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Verschlossene Räume - von Jurewa, 24.08.2011
Panik breitet sich in ihm aus.
Paul Hensel ist gefallen und liegt auf dem Fußboden. Die Unterhose hängt halb runtergezogen auf seinen Knien. Mühsam rappelt er sich hoch und versucht erneut, die Tür zu öffnen. Vergebens. Die Tür rührt sich nicht. Der Riegel, den er zugezogen hat, klemmt. Immer wieder versucht er es. Wie spät mag es sein? Als er das letzte Mal auf Toilette war, zeigte der Wecker auf halb drei. Im Haus ist es ruhig. Er hat kein Gefühl für Zeit.

Die anderen Mitbewohner des Altenheims schlafen tief und fest. Erst gegen sieben wird die dienshabende Schwester kommen. Heute ist Sonntag. Daran erinnert er sich. Er merkt, wie ihm der Schweiß ausbricht. Die Knochen tun ihm weh. Alle. Egal, wie er sich bewegt. Er fällt wieder hin, das Bein rutscht weg und er greift in etwas Nasses, riecht an der Hand seinen eigenen Urin. Wieder daneben gepinkelt. Als er sich an der Toilette hochzieht und in den Spiegel schaut, bemerkt er den Piepser an seinem Arm.

Mit seinen 74 Jahren ist er der jüngste Bewohner des Altenheimes. Das betont er immer und auch, dass er Lehrer war und aus Bremen kommt. Nach seiner Pensionierung zog er an die Mecklenburger Ostseeküste. Auf einer Kur hatte er Beate Zschau, eine Frau, fünf Jahre jünger als er und ebenfalls pensionierte Lehrerin, aus Vorpommern kennengelernt, die nach einem kurzem Zusammenleben mit ihm zu ihrer Tochter in den Süden zog. Gründe nannte sie nicht. Kurz danach erkrankte er das erste Mal an Krebs, erholte sich jedoch wieder. Die Krankheit kehrte zurück. Er wurde von der Palliativstation des Bezirkskrankenhauses hierher vermittelt. Die Nachfrage für diese Einrichtung ist groß. Für Paul Hensel wird es das letzte Zuhause sein.
Familie hat er keine, zumindest kommen keine Angehörigen zu Besuch. Er bewohnt das große Eckzimmer des Heimes und kann jederzeit das Heim verlassen. Das Telefon ist seine wichtigste Verbindung zur Außenwelt, da ihm das Laufen schwerfällt. Er telefoniert ständig. Während der gemeinsamen Mahlzeiten reißt er jedes Gespräch an sich und hat schon oft verkündet, dass er über 100 000 Euro besitzt. Auch am Telefon spricht er so laut darüber, dass es keiner überhören kann. In letzter Zeit tauchen des öfteren Leute auf, die sich als seine Freunde ausgeben. Dann verschwindet er mit ihnen auf seinem Zimmer und man hört nur gedämpfte Gesprächsfetzen. Immer noch ist Paul Hensel eine imposante Erscheinung, der das weiße, dünne Haar zu einem Schwänzchen gebunden trägt. Er hat Humor und keiner der anderen Patienten strengt sich mehr an, alle zum Lachen zu bringen, wenn auch oft auf Kosten der anderen Patienten. Die Schwestern gehen teilweise darauf ein, weil sie ihm die letzte Zeit so angenehm wie möglich gestalten wollen.

Kurz vor vier Uhr.
Der Schlaf will und will nicht kommen. Diese verfluchte Schlaflosigkeit. Maria Steiner, eine kleine korpulente Frau, Ende vierzig, überlegt, am Küchenfenster stehend, ob sie doch noch eine Schlaftablette nehmen soll. Heute ist Sonntag und sie könnte länger schlafen. Mitten in ihre Überlegungen hinein hört sie die Sirene und sieht die Feuerwehr um die Ecke heranpreschen. Vor Kramers Haus, ihren Nachbarn, bleibt sie stehen.
"Feuerwehr? Das Hochwasser ist doch längst weg?", überlegt sie laut, während sie sich schnell die Jacke überwirft und auf die Straße rennt. Der starke Regen der letzten Woche hatte alles überflutet. Für die kommenden Tage waren weitere Regenfälle angesagt, die jedoch ausgeblieben sind.
"Sie können gleich wieder abfahren", ruft sie dem Feuermann zu, der suchend vor dem Haus der Kramers steht.
"Das Hochwasser ist längst weg. Die Keller wurden schon vorgestern ausgepumpt!"
Der Feuerwehrmann sieht sie verständnislos an.
"Hochwasser? Was denn für Hochwasser? Wir haben einen Notruf erhalten, dass sich jemand im Bad eingesperrt hat und nicht ohne fremde Hilfe freikommt."
"Achso, ja, das ist dann hinten auf dem Hof. Dort befindet sich die Altenpflege der Frau Kramer, wird wohl wieder einer 'der Alten' durchgeknallt sein!"
Den letzten Teil des Satzes murmelt sie leise vor sich hin und geht zurück ins Haus. Erst letzte Woche stand ein älterer Herr aus der Altenpflege der Kramers mitten auf der Kreuzung und regelte den Verkehr bis ihn Frau Kramer in's Haus zurückholte!
Ihr Mann steht im Schlafanzug an der Haustür und empfängt sie, unwirsch, mit den Worten:
"Was mischst du dich immer in alles ein! Die Feuerwehr steht nicht vor unserem, sondern von dem Haus der Kramers. Das geht dich alles nichts an! Wann kapierst du das endlich?"

