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Prosa => Seltsames


Gewinnt eigentlich immer das Schlechte? - von Anngel95, 18.10.2010
Es war ein seltsamer Tag, der 25. November. Magie lag in der Luft. So fühlte es sich zumindest an. Es regnete nicht, immerhin, aber die dichte Wolkendecke ließ keinen einzigen Sonnenstrahl durch. Nebel hing über den Bergen, beinahe kam er auch auf die Stadt herunter.
Es war einer dieser Tage, an denen keiner richtig aufstehen wollte – und es doch musste.
Ich hatte mir frei genommen für diesen Donnerstag. Ich glaube, es war Thanksgiving in Amerika, aber wen interessierte das schon.
Der Tag war zu zauberhaft um sich darüber Gedanken zu machen.
Die Luft roch nach Winter, als ich aus der Tür trat. Dieser bestimmte Geruch nach Schnee, obwohl es sicher nicht schneien würde. Der Geruch nach etwas, was man unbedingt wollte, aber nicht kriegen konnte. Traurig, aber heimelig.
Heimelig, ein komisches Wort. Wer hatte das bloß erfunden? Warum wurde es so selten benutzt? Und was bedeutete es überhaupt? Müsste das Adjektiv von „Heim“ nicht eigentlich „heimlich“ sein? Aber warum bedeutete „heimlich“ etwas ganz anderes? Wurden die ganzen Geheimnisse etwa im eigenen Heim gehalten?
Es war kalt genug für Schal und Handschuhe, jedoch noch nicht für meinen Wintermantel. Ich vermied es ihn zu tragen, denn die ganze Welt sah so viel lustiger aus, wenn man einen quietschgelben Rollkragenpulli trug.
Als ich die Haustüre abschloss, merkte ich, dass ich meinen Autoschlüssel auf dem Küchentisch hatte liegen lassen.
Auch egal, dachte ich mir. Wen kümmerte das schon? Dann würde ich eben laufen.
Ich rückte meine Mütze zurecht und machte mich auf den Weg.
Ein Auto fuhr grade von der Auffahrt gegenüber als ich vorbei lief. Einer dieser schwarzen Pkws die verzweifelt versuchten den Besitzer besser als andere aussehen zu lassen. Dabei wusste ich, dass Wolfgang und Jutta längst auf Kredit lebten und er sie nur deshalb jeden Morgen zur Arbeit fuhr, da sie sich ein Monatsticket nicht leisten konnten. Die beiden winkten mir freundlich zu. Ob sie sich daran erinnerten, was für ein Datum heute war? Meine andere Nachbarin, Adele, tat es jedenfalls. Den Winter verbrachte sie zwar auf Teneriffa, aber immerhin hatte sie Blumen geschickt. Rosen, rote Rosen. Und eine weiße Rose in der Mitte. Wie schon seit Jahren. Das einzig tröstliche an diesem Tag.
Ich hatte schon lange aufgehört an diesem Tag zu weinen. Das machte es auch nicht besser. Wenn ich weinte, dann an anderen Tagen. Dieser Tag sollte zur Freude da sein. Nicht zur Trauer.
Eine Katze kreuzte meinen Weg. Ich lächelte ihr in Gedanken versunken zu und lief weiter. Doch die Katze lief mir hinterher und miaute kläglich. Was wollte sie bloß von mir? Leise begann ich mit der Katze zu reden. Ich ging in die Knie und streckte die Hand nach ihr aus. Es schien Jahre her zu sein, seit ich zuletzt jemanden gestreichelt hatte. Das Tier ließ es jedenfalls problemlos geschehen. Die grünen Augen blickten mich dabei fragend an. Seufzend stand ich wieder auf. Die Katze strich noch ein paar Mal um meine Beine, aber ich musste weiter gehen, sonst würde ich nie ankommen.
Ich lief eine Ewigkeit. Zwischendurch kam die Sonne heraus und tunkte die Welt für ein paar hoffnungsvolle Minuten in goldenes Licht. Doch dann verlor das Licht, und das Grau des nahenden Winters gewann die Überhand.
Gewann eigentlich immer das Schlechte? Märchen haben ein Happy-End, aber endet das Märchen denn nicht einfach nur zu früh um den Tod eintreten zu lassen? Und waren Märchen denn nicht sowieso erfunden?
Wieso musste immer das Böse gewinnen? Krampfhaft versucht die Sonne zu scheinen und die Welt zu erwärmen – aber die Wolken hindern sie daran.
Beharrlich versucht der Apfelbaum seine Früchte zu halten – aber am Ende verfaulen sie, oder werden, noch schlimmer, von Menschenhand entfernt.
Verzweifelt versuchen die Ärzte ein kleines Mädchen am Leben zu halten, doch am Ende gewinnt der Tod. Und das nur, weil sie möglicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort war.
War das Schicksal, oder einfach nur Ungerechtigkeit? War Schicksal überhaupt gut oder böse?
Ein kleines Mädchen überholte mich auf ihrem Dreirad. Dabei musterte sie mich ganz genau. Fast kam ich mir unbehaglich vor unter ihrem forschenden Blick. Leicht lächelte ich ihr zu. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite. Aber nach ein paar Metern schaute sie sich dann doch nochmal um. Als sie sah, dass ich immer noch lächelte, lächelte sie mir ebenfalls verschmitzt zu.
Während ich sie ansah schossen mir Bilder meiner eigenen kleinen Tochter durch den Kopf. Sie sah ihr so ähnlich. Wie alt mochte sie sein? Drei antwortete die kleine Stimme in meinem Kopf. Genau wie deine Tochter.
Nein, das konnte nicht sein. Das war nicht möglich.
Oder etwa doch?
Das Mädchen war mittlerweile am Ende der Straße angekommen. Dort wendete sie konzentriert und fuhr zurück. Als sie wieder bei mir angekommen war lächelte sie mich wieder an. Dann fragte sie nach meinem Namen. Simone, antwortete ich. Die Kleine drehte fragend den Kopf zur Seite.
Mona, sagte ich schnell. Dann fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie hieß Leni.
Nach dieser netten Konversation setzte ich meinen Weg fort.

