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Rio Esperanza 1983 - von Pedro, 20.07.2010
Rio Esperanza 1983

Pepe Lentejo stieg die Treppe hoch. Gestern war er achtzehn Jahre alt geworden. Er dachte an die letzte Nacht und pfiff leise vor sich hin. Dass er heute seinen Arbeitsplatz verlieren würde, wusste er noch nicht.
Die Aktentasche mit der Post schlenkerte er umher, er musste aufpassen, dass sie nicht den Boden streifte. Seine Arme waren ziemlich lang, seine Beine kurz.
Freundlich grüßte er die Putzfrau, die ihre Arbeit hier fast beendet hatte, ging dann den Gang entlang in Richtung des Büros seines Chefs.
Ihm war er vor drei Monaten als Hilfskraft zugeteilt worden. Er verachtete diese Arbeit, irgendwelche Akten oder Papiere zu irgendwelchen Leuten zu bringen. Er verachtete diesen Anzugsträger, der ihn wie Dreck behandelte, der ihn auch für private Arbeiten, ohne dafür etwas zu bezahlen, einspannte, war aber froh, dass er überhaupt eine Arbeit hatte. Er war einer der wenigen seines Viertels, der ein paar Pesos verdiente.
Und bis gestern hatte er sich auch selbst verachtet.

Er ging bis zum Ende des Flures, öffnete die Bürotür, an der ein Schild „Jorge Gonzales“ stand.
Zu seiner Überraschung sah er den Typen da an seinem Schreibtisch sitzen, natürlich im Anzug und mit Krawatte, ein Buch hielt er in der Hand.

„Pepe, wie oft muss ich dir noch sagen, dass man anklopft, bevor man irgendwo eintritt. Nicht mal das kannst du dir merken!“
„Entschuldigung, Chef, ich dachte Sie wären noch nicht da“, sagte Pepe.

„Ja, da staunst du, hier wird gearbeitet, ich bin heute Morgen direkt vom Flugplatz ins Büro gekommen.“
Gonzales schaute ihn nicht direkt an. Dieser Schleimscheißer schaute überhaupt nie jemanden direkt an, dachte er.

„Sag mal Pepe, hast du schon jemals ein Buch gelesen“, fragte er, hielt dabei das Buch hoch, mit dem er sich gerade beschäftigt hatte.

„Ja, schon.“
„Was für ein Buch war das denn?“
„Die Abenteuer von Onkel Roberto.“

Gonzales lächelte verächtlich und wedelte mit dem Buch in der Gegend umher.
„Ich meinte ein richtiges Buch, nicht so einen Quatsch“, sagte er.

Pepe Lentejo legte die Post auf den Schreibtisch. Möglichst schnell hier wegkommen, dachte er.
„Ich habe heute einen Arzttermin, muss wieder weg“, sagte er.
Gonzales hörte ihm überhaupt nicht zu, er hörte Untergebenen, wie er seine Mitarbeiter nannte, nie zu.
„Sag mal Pepe, wie lange arbeitest du denn schon hier, wenn man das überhaupt Arbeit nennen kann, was du hier treibst.“
„Drei Monate.“

Dieser Arsch behandelte ihn so, wie er schon oft in seinem Leben behandelt worden war. Er dachte an seine Arbeit im Supermarkt, wo er Einkäufe der Reichen in Tüten oder Kartons eingepackt und sie zum Auto getragen hatte. Ein paar lumpige Pesos hatte er dafür bekommen, mal mehr, mal weniger, je nach Laune der Einkäuferin. Fast hingeschmissen hatten manche ihm die Münzen, manchmal musste er sie vom Boden aufheben.
Er erinnerte sich an seine Arbeit als Gärtner, Rasen hatte er gemäht, Wege sauber gemacht. Ins Haus hatte man ihn fast nie hinein gelassen.

„Na ja, das ist ja eine ziemlich kurze Zeit, dass du hier im Rathaus bist, viel lernen konntest du da nicht“, sagte Gonzales.
Er schaute ihn wieder nicht an, sondern blätterte in dem Buch umher.