Giesela Kramer wacht vom unsanften Rütteln ihres Mannes am Arm auf. Das durchdringende Heulen der Sirene dringt in den Traum, fügt sich fast nahtlos ein.
"Hey, hör auf! Du tust mir weh!", murrt sie, noch halb im Schlaf und noch immer in den Fängen ihres Traumes.
"Hörst du das denn nicht? Das ist die Feuerwehr, direkt vor unserem Haus!", ruft er aufgeregt. Ruckartig kommt sie hoch und stellt sich zu ihm an's Fenster.

"Was macht denn die Steiner vor dem Haus? Die mischt sich doch ewig in alles ein! Guck mal, jetzt spricht sie mit dem Feuerwehrmann und zeigt auf das hintere Haus von uns? Meint die etwa unsere Altenpflege? Hier in diesem Kaff beibt doch nichts verborgen, quatscht jeder über jeden und weiß alles besser! Das Gejaule der Sirene ist ja furchtbar! Ich geh jetzt raus und frage, was los ist!", kommentiert sie das Geschehen vor dem Haus, während sie sich schnell etwas zum Anziehen überwirft. Ihr Mann äußert sich nicht.

"Können Sie nicht endlich die Sirene und das Blaulicht abstellen, oder sehen Sie hier irgendwo einen Brand?", schreit sie dem Feuerwehrmann wütend entgegen, der vor dem Auto steht und eben noch mit Frau Steiner gesprochen hat.
Nach und nach kommen vierzehn Feuerwehrleute aus dem Auto. Vierzehn Leute! Mehr standen nicht zur Verfügung, weil gleichzeitig ein Brand drei Dörfer weiter gelöscht werden musste, erfährt sie später auf ihre Nachfrage hin.
"Wir haben einen Anruf bekommen, dass jemand im Badezimmer eingeschlossen ist und sich nicht selber befreien kann!", erklärt der Chef der Feuerwehrleute.

"Und da fahren Sie morgens früh um vier mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen? Das ist doch nicht ihr Ernst! Ihre Zentrale kennt doch unser Haus und weiß um die Befindlichkeiten ihrer Bewohner. Warum rufen Sie nicht einfach zurück?" Gleichzeitig schwant ihr Böses. Es kommt nur einer in Frage, der sich eingeschlossen haben könnte. Nein, noch will sie es nicht wahrhaben. Sie fühlt plötzlich eine Müdigkeit, die nicht nur auf den unterbrochenen Schlaf zurückzuführen ist.
Betreten schaut der Mann auf Frau Kramer hinunter, die auch ungeschminkt und ungekämmt attraktiv ist, diffus zwischen hübsch und eindeutig nicht mehr jung. Er ertappt sich, wie er auf ihren Busen starrt, der aus der zusammengehaltenen Jacke quillt.

"Also, das eine........", versucht er sie zu beschwichtigen und sich zu erklären, "....das eine..."
"Ach, halten Sie die Klappe!", sagt sie zu ihm und schiebt ihn beiseite, um in das hintere Gebäude zu laufen. Der Mann blickt der kleinen Frau verblüfft hinterher.

Dreimal hatte Paul Hensel den Knopf gedrückt, dann meldete sich eine Stimme und fragte, was los sei und wer anruft.
"Also, ich bin, das heißt, ich musste pinkeln und bin ins Bad, weil ich doch pinkeln wollte. Die Tür mache ich nie zu, nur den Riegel. Den schiebe ich hin und her, weil die alte Machottke aus dem Zimmer gegenüber schon mal reingekommen ist, während ich pinkelte und da...", ruft er aufgeregt ins Telefon.
"Das interessiert hier niemanden. Kommen Sie zur Sache und erzählen Sie, weshalb sie uns angeklingelt haben!", unterbricht ihn der Mann in der Feuerwehrzentrale.
"Ja, mach ich doch die ganze Zeit", empört er sich "...und jetzt ist die Tür zu. Die geht einfach nicht mehr auf! Dreimal bin ich schon umgefallen und nass ist es auch! Die machen nie sauber! Ich krieg die Tür nicht auf. Wollen Sie wissen, wie lange ich hier drin bin? Schon ewig! Es kümmert sich keiner um mich. Sie müssen kommen und mich befreien. Ich war mal Lehrer, wissen Sie, und..."
"Gut jetzt, ich sehe hier ihre Adresse auf dem Display. Wir sind gleich da!"
Ihm wird warm, fast heiß, er fühlt sich unwohl. Die Gedanken in seinem Kopf überschlagen sich. Was hatte die Kramer gesagt, als die Piepser verteilt wurden? Ich muss endlich hinhören, wenn etwas gesagt wird und mich nicht ständig über die anderen lustig machen. Warum ist Beate zu ihrer Tochter gezogen? Sie hatte es doch gut bei mir, keine finanziellen Sorgen, auch keine anderen. Sie wusste doch, dass es nicht ernst gemeint war, wenn ich mich über sie lustig gemacht habe, oder? Die Kramer sieht ihr ähnlich, obwohl sie viel jünger ist. Sie lacht als Einzige nicht über meine Witze, die doofe Kuh. Ich bezahle schließlich hier, da kann sie auch mal lachen! Warum lacht sie nicht? Sollte ich diesmal zu weit gegangen sein? Er geht erneut zur Tür und versucht, sie zu öffnen.