Mit einem Mal hörte ich einen Vogel singen. Verwundert sah ich mich nach dem Tier um. Dort saß es, eine kleine Rotdrossel, inmitten eines kahlen Baumes und sang aus Leibeskräften.
Hatten ihn seine Freunde auf den Weg in den Süden hier vergessen? Oder flogen Drosseln gar nicht in den Süden? Mit Vögeln hatte ich mich noch nie ausgekannt. Meine Tochter allerdings hätte das bestimmt gewusst. Vögel waren ihre Lieblingstiere gewesen. Zaubervögel, hatte sie Drosseln immer genannt. Ich weiß bis heute nicht warum.
Jetzt hatte die kleine Rotdrossel den Ast verlassen und flog in die Tiefe. Fasziniert sah ich ihm dabei zu. Er flog einige Male um mich herum, so kam es mir jedenfalls vor, bevor er aus meinem Blickfeld verschwand. Wie in Trance blieb ich noch einige Minuten bewegungslos stehen. War es falsch zu sagen, dass er mich verzaubert hatte? Gab es Zaubervögel?
Wenn du einen Zaubervogel triffst, musst du ihn einfach bei seinem Namen rufen und dann erfüllt er dir jeden Wunsch.
Das waren die Worte meiner Tochter gewesen. Das wusste ich noch ganz genau.
Und wenn ich seinen Namen nicht weiß? Hatte ich gefragt.
Ach Mami, natürlich weißt du seinen Namen …Uns sonst…sonst fragst du ihn einfach danach.
Damit war das Problem aus der Welt gewesen.
Hey, Zaubervogel? rief ich in die Stille hinaus. Von weit her hörte ich ein Zwitschern das sich immer weiter entfernte. Wie heißt du? Sag mir deinen Namen!
Aufmerksam lauschte ich in die Stille. Aber selbst das leiseste Geräusch hatte aufgehört.
Hey, Zaubervogel! wo bist du hin. Du musst mir einen Wunsch erfüllen! Zaubervogel, wie heißt du?
Auf der Straßenseite gegenüber stand ein alter Mann mit einem Krückstock, der mich seltsam ansah. Schnell lief ich weiter. War ja klar, dass es nicht funktionierte. Tränen stiegen mir in die Augen als ich bemerkte, dass es eben doch keine Magie gab. Dann begann ich über meine eigene Dummheit zu lachen. Würde es Magie geben, wären alle Menschen glücklich.
Aber das war ja offensichtlich nicht der Sinn der Welt.
Ich überquerte die kleine Brücke, die mein Stadtviertel mit dem Nächsten verband. Ich kannte nicht mal den Namen des Flusses. Schon bald darauf war ich da. Ich atmete nochmals gut durch, bevor ich das quietschende Tor zu dem Friedhof öffnete. Dann stand ich an dem Grab meiner Tochter. Wie jedes Mal versuchte eine Welle der Wut und Trauer die ich tapfer versteckte, mich zu überrollen, aber diesmal schaffte ich es ihr standzuhalten. Ich brach nicht in Tränen aus oder weinte nach meiner Tochter. Diesmal stand ich nur leise da und überlegte, wie ich die Welt besser machen könnte. Gab es überhaupt einen Weg der solche Ungerechtigkeit verhinderte?
Bilder des Mädchens auf dem Dreirad schossen mir durch den Kopf. Würde ihre Mutter einmal die gleichen Schmerzen erleiden müssen wie ich?
Ich stand eine lange Zeit am Grab meines Kindes. In Gedanken sprach ich mit ihr. Aber wirklich die Stimme zu erheben würde die Atmosphäre und den Moment zerstören.
Als es langsam zu dämmern begann, bemerkte ich wie kalt es war. Mein Magen knurrte, denn ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Müde verabschiedete ich mich von meinem Kind. Dann machte ich mich auf den Rückweg.
Erneut war niemand auf den Straßen. Durch die hell erleuchteten Fenster konnte ich Leute sehen. Familien. Ob sie wohl glücklich waren? Gab es so etwas wie vollkommenes Glück überhaupt?
