Der Wind strich sanft über sein Gesicht und durchkämmte seine Haare. Die Lichter der schlafwandelnden Stadt erhellten die Umrisse der himmelshohen Gebäude die sich schützend um seinen Rückzugsort reihten. Wenige Autos belebten die Adern der Metropole und er fühlte sich in dieser Umgebung heimisch und geborgen. Jeden Abend bot sich das gleich Bild. Nahezu zwanghaft suchte er nach Einbruch der Nacht das Dach des Bürogebäudes auf, in dem er während des Tages teilnahmslos und mechanisch seiner Arbeit nachging. Er stand nur wenige Zentimeter von der gähnenden, Ruhe versprechenden, Leere entfernt. Ein Schritt und es wäre vorbei. Er würde in den ewigen Schlaf, die traumlose Nacht eintauchen und der gesamte Schmerz, die Qual die seit jenem Tag vor zwei Jahren seine stete Begleiterin war, würde von ihm abfallen, einfach verschwinden. Wie er selbst. Er bräuchte nichts mehr fühlen und vielleicht wäre er wieder vereint. Vereint mit ihr. Vollständig. Er hatte in der vergangenen Zeit oft darüber nachgedacht diese winzige aber entscheidende Entfernung zu überwinden, schämte sich aber dafür. Jeder Gedanke den letzten, endgültigen Schritt zu tun vergrößerte seine Qual um ein Vielfaches. Eine unsichtbare Grenze die er unmöglich überschreiten konnte. Er durfte es nicht. Es wäre Verrat. Verrat an dem was ihm alles bedeutete. Verrat an ihr. Verrat an der Liebe die ihn des Lebens befähigte. Bis zum letzten Atemzug hatte sie gekämpft, bis zur letzten Hebung der künstlichen Lunge. Sie verlor und er verlor sich selbst, starb mit ihr und erwachte mit ihrem letzten Laut zu neuem Leben. Sie verabschiedete die Welt, allem voran ihn, ihren Mann, ihr Leben. Nicht mit Schmerzen sondern mit Hoffnung. Strahlender, blühender Hoffnung die ihn erfüllte und aus der er Tag für Tag zu schöpfen begann. Es war nicht der Wind der ihm über die Wange streichelte sondern das Gefühl ihrer seidigen Hand. Ihre Berührungen waren sanft und von solch vollendeter Zärtlichkeit und nur dafür bestimmt ihn zurück ins Leben zu ziehen. Auch seine Haare wurden nicht durch den eisigen Hauch der Nacht zerwühlt. Sie spielte wie einst mit seinen Locken und zerzauste sie spielerisch. Eine Flut der Erinnerung und Wärme überschwemmte ihn auch in dieser Nacht. Sie riss den Damm aus Trostlosigkeit und Trauer hinfort und schuf Platz für die gleißende Hoffnung die er in den Augen sah, die die Umrisse der Hochhäuser erleuchteten. Die taktvollen Bewegungen der Autos verbanden sich mit seinem Herzschlag. Er verband sich mit ihr jede Nacht aus Neue. Dies war der Ort an dem er sie spüren konnte. Spüren musste. Er fühlte wie ihn dieses stärkste Gefühl ergriff und sich seine Arme wie in Trance um ihren Körper schlossen. Er spürte sie. Er küsste sie. Er genoss die Wärme ihrer Umarmung, ihrer Nähe. Er lebte. Er sog jede dahinfließende Sekunde ihrer Einigkeit in sich auf als wäre es der pure Strom des Lebens. Er sank vor ihr auf die Knie und ein Strom aus Tränen fand den Weg über seine Wangen. Es waren Tränen des Glücks. Das Glück Vollkommenheit zu erleben. Sie waren nicht mehr auf dem Dach des Hochhauses. Er wusste nicht wo sie waren. Egal.
Er öffnete seine Augen. Stille. Einsamkeit. Sie war verschwunden. Weg. Sie würde wieder kommen und er würde da sein. Sie hatte ihm das gegeben was er brauchte um einen weiteren Tag zu erleben. Das, wonach er sich jede Nacht erneut verzehrte. Liebe.
Von Manori
Am 30.11.2007 um 14:37 Uhr
Dein Text ist wirklich sehr schön.
Die Umgebung, wie die Gefühle sind grandios beschrieben, so das jedes Detail sich wunderbar vorstellen lässt. Eine sehr lebendige Storys trotz aller tragik.