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Wer war mein Vater? - von Candide, 04.11.2009
I


Ich bin Benjamin Overath, oder einfach Benjamin. Und der leicht untersetzte Mann, der da drüben bei den Pferden steht, das ist Georg, mein Onkel Georg. Er ist Landwirt. Nach dem Tod meines Vaters vor vier Jahren hat er mich adoptiert. Er war mir schon immer ein lieber Mensch. Er ist ruhig, ausgeglichen und läßt mich so, wie ich bin. Eigentlich verhält er sich weniger wie ein Vater als vielmehr wie ein Freund zu mir. Das zeigt sich schon daran, daß er mir in meinen Entscheidungen vollkommen freie Hand läßt, mich nirgends bevormundet. Da, wo mein anderer Onkel, Hans, mit der Faust auf den Tisch haut und mit seinem finster, beinahe verdrießlichen Blick meint, aus mir werde nie etwas und Georg solle mich nicht so rumrennen lassen, lächelt letzterer nur milde und schüttelt den Kopf.

„Ich bin immer da, wenn er mich braucht. Denkst du, ich würde ihn einmal, nur ein einziges Mal aus den Augen lassen? Nein, aber ich lasse ihm seine Freiheit, Hans. Gerade du solltest doch wissen, daß jeder Mensch anders mit Schmerz und Trauer umgeht. Jeder braucht seine Zeit. Laß ihm die seine.“

Georg besitzt eine leise, ja sachte Stimme, doch er ist nicht schwach. Ich mag ihn und wenn ich manchmal nicht schlafen kann, dann weiß ich, daß neben ihm im Bett immer Platz ist. Er nimmt mich in den Arm, ich kuschle mich an ihn und dann wird es meist besser.

Hans ist da ganz anders. Er wird schnell laut und seine Stimme knallt immer wie ein Peitschenhieb durch die Luft. Wenn ich Georg frage, was Hans habe, zuckt er mit den Schultern, kratzt sich verkniffen lächelnd die Brust.

„Die Zeit verändert den Menschen. Kummer verwandelt sich in Verbitterung. Aber...“

Und er wird ernst. „Aber nach dem Tod deines Vater ist es schlimmer geworden ...“

Ich nicke und mir kam es so vor, als wolle er etwas verschweigen oder es in einer alten Truhe auf dem Speicher verbergen. Er preßt die Lippen fest aufeinander, wirkt plötzlich in sich gekehrt. Seine Augen nehmen einen feuchten Glanz an. Auch er hat an dem Tod seines Bruder und meines Vaters zu knabbern. Er lächelt nicht mehr so oft, dafür liege ich häufiger in seinem Bett und erwache des Morgens in seinen Armen. Aber mir fehlt etwas. Darüber sprechen? Nur mühsam. Vielleicht sollte ich's in einer Frage formulieren.


II


Mein Vater -, was war er für ein Mensch? Immer wieder drängt sich mir diese Frage auf. Ich stehe vor dem großen Spiegel in unserer Diele, blicke mir tief in die Augen, so als könnte ich durch die bloße Betrachtung meiner selbst eine Antwort finden. Georg sagt, ich sähe ihm ähnlich. Hans streitet das ab und tippt sich mit dem Finger an die Stirn.

„Nein, nicht ihm. Georg, ich glaube du brauchst eine Brille.“

Aus seinen Augen sprühen Funken. Ich versuche es zu ignorieren, denn ich besitze ein Photo von meinem Vater, das ich in einer alten, auf den Speicher stehenden Truhe gefunden habe und manchmal sitze ich auf meinem Bett, ziehe die Knie dicht unters Kinn und betrachte es. Es zeigt einen jungen Mann, der auf einer Wiese steht -, auf einer schier ins Endlose reichenden Wiese, die am Horizont von einem hohen, am Himmel kratzenden Gebirge empfangen wird.

Mein Vater trägt ein weißes Hemd mit dunkler Krawatte und die Baskenmütze, die später sein Markenzeichen werden sollte. Er winkt in die Kamera, wirkt glücklich, denn seine Augen leuchten hinter einer kleinen runden Brille und das, obwohl er doch – soweit ich es weiß – niemals kurzsichtig war. Seltsam. Das Photo wurde am Ende seiner Studienzeit aufgenommen. Vater sagte dereinst, er habe in den letzten Sommerferien vor dem Vikariat an einem Ernteeinsatz in Kirgisien teilgenommen.

Georg frotzelte immer wieder: „Viktor, du bist doch nur Pfarrer geworden, um dir einen Harem von gackernden Hühnern heranzüchten zu können. Das hat doch schon in Kirgisien begonnen. Oder?“

Er knuffte meinen Vater in die Seite, doch das ‚Oder’, blechern hervorgestoßen, ließ mich aufhorchen. Vater verdrehte die Augen, winkte ab und zwinkerte mir zu.

