!“ und „Mutter“. Er schrie, während er schnell und schneller lief. Vergebens. Der Zug war weg.
„Ach Scheisse!“ schwer atmend erwachte Markus. Schweissüberströmt. Schon wieder der gleiche Traum. Er war nur kurz eingenickt und fing jetzt an, die heruntergelassenen Hosen bei seinen Füssen zu betasten.
Dieser Akt dauerte mindestens eine Ewigkeit.
Schien ihm.



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