Ich sah den alten Mann an einem Tisch sitzen und Tee trinken. Seine Familie hatte schon die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt. Warum feierten wir Weihnachten? Warum feierten wir etwas, jemanden, der vor zweitausend Jahren möglicherweise gelebt hatte?
Wir feiern die Hoffnung, hatte einmal ein weiser Mann zu mit gesagt. Die Hoffnung darauf, dass Gott die Menschen beschützt und auf sie aufpasst. Die Hoffnung auf eine bessere Welt. Die Hoffnung auf die Hoffnung, darauf, noch nicht verloren zu sein. Und nicht zuletzt, die Hoffnung auf das Leben nach dem Tod.
Aber was brachte uns die Hoffnung, wenn sie doch nicht eintrat? Nur mit Hoffnung konnte doch keiner leben. Taten mussten her, keine blassen Gedanken.
Die Hoffnung machte einen krank. Und am Ende wurde man nur noch mehr enttäuscht. Das hatte ich gelernt. Die Hoffnung kommt, verspricht dir ein besseres Leben, saugte all deine Gefühle auf, lässt dich für einen kleinen Moment aufleben, bevor sie dich betäubt und leblos liegen lässt.
Doch dieser kleine Moment war es nicht wert, wenn danach die ganze Welt zusammenbrach.
Was war das Leben überhaupt wert. Am Ende würden wir doch alle sterben.
Die einen früher, die anderen später. Die einen von Menschenhand, die anderen wegen einer Krankheit. Manche wurden zu früh, viel zu früh, aus dem Leben gerissen, weitere lebten ein langes, erfülltes Leben. Aber am Ende würden wir alle sterben. Das hatte ich meiner Tochter versprochen.
Mami kommt bald zu dir!
Am Ende der Straße sah ich wieder das kleine Mädchen auf seinem Dreirad. Ob es zwischendurch was gegessen hatte? Ein Mann in einem dunklen Anzug redete mit ihr. Ein bisschen ängstlich wich sie zurück.
Sämtliche Alarmsirenen in meinem Kopf begannen zu schrillen. Panik brach in mir aus.
Ich begann zu rennen. Ich hatte wirklich Angst um die Kleine. Warum half denn keiner?
Als ich das Mädchen erreichte, war der Mann schon verschwunden. Sie lächelte lieb, als sie mich sah.
Keuchend fragte ich sie, was er von ihr gewollt hatte und ob sie ich kannte.
Nein, sie kannte ihn nicht, und er wollte nur wissen wo denn „die Kathrin“ wohne.
Ich ging in die Knie, denn was ich jetzt sagte, war sehr wichtig.
„Hör zu, Leni. Du musst mir versprechen, NIE mit fremden Leuten zu reden. NIE! Versprich mir das. Wann immer jemand mit dir reden möchte, wann immer dir jemand nur zu lächelt – lauf ganz schnell nach Hause. Bitte.“
Mit großen Augen sah sie mich an. Sie bemerkte anscheinend nicht wie ernst es mir war. „Du bist auch fremd. Und ich rede trotzdem mit dir.“
„Ja, aber das darfst du nicht. Vielleicht bin ich böse. Ich möchte dir keine Angst machen, aber bitte, bitte – Rede nicht mit Leuten, die du nicht kennst. Nie wieder.“
Die Kleine versprach es mir und an ihren Augen konnte ich sehen, dass sie mich verstanden hatte.
Ich glaube, sie würde sich auch daran halten. Ich hoffte es zumindest.
Denn das ist alles, was man tun kann – hoffen.
Das Schlechte würde nicht gewinnen, wir hatten die Hoffnung!
Ich beeilte mich nach Hause zu kommen und ich freute darauf. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit.
Ich war mit mir selber im Reinen, wie schon lange nicht mehr.
Hatte ich die Welt ein bisschen besser gemacht? Ich wusste es nicht. Darauf gab es keine Antwort.





©2010 by Anngel95. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

Kommentare


Von Kartenleser
Am 11.03.2014 um 15:50 Uhr

Nicht schlecht. Ich hab immer weiterlesen müssen. Wie unglaublich tiefsinnig! ^^

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Es gibt 1 Kommentar


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