Ich zwang ich zu grinsen. Es stimmt, daß ihn die Frauen aus unserer Gemeinde, anschmachteten. Doch ebenso wie sein um wenige Minuten älterer Zwilling war er nie verheiratet gewesen. Seine große Leidenschaft bestand in Oldtimern. Ein alter Wartburg - das war seine Traum. Hans und Georg schenkten ihm einen zu seinem letzten Geburtstag. Mein Vater machte nur eine Spritztour mit diesem Wagen, denn er liebte rasante Fahrten. Eigentlich sollte ich mitkommen, doch ich hatte keine Lust gehabt.

Aber auch schöne Frauen schienen es meinem Vater irgendwie angetan zu haben. Rufe ich mir das Bild meiner verstorbenen Mutter ins Gedächtnis, dann spüre ich, wie ein Lächeln über meine Lippen huscht. Mit ihrem ovalen Gesicht, den hohen Wangenknochen, der langen geraden Nase, den braunen, leicht gewellten Haaren und ihren intensiv dreinblickenden, beinahe schwarz anmutenden Augen war sie eine Schönheit - zu schön, um ihr ganzes Leben lang bei einem Mann zu bleiben.

Mein Vater schien’s mit Fassung zu tragen, denn er sagte immer wieder: „Irgendwann finden wir eine Mutter für dich.“

Er suchte und suchte, aber er fand nie die Richtige. Georg schüttelte immer öfter den Kopf darüber und drängte meinen Vater mit heiserer Stimme:

„Nimm dir doch endlich eine Frau, die Leute im Dorf gucken doch schon. Du weißt, ein Pfarrer hat seiner Gemeinde ein gutes Vorbild zu sein.“

„Zeit. Das braucht Zeit“, ließ sich mein Vater undefinierbar lächelnd vernehmen.

Ich nickte, denn ich fand, daß er recht hatte. Liebe war etwas Ewiges. Man sollte sie nur mit Bedacht verschenken. Ich öffnete den Mund. Doch noch ehe ich etwas erwidern konnte, war Hans aufgesprungen. Mit zu Schlitzen verengten Augen starrte er meinen Vater an.

„Verleugne dich nicht ständig selbst ...“

Georg senkte den Kopf, schwieg.

Mein Vater zuckte mit den Schultern und zwinkerte Hans spöttisch lächelnd zu: „Verleugnen wir uns nicht alle selbst? - Na“, und er wandte sich an Georg, spitzte die Lippen, versuchte, amüsiert zu klingen: „Wenn sie mich feuern, dann werde ich wieder Taxifahrer. Das hab’ ich schon während meiner Studienzeit gemacht. Oder ich werde wieder Erntehelfer ...“

Er unterbrach sich, legte den Kopf schief und musterte Hans aus den Augenwinkeln. Diese Geste hatte etwas Verwegenes und es schien so, als warte Vater auf eine bestimmte Reaktion. Hans warf ihm einen zornig aufblitzenden Blick zu, schnaubte verächtlich, nahm wieder Platz.

„Aber ...“

Vater wandte sich an Georg. So als wäre nichts geschehen, hob er den Zeigefinger:

„Aber das werden die nicht tun, weil ich viel zu gut bin ... Die wissen, was sie an mir haben.“

Hans spie ein angewidertes Lächeln in den Raum. Mir war nicht klar, worüber er sich mokierte. War’s Vaters - wie ich fand - gerechtfertigtes Selbstbewußtsein? Georg, den Kopf schon wieder gesenkt, lächelte mich von der Seite her an, deutete kaum merklich auf Vater und rieb sich dann die Augen. Er selbst hatte nicht studiert, aber er weiß, was es bedeutet, eine Dissertation mit ‚summa cum laude’ abzuschließen.

„Unser Karl Barth“, wisperte er und empfing dafür einen flackernden Blick meines Vaters.

Wenn ich mich nun selbst im Spiegel betrachte, so stelle ich fest, daß ich weder Vaters blaue Augen, noch diesen verwegenen Ausdruck oder gar das leichte Flackern seines Blicks mein Eigen nennen kann. Nichts! Meine Augen sind braun, ziemlich große und etwas vorstehend. Ich blicke eher offen in diese Welt und meine, Georg ähnlich zu sehen. Aber das ist nicht schlimm, denn ich mag ihn. Ebenso wie er habe ich mich noch nie in eine Sache verbissen, wie es mein Vater und auch Hans - er studierte Medizin, getan haben.

Beide haben sich oft in spannungsreiche Wortgefechte über die christliche Ethik verstrickt. Wenn ich dann in der Küche saß und mein Frühstück zu mir nehmen wollte, spürte ich immer, wie sie sich mental umschlichen. Mißtrauisch und kampfbereit lauerten wie Raubtiere im hohen Gras. Keiner wollte dem anderen auch nur einen Millimeter seines Territoriums überlassen, denn das wäre ein Eingeständnis von Schwäche gewesen. Aber ich fühlte auch, daß sich hinter diesen Diskussionen eine andere, weit über das eigentliche Thema hinausweisende Art von Angriffslust verbarg. War’s jedoch nur Angriffslust, die die beiden trieb? Hans starrte meinen Vater aus zu Schlitzen verengten Augen an. Seine Kiefer mahlten. Und mein Vater hatte den Kopf schief gelegt, bleckte sie Zähne. Zwei Kampfhunde.