„Du weißt wahrscheinlich nicht, dass ich deutsche Vorfahren habe. Als ich bei meiner kürzlich verstorbenen Großmutter gestern den Speicher aufgeräumt habe, fand ich dieses schlaue Buch. Der Autor heißt Rosenberg, hat es schon vor längerer Zeit geschrieben.“

Pepe interessierte das alles überhaupt nicht, er musste so schnell wie möglich hier weg.
„Ich gehe dann mal zum Arzt, Señor“, sagte er.

Gonzales war aufgestanden, kam mit dem Buch in der Hand näher, fasste mit der anderen den Kopf von Pepe an und drehte ihn hin und her. Dann führte er ihn zum Waschbecken, wo ein großer Spiegel angebracht war.
„Schau uns beide jetzt mal an, sagte er. Fällt dir etwas auf?“
„Ja schon, Sie haben ein weißes Hemd mit Krawatte an, ich ein T-Shirt.“
„Nicht auf die Kleidung sollst du achten. Das ist ja wohl klar, dass ich als dein Chef, als Bürovorsteher, der schon viel im Leben erreicht hat, und noch mehr erreichen will, anders angezogen bin als du. Schau mal unsere Köpfe an.“

„Sie haben keine Haare auf dem Kopf, ich schon.“
„Pepe, ich weiß ja, dass dir das Denken schwer fällt. Lass jetzt mal diese einfachen Unterschiede, schau mal auf die Form unserer Köpfe. Ist die gleich?“

Ich muss jetzt endlich hier weg, dachte Pepe. Die Zeit läuft mir davon. Bei einem Arzttermin wäre ihm das egal gewesen, aber er hatte ja etwas anderes vor.
„Señor Gonzales, ich glaube, ich muss jetzt gehen. Ich muss pünktlich beim Arzt sein, sonst behandelt der mich nicht. Vielleicht können Sie mir Morgen das alles erklären, ich habe einen wichtigen Termin.“
„Was heißt hier „wichtiger Termin“! Hier kannst du jetzt etwas lernen, was auch für dich wichtig ist. Schau noch einmal auf die Form unserer Köpfe. Meine Stirn ist wesentlich höher als deine, also bin ich viel intelligenter als du.
Dein Kopf ist rund wie ein Kürbis, meiner ist schmaler. Du gehörst zu den Menschen, die sich noch auf einer niederen Entwicklungsstufe befinden. Außerdem sind deine Arme viel zu lang und deine Beine zu kurz. Das sind alles Rassenmerkmale, von denen heute allerdings kaum einer spricht.“

„Sie glauben als wirklich, dass jemand, der einen Kopf hat wie ich, nicht intelligent sein kann?“
„Kein berühmter Mann hatte deine Kopfform, alle hatten Köpfe wie ich. An der Kopfform kann man den Charakter und die Fähigkeiten eines Menschen sofort erkennen. Das ist eine Wissenschaft, die schon viele tausend Jahre alt ist.“

Pepe wurde langsam immer wütender. Dieser Anzugträger glaubte doch tatsächlich nur an seine eigene Intelligenz, verachtete ihn, versuchte ihm seine Überlegenheit zu beweisen.
Er musste sich diesen Blödsinn anhören und würde seinen Termin noch verpassen.

Er schaute Gonzales an und lächelte verkrampft.

„Das mag ja alles richtig sein, was sie da sagen. Ich habe Schwierigkeiten, Zahlen zusammen zu zählen. Ich kann mich kaum verständlich ausdrücken, wie sie immer sagen. Ich weiß, dass ich nie Bürovorsteher werden kann, nie ein Auto oder Haus wie sie haben werde. Ich bin vielleicht auf einer niederen Entwicklungsstufe, wie sie behaupten, aber sexuell stimmt bei mir alles. Fragen Sie mal ihre Frau, die kann ihnen bestätigen, dass ich die Wahrheit sage.“

Pepe Lentejo nickte Gonzales zu. Dessen Mund war weit aufgerissen, die Augen traten ihm fast aus seinem schmalen Kopf.
Gonzales kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. Pepe verließ schnell das Büro.
Wahrscheinlich würde er wieder arbeitslos werden, aber das war ihm im Augenblick egal.






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