Frau Kramer schließt die Tür des hinteren Hauses auf und sieht Paul Hensel vor dem Badezimmer auf einem Hocker sitzen. Seine Hose hängt ihm in den Kniekehlen. Das Haar liegt strähnig auf dem Kragen des Schlafanzuges. Er lächelt sie an.
"Ich hab's ganz alleine geschafft!", ruft er ihr zu, "...hab die Tür aufgeriegelt!"
Frau Kramer ist perplex. Das gibt es doch nicht! Da hat sich der Herr Lehrer, der immer Extrawünsche hat, alles besser weiß, ständig Witze auf Kosten der anderen Bewohner macht, selber eingesperrt und den Piepser gedrückt?

Jeden Tag wird den Bewohnern des Heimes gesagt, dass neben dem Waschbecken ein Notrufknopf ist, falls etwas Unvorhersehbares passiert. Jeden Tag nach dem Frühstück. Hört der auch mal hin, wenn er sie anstarrt?
"Warum haben Sie denn nicht den Knopf neben dem Waschbecken sondern auf den Piepser gedrückt?", fragt sie Paul Hensel.
"Welchen Knopf denn? Hier sagt einem doch keiner etwas!", murrt er, schaut sie von unten an und verschwindet schnell auf seinem Zimmer. Fassungslos bleibt sie vor der verschlossenen Tür stehen und fragt sich, warum sie immer ein ungutes Gefühl hat, wenn sie auf Paul Hensel trifft. Sein Kopf macht nicht mehr richtig mit und der körperliche Verfall wird sichtbar. Seine Vergeßlichkeit hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen den Charme genommen und sie stärker hervortreten lassen. Oftmals bemerkte sie, dass sein Blick lange auf ihr verweilt. Sprach sie ihn dann an, reagierte er meist gereizt. Die ganze Zeit schon wollte sie mit ihm ein längeres Gespräch führen, fragen, wie es ihm hier gefällt, ob er Probleme habe.
Sie läuft zurück auf die Straße, nachdem sie das Haus auf Unregelmäßigkeiten kontrolliert hat. Die anderen Bewohner schlafen. Keiner von ihnen war vom Sirenengeheul wachgeworden.

Die Feuerwehrleute fahren zurück, nicht ohne zu bemerken, dass eine Rechnung kommen wird. Frau Kramer schluckt.
Ein unklares Bauchgefühl lässt sie nochmals nach hinten laufen. Sie klopft an Paul Hensels Tür und öffnet diese, ohne auf eine Antwort zu warten. Er sitzt auf seinem Bett und raucht seelenruhig eine Zigarette. Dafür hat er den Stapel Bücher auf den Fußboden und eine Papierserviette auf den Nachttisch gelegt. Spuren von Asche liegen auf dem Papier.
Ihr bleibt fast das Herz stehen! Auch er erschrickt, als er sie reinkommen sieht. Sie hat ihn noch nie rauchen sehen. Nur- wann hat sie ihn das letzte Mal auf seinem Zimmer besucht? Aufgeregt drückt er die Zigarette auf dem Papier aus.

Seit über vierzig Jahren übt sie diesen Beruf aus. Zu Anfang als Gemeindeschwester und später machte sie sich mit einer Altenpflege selbständig.Im Laufe der Jahre wurde sie von verschiedenen Krankheitsverläufen überrascht.
Sie meint, schon alles irgndwann erlebt zu haben, den fließenden Übergang zu einer Demenz genauso wie die schweren Krebserkrankungen. Das, was sie jetzt bei Paul Hensel sieht, lässt sie jedoch an ihrem Beruf zweifeln. Und doch, sie fühlt sich in diesem Moment schuldig. Mit Zeitmangel und Unverständnis für seine Situation lässt sich das nicht entschuldigen. Es ist eine Frage der Sympathie, etwas, was keine Rolle spielen darf. Sie hatte sich jeden Annäherungen von Paul Hensels Seite verschlossen.
Blass starrt nun sie auf ihn hinunter, der hin und her rutscht, plötzlich verlegen kichert und sagt:
"Wollen Sie auch eine haben? Wir müssen bloß aufpassen, dass Schwester Heike nicht kommt!"
Er hält ihr die Schachtel hin.



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