Ich kann nicht sagen, daß sie sich beide immer so verhielten, aber diese unterschwellige Spannung blieb, egal ob sie sich gemeinsam in der Küche aufhielten oder der eine nun auf der Veranda und der andere in der Stube saß. Das Knistern blieb. Es schien mir gerade so, als gäbe es im Haus keinen Winkel, der nicht mit dieser negativen Energie durchsetzt war. Wo ich mich auch hinwandte, von überallher drang diese schlechte Stimmung auf mich ein und ließ in mir eine innere Unruhe entstehen, die mir Angst machte. Ich wollte weglaufen und zwang mich doch zur Ruhe, wenn ich Georgs Blick auffing. Ich hatte manchmal den Eindruck, daß sich die beiden gar nicht richtig mochten und nur dazu geboren worden waren, um sich zu bekriegen, zu bekämpfen. Auch Georg machte dieses Verhalten zu schaffen. Stets versuchte er die unausgesprochenen Konflikte durch Anekdoten und sein kleines, bisweilen tatsächlich heiteres Lächeln aus dem Weg zu räumen. Oftmals aber gelang ihm das nicht. Und ich spürte schon, wieviel Mühe und auch Kraft es ihn kostete, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Er kann es nicht leiden, wenn sich Menschen streiten, deswegen stand er stets zwischen den beiden älteren Brüdern. Aber er ließ sich von ihnen niemals aufreiben. Das habe ich immer an ihm bewundert. Wenn er spürte, daß er nicht weiterkam, wenn sie sich zu sehr ineinander verbissen hatten, nahm er lächelnd Abstand.

Meist traf ich ihn dann im Pferdestall. Entweder striegelte er Anna, seine 1, 55 m große Rappstute oder er hockte einfach nur neben ihr und blickte sie ernst an. Diese Geste und sein Schweigen ließen mich mehr als jedes Wort erahnen, wie es in ihm aussah. Wenn ich dann an der Stallwand lehnte, ihn beobachtete, wandte er manchmal den Kopf, lächelte.

„Hörst du’s? Dr. Robert Koch und Karl Barth streiten sich noch immer. Die haben gar nicht bemerkt, daß wir beide verschwunden sind.“

Ich nickte, verschränkte die Arme vor der Brust, denn ich vernahm das laute, über den Hof schallende Poltern.

„Und dabei mag es Dr. Robert Koch eigentlich gar nicht, beim Essen zu sprechen“, entgegnete ich.

Georg stimmte mir zu: „Ja, unser Dr. Robert Koch wird seinen Prinzipien untreu.“

Er nannte Hans immer so, wenn sich dieser mit meinem Vater stritt und ich übernahm es, weil’s mir dann leichter ums Herz wurde. Wenn ich jedoch den wehmütig sehnsüchtigen Blick Georgs auffing, mußte ich schlucken. Und manchmal verfluchte ich Vater und Hans dafür, ihm den Wunsch nach Harmonie nicht zu gewähren.

„Sie singen im Duett“, bemerkte Georg mit bebenden Lippen.

Auch ich folgte dem durchdringenden Baß von Hans, der von dem nicht minder bestimmenden Bariton meines Vaters begleitet wurde und nickte.

„Ja, wie in einer Wagneroper ...“

Wir lachten verkniffen. Georg trat aus der Box und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab.

„Ich denke, heute wird Dr. Robert Koch als Sieger vom Platz gehen, was meinst du, Ben?“

Ich zog die rechte Augenbraue hoch, holte tief Luft, zwang mich zu erwidern: „Ich halte dagegen.“

Ich weiß nicht mehr, wer an jenem Tag gewonnen hat. Vielleicht gab’s gar keinen Sieger. Fest steht, daß sich Hans und mein Vater sehr oft in die Haare bekamen. Mir tat das anfangs weh, aber dann gewöhnte ich’s mir recht schnell an, meinen Kummer ebenfalls hinter diesem, von Georg zur Schau getragenen Witz zu verbergen. Ja, diese Art war in der Tat ein gutes Mittel, um über die schlechte Stimmung hinwegzukommen und einfach weiterzuleben.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir eines Morgens am Tisch saßen. Hans, Vater, Georg und ich. Es war ein schöner Sommertag und Georg schlug vor, einen Ausritt zu machen. Ich stimmte ihm freudestrahlend zu, spüre noch heute, wie wohl es mir damals im Leibe war.

„Wenn du mir nicht wieder diesen störrischen Klepper, Manitoba andrehst“, hatte Hans miesepetrig dreinblickend gemeint.

Ich biß mir auf die Lippen, weil ich mir vorstellte, wie er all seine Patienten mit diesem bösen Blick vergraulte. Furchtbar! War ein Arzt nicht dazu da, die Menschen zu trösten, sie zu heilen? Hans mochte ein guter Mediziner sein, aber menschlich hatte er nicht viel zu bieten. Vielleicht aber täuschte ich mich auch? Kannte ich den Menschen kaum, so den Arzt noch viel weniger.

Mein Vater nickte, blickte zum Fenster hinaus und meinte dann mit amüsiert zuckender Stimme: „Da du ja schon einmal von Manitoba, unserem Zuchthengst heruntergefallen bist, können wir dir noch Anna anbieten.“

„Anna“, stieß Hans empört hervor. Er fühlte sich offensichtlich ertappt, denn seine Reitkünste waren auch im Dorf berüchtigt. Klar, er kam ja auch nur an den Wochenenden zu uns und hatte wenig mit Pferden zu tun.

„Zum Mitlaufen“, spöttelte mein Vater weiter.

Nun sei es meiner lebhaften Phantasie geschuldet, aber ich mußte unwillkürlich lachen. Hans, ein 1, 85 großer und stattlich wirkender Mann auf diesem, für seine Verhältnisse kleinen Pferd. In der Tat -, er hätte mitlaufen können. Dankbar für diesen Witz rannte auf’s Klo, um endlich ungestört lachen zu können.

Als ich wiederkam, schien die Luft zu brennen und ich bekam kaum Luft. Die Spannung war unerträglich. Beide Brüder standen sich leicht geduckt gegenüber. Jeder nahm eine Stirnseite des Tisches ein. Ihre Blicke sprühten Funken, die Kiefer mahlten. Angriffslustige Kampfhunde, aber keine Brüder. Das Herz raste mir im Leib. Es schmerzte mich und ich krallte mich am Türrahmen fest.

Georg hielt den Kopf gesenkt und löffelte sein Müsli, griff beinahe gleichmütig nach einem Stück Weißbrot und tunkte es in die restliche Milch. Das machte er immer so. Er liebt mit Milch vollgesogenes Weißbrot. Er schien vollkommen ruhig und in sich gekehrt zu sein, doch hockte sein Kopf zu tief zwischen den hochgezogenen Schultern. Und ab und an warf er einen raschen, gar überhastet wirkenden Blick zum Fenster hinaus.

„Anna“, blaffte Hans. „Zum Mitlaufen? Willst du mich verarschen?“

„Du verarschst dich doch nur selber, merkst du das nicht?“

Schweigen. Und plötzlich hob Georg seinen Kopf, blickte mir tief in die Augen. Hilflosigkeit, Streß, Kraftlosigkeit, Überforderung oder der Wille, den beiden endlich zu zeigen, was er dachte?

„Ihr beide seid mir die größten Komiker, die das Land kennt, so und jetzt geh ich mich ne Runde totlachen.“

Mit diesen Worten warf er sein Brot in die Müslischüssel, daß die Milch nur so herausspritzte, lächelte sein mildes, nun jedoch nach Tränen schmeckendes Lächeln, stand ruckartig auf und verließ den Raum.

„Ich geh mich dann auch mal totlachen“, krächzte ich verwirrt und folgte Georg hinaus in den Stall.

Mein Vater war nicht immer so streitsüchtig und angriffslustig. Eigentlich war er das nur an den Wochenenden, also ab Freitagabend bis zum Sonntagnachmittag. Ja, das war die Zeit, in der er sich in eine Furie verwandelte. War Hans dann wieder weg, stand er aber noch lange am Wegesrand, stemmte die Arme in die Seiten und blickte in die Ferne. Er fuhr sich einige Male rasch über den Mund, gerade so als wollte er etwas sagen, doch dann schüttelte er den Kopf.

„Seltsam“, dachte ich, als ich am Küchenfenster kauerte und ihn beobachtete. Seltsam, nun hatten sie sich wieder nur gestritten und doch stand mein Vater als einziger dort draußen und schien seinem Bruder winken zu wollen. Ich selbst war nur wenige Male neben ihm gestanden, als uns Hans verließ. Keine Umarmung. Kein Handschlag. Ein Lächeln? Nein, nicht einmal das. Hans ließ das Wagenfenster hinunter, blickte hinaus, erwiderte den Blick meines Vaters und sagte nur: „Ala.“

Woraufhin mein Vater tonlos: „Tau“, entgegnete.

Einen Augenblick lang herrschte Friede zwischen den beiden Brüdern, dann verschwand Hans für den Rest der Woche.


III


Nun, da ich vor unserem großen Spiegel in der Diele stehe und mich betrachte, fallen mir diese zwei Worte wieder ein. Was bedeuteten sie meinem Vater und Hans? Besitzen sie noch heute einen Wert für Hans? Vielleicht sollte ich Georg nachher beim Abendessen fragen?

Ich hebe die Hand, gleite mit dem Zeigefinger über mein Spiegelbild, das mich aufmerksam und ernst betrachtet und ich murmle: „Ala und Tau.“

„Ala - wer ist mein Vater - Tau?“

Ich bin meinem Abbild so nahe, daß ich’s beinahe fühlen kann, doch spricht’s nicht zu mir, gibt keine Antwort. Es zeigt mir nur, was ich bin. Und ich bin klein, schmächtig, auch jetzt noch, da ich das 14. Lebensjahr vollendet habe. Mein braunes Haar ist wohl gescheitelt. Georg hat einen guten Friseur in der nahegelegenen Kleinstadt, der mir diesen Jungen- und Herrenschnitt zum halben Preis anfertigt. Georg meint, mir stünde diese Frisur und ich stimme ihm zu, denn sie erinnert mich an seine und Vaters Jugend. Das Bild - unter der Baskenmütze trägt auch mein Vater diesen Seitenscheitel.

„Streber“, werde ich genannt. „Streber oder Psychopath“, weil ich zu meinem weißen Hemd eine dunkle Krawatte trage und darüber ein Jackett. All das fand ich auf dem Speicher in einer Truhe. Wenn ich an diesen Kleidern rieche, meine ich die Weite dieser Wiese, das würzig duftende Gras, ja diesen Sommer zu inhalieren. Kirgisien muß ein wunderschönes Land sein.

Um meine Sehschwäche auszugleichen, besitze ich eine kleine runde Brille. Diese aber fand ich nicht in der Truhe, so sehr ich auch nach ihr suchte, obwohl sie meinem Vater gehört haben muß. Er trug sie doch auf dem Photo, das sich nun unter meinem Kopfkissen befindet. Seltsam, aber vielleicht ist sie verloren gegangen? Ich kaufte mir eine ähnliche beim Optiker.

„Professor“, lachen meine Mitschüler spöttisch.

Das tut bisweilen weh, aber ich kneife die Augen fest zusammen, versuche sie zu ignorieren, über sie zu lachen, denn für sie existiert nur die Baseballkappe, unter der sich, wie Georg immer zu sagen pflegt, soviel Luft befinde, wie es ihren Trägern an Hirnmasse mangle.

Georg stupst mich in die Seite, zwinkert und alles ist wieder gut. Er nimmt mich so, wie ich bin. Aber wer bin ich?

Die Älteren aus dem Dorf sind mir sympathischer, denn sie geben Georg recht.

„Da kommt ja Viktor“, meinen sie.

„Viktor mit einer Brille auf der Nase. Und die braunen Augen hat er von der Mutter.“

Das macht mich stolz und doch weiß ich nicht, ob’s wirklich stimmt, was sie sagen. Sicher spüre ich noch immer die Nähe meines Vaters. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn, wie er mir das Laufen und Sprechen beibringt. Er überwachte meine Hausaufgaben. Im Winter gingen wir Schlittschuhlaufen oder bauten mit Georg einen Schneemann. Manchmal folgte dem eine Schneeballschlacht. Im Sommer fuhren wir baden. Ich liebe diesen Blausee ganz in der Nähe unseres Dorfes. Er ist eigentlich eine Kiesgrube, aber sein Wasser ist glasklar und lädt zum tauchen ein. Mein Vater brachte mir hier das Schwimmen bei -, erst dann konnte ich toter Mann spielen. Und so trieben wir beide nebeneinander her und er erzählte mir die neusten Geschichten aus der Gemeinde.

"Stell dir vor, da gibt's Eine, die doch tatsächlich deine neue Mutter werden möcht'."

"Was?"

Ich schreckte hoch und schon war's aus. Der tote Mann lebte wieder und ich hatte ziemlich viel Wasser geschluckt. Auch meine Nasennebenhöhlen freuten sich. Ich hörte das himmlische Halleluja singen, während mein Fuß nach Halt suchte, doch ich sah mich nur dieser tiefblauen Unendlichkeit gegenüber. Gut, daß mein Vater bei mir war.

"Ganz ruhig, Ben. Leg' dich wieder hin."

Ich aber fand meinen Rhythmus nicht mehr, also planschte ich neben ihm her. Ich fand das auch angenehmer, um sich zu unterhalten.

"Ja, also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, sie ist Dolmetscherin für's Russische, was ich persönlich nicht schlecht finde. Aber als ich ihr das sagte ... na ja, Frauen eben!"

Er schüttelte den Kopf und ich bewunderte ihn für seine Gabe, sich auf dem Wasser bewegen zu können, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen. Wie machte er das?

"Frauen?", stieß ich keuchend hervor und schluckte wieder etwas Wasser.

"Ja, guckste die einmal an, denken die gleich, daß der Hahn tropft und sie kleben an dir wie eine Schmeißfliege oder eine läufige Hündin.“

Ich kicherte, fragte ich mich jedoch, was ein Wasserhahn mit einer läufigen Hündin zutun hatte.

"Also wieder keine Mutter?"

"Schau sie dir an im nächsten Gottesdienst", erwiderte er gähnend und rieb sich die Nase.

„Neulich stand sie auf der Lüftung unserer Bodenheizung -, du weißt, die, die sich genau vor dem Altar befindet. Warme Luft stieg auf und Heidrun, so heißt sie, trug einen Rock. Und ...“

Er dreht sich auf den Bauch und begann zu schwimmen.

„Was?“

„Also, eines weiß ich jetzt. Marilyn Monroes Unterwäsche sagt mir auf jeden Fall mehr zu, weil ich die nicht sehen muß ...?“, gluckste er.

Ich grinste und nickte, denn Marilyn Monroe kannte ich, doch hatte ich mir um deren Unterwäsche noch keine Gedanken gemacht. Es interessierte mich nicht mehr als die täglichen Hausaufgaben.

Meinen Vater kenne ich vielleicht. Aber wer war der Mensch, der sich hinter ihm verbarg? Ich mein', er war ja nicht nur mein Vater, der mir, ähnlich wie es jetzt Georg tut, Geborgenheit und Wärme gab.

Ziehe ich die Sachen aus der alten Truhe an, habe ich das Gefühl, ihm näherkommen zu können. Es ist dann so, als lebe er an mir weiter, wenn ich schon nicht weiß, ob er in mir existiert.

Im Grunde weiß ich nichts über ihn. Höre ich in mich hinein, schweigt’s und es ist ein blindes Tasten. Ein nicht Wissen -, nur diese eine Frage bleibt. Wer war mein Vater?

Mein Vater war groß und schlank. Schon mit 15 hätte man ihn für einen 20jährigen halten können. Und er lächelte immer. Beinahe auf jedem Photo lächelte er. Lächeln -, das fällt mir schwer. Vor allem auf Photos. Jetzt, da ich vor dem Spiegel stehe, ziehe die Mundwinkel hoch und betrachte mich aufmerksam. Ich mag dieses Grinsen nicht, es wirkt künstlich, so aufgesetzt, gestellt, weil die Augen nicht mittun. Also verenge ich sie zu Schlitzen und finde mich gleich noch schrecklicher. Irgendwie unecht. Nein, mein Vater lächelte immer herzerfrischend, manchmal flirtete er mit der Kamera, oder mit dem dahinterstehenden Menschen. Wer weiß?

Ich blecke die Zähne und könnte würgen, denn ich sehe aus wie ein Hund, der auf Beute lauert und ich meine eine entfernte Ähnlichkeit mit Hans zu entdecken. Auf vielen Photos, die ihn als jungen Mann zeigen, verzieht auch er nur seinen Mund, während die Falte zwischen seinen Augenbrauen von Photo zu Photo wächst. Und wenn ich ganz dicht an den Spiegel herantrete und über meine Nasenwurzel streiche, spüre ich dann nicht den Ansatz einer winzigen Falte? Kommt’s daher, daß ich ein Brillenträger bin, so wie er? Setze ich aber meine Brille ab, so betrachten mich seltsamerweise Georgs harmoniesuchende Augen.

„Du guckst hündisch, wenn du lächelst, weißt du das. Mit deinen großen Augen ...“, foppte Vater Georg manchmal.

Besitze ich einen hündischen Blick? Ich reiße die Augen weit auf, nähere mich meinem Spiegelbild. Ja? Mein Blick ist brav und angepaßt, angepaßt: Aber nicht an unsere Zeit ... Und nun muß ich doch lächeln. Nein, nicht an unsere Zeit. Würden mich meine Klassenkameraden sonst hänseln? Unsere Zeit ist durch einen leeren, kalten Blick gekennzeichnet und ich störe dieses uniforme Bild, meint Georg. Wenn ich ehrlich bin, amüsiert mich das. Und ja, ich bin schon angepaßt, denn wenn ich mir die Kinderphotos meines Vaters und meiner Onkel ansehe, dann fällt mir auf, daß ich nicht nur den Kleiderstil, sondern auch den Blick eines Jungen aus jener Zeit besitze. Und das macht mich stolz, weil ich anders bin als meine Mitschüler. Aber hilft es mir auch, meinem Vater näher zu kommen?


IV


Eines Abends, es ist noch gar nicht so lange her, betrachteten wir uns eben diese alten Photos. Das mache ich nach dem Tod meines Vaters sehr gerne, weil ich darin eine Möglichkeit sehe, ihm in die Augen blicken und mich an unser Beisammensein erinnern zu können. Georg und ich saßen in der Küche, die unser liebster Platz ist. Der Ofen spendete noch etwas Wärme und die gemütliche Lampe schummerte ihr Licht auf den Tisch. Es war Sonntagabend. Wir waren allein im Haus, denn Hans hatte uns vor wenigen Stunden verlassen. Ihm wäre es nichts gewesen, in der Küche zu sitzen.

„Die Küche ist der Ort, an dem man die Speisen zu sich nimmt“, läßt er sich immer wieder vernehmen und verschwindet nach den Mahlzeiten in die Stube. Er liegt dann auf unserem Sofa. Was er dort macht? Nun, er guckt fern. Eine Sitcom nach der anderen. Ganz einfach! Zerstreuung, bis er schnarcht.

„Dem sind doch nur die Küchenstühle zu hart“, raunte mir Georg einmal zu und winkte belustigt ab.

„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“

Ich nickte.

„Sie sind’s auch.“

„Was du nicht sagst! Hab’ ich noch gar nicht bemerkt.“

Beide lachten wir und wußten doch, welch’ bitteren Beigeschmack dieser Witz besaß.

Als mein Vater noch lebte, war’s bei ihm ähnlich. Auch er verschwand gleich nach den Mahlzeiten aus der Küche. Er könne den Essensmief nicht ertragen. Auffällig war’s nur, daß ihn dieser vom Sonntagabend bis Freitagmittag nicht zu stören schien. Nur an den Wochenenden ging er im Sommer auf die Veranda, ließ sich in die Hollywoodschaukel fallen und pfiff einen alten Schlager. Oder er hielt sich Dshamilja von Tschingis Aitmatow vor die Nase, doch blätterte er nie eine Seite um -, ich hab’s genau gesehen.

„Worum geht’s denn in diesem Buch?“, fragte ich ihn einst.

„Liebegeschichte, spannend.“

„Warum liest du’s dann nicht?“

Er ließ das Buch sinken. Seinem Gesicht - ein erstaunt grinsendes Fragen. Dann holte er tief Luft, fuhr sich mit der Hand über den Mund.

„Geht’s dir mit einigen Büchern nicht auch so, daß du meinst, sie beinahe besser zu kennen als der Autor selbst?“

Ich nickte, nun meinerseits verwirrt.

„Die unendliche Geschichte. Es ist mein Lieblingsbuch.“

Er knuffte mich in die Seite, zwinkerte mir zu.

„Siehst du? Und nun verschwinde, ich habe zu lesen.“

Er wedelte mit der Hand durch die Luft, so als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, doch in seinen Augen tanzte der Schalk.

„Kann ich’s auch mal lesen, wenn du’s ausgeträumt hast?“, kicherte ich und er droht mir nur grinsend mit dem Zeigefinger.

„Frech wie Dreck, diese Jugend von heute ... kein Respekt mehr vor dem Alter.“

Nach seinem Tod fiel mir dieses Buch wieder ein. Ich suchte es im ganzen Haus. Doch selbst in der alten, auf dem Speicher stehenden Truhe, in der sich Vater’s Sachen befanden, lag’s nicht. Es war verschwunden.

„Nein, ich hab’s nicht. Aber in einem geordneten Haushalt findet sich alles wieder“, bemerkte George knapp, als ich ihn daraufhin befragte.

Es fand sich nicht wieder an.

„Vielleicht ist’s bei der Entrümplungsaktion von Viktors Zimmer aus Versehen mit weggeschmissen worden.“

Georg zuckte mit den Schultern, preßte jedoch die Lippen fest aufeinander, senkte den Blick. Ich ahnte, was in ihm vorging und schlang meine Arme um seinen Bauch, schmiegte meinen Kopf an seine Brust. Sein Herz raste.

Ja, an diese Entrümplungsaktion kann ich mich auch noch genau erinnern. Kaum war Hans am Freitagabend zu uns gekommen, stürmte er mit einem Haufen von zusammengefalteten Umzugskisten unterm Arm ins Zimmer seines toten Bruders und begann mit seinem, nach Endgültigkeit schmeckenden Werk. Weder Georg noch ich halfen ihm. Wir hockten das gesamte Wochenende wie versteinert in der Küche, während Hans die letzten Spuren seines Bruders beseitigte. Meist hörten wir es poltern, dann schien es so, als werde etwas grob über den Boden geschleift - die Möbel meines Vaters? Er zerlegte, nein zerhackte sie in Einzelteile. Plötzlich herrschte Stille. Georg und ich blickten auf. Was machte Hans in jenen Augenblicken, wenn aus dem Zimmer meines Vaters nur ein Schweigen an unsere Ohren drang? Ein Schweigen? In Georgs Augen glänzten Tränen. Ich schniefte.

Die Küche gab Georg und mir Wärme und Geborgenheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch an jenem Abend, als wir die Photos aus alten Zeiten betrachteten, blieben wir in der Küche sitzen. Wozu auch extra in die Stube gehen, wenn die Küche wie ein gemütliches, aus Essensdüften gewobenes Nest wirkt? Nur die Stühle sind wirklich zu hart. Ich fragte mich früher immer, warum wir sie nicht gegen bequemere Sitzgelegenheiten austauschten. Das Geld wäre doch dagewesen. Aber wenn ich dann in mich hineinhorchte, konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. Ich hing an ihnen, ebenso wie meine Onkel und mein Vater.

War’s nicht Hans, der einmal beinahe mit seinem Stuhl zusammengebrochen wäre und sich gerade noch am Tisch festklammernd fangen konnte? Ich grinste unwillkürlich, wirkte er doch wie der Zappelphilipp aus dem Struwelpeter. Sein zornfunkelnder Blick ließ mich indes hart an dem Kloß in meiner Kehle schlucken. Das Lächeln starb ab und die Stille hing drohend im Raum, drückte mich nieder. Ich senkte den Kopf. Was würde geschehen? Würde er aufspringen und sich über unseren Saustall aufregen? Würde er wieder wie ein auf’s Blut gereizter Kampfhund erscheinen, nur um von dem spöttisch lachenden Kläffen meines Vaters empfangen zu werden? Mein Vater ließ keine Gelegenheit aus, sich über seinen älteren Bruder lustig zu machen.

Doch nichts dergleichen

Vater tat so, als sei nichts vorgefallen. Georg hielt den Kopf gesenkt und tunkte Weißbrot in seine Gemüsesuppe.

Und Hans?

Mit zusammengepreßten Lippen arrangierte er seinen Stuhl, räusperte sich und aß schweigend weiter. Schweigend, so wie es seine Art ist. Vater und er hielten tatsächlich Frieden, geradeso, als ginge von diesen vier Stühlen ein mahnender Zauber aus, der sie bannte.

Zum ersten Mal in meinem Leben meinte ich, ein harmonisches Beieinander dieser beiden Brüder spüren zu dürfen.

Am nächsten Tag, es war Samstag, hörte ich’s schon in der Frühe laut hämmern. Es war Hans, der im Schuppen jeden der vier Stühle auf Mängel prüfte. Das nahm die restlichen zwei Tage in Anspruch. Unsere Speisen verzehrten wir, da es Sommer war, dicht gedrängt auf der Hollywoodschaukel sitzend. Georg und ich in der Mitte, Hans und mein Vater außen und vor uns ein kleiner klappriger Campingtisch. Plötzlich begann mein Vater einen alten Schlager zu pfeifen und schubste uns leicht an. Was war los? So etwas hatte er im Beisein von Hans noch nie getan. Unwillkürlich sah ich auf und hätte mich beinahe an meinem Müsli verschluckt. Kein amüsiertes Glucksen, nicht einmal der Anflug eines Lächelns. Nur tiefe Verbitterung, ja Verachtung schlugen wie ein einziger gewaltiger Donnerschlag durch mich hindurch. Ich hielt die Luft an, wußte ich doch, wem dieser Blick eigentlich galt. Hans! Vater’s Spiegelbild! Er starrte ihn aus zu Schlitzen verengten Augen feindselig lauernd an. Ich wäre in diesem Moment am liebsten aufgesprungen, wenn mich der Tisch nicht daran gehindert hätte. Und dann spürte ich Georgs Hand auf meinem Knie. Der leichte Druck tat mir gut und ich schniefte nur leise.

Nach den Mahlzeiten ging Hans sofort wieder ans Werk. Er arbeitete die ganze Zeit allein. Georg und Vater halfen ihm nicht, doch spottete Vater des öfteren darüber, daß Hans ziemlich lange bräuchte, um diesen Sperrmüll, wie er die Stühle flapsig nannte, zu reparieren. Ich grinste ihn an und blickte rasch zum Schuppen. Wenn mir Hans nicht solch einen Schrecken eingejagt hätte, wäre ich vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben zu ihm gegangen, denn ich mochte seine Arbeit, auch wenn ich nicht verstand, warum er diese alten und klapprigen Sitzmöbel reparierte.

Hans verabschiedete sich erst spät am Sonntagabend von uns. Er wirkte müde, war leicht verschwitzt, wollte jedoch nicht mehr duschen, nur rasch nach Hause. Ich meinte in seinem Blick eine mir vollkommen fremde, an Zärtlichkeit grenzende Befriedigung zu entdecken, als er nochmals auf die frisch gerichteten Stühle sah und seine Hand über eine Lehne gleiten ließ. Und da entdeckte ich, was er getan hatte. Die Stühle waren nicht nur neu geleimt, das Holz nicht nur frisch poliert, nein in jeder Lehne befand sich eine Initiale, die zu einem unserer Namen ergänzt werden konnte. Es war mir plötzlich seltsam ums Herz. Da stand dieser abweisend wirkende Mann, der sich mit meinem Vater ständig stritt und kaum ein Lächeln zustande brachte. Nun erschien er mir jedoch wie ein Familienvater, der seinen Kindern zum Abschied über den Köpfe strich.

Diesmal hatten wir uns alle drei an Hans’ Auto eingefunden, Georg etwas abseits und ich dicht neben ihm. Vater, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, warf Hans einen Blick zu.

„Ala.“

„Tau.“

Dann fuhr Hans davon und mein Vater blieb noch lange an der Straße stehen, - allein, denn Georg hatte mich mit sich ins Haus genommen.

„Komm, laß uns die Stühle ausprobieren.“

Ich nickte. Die Stühle, noch immer unbequem, wackelten nicht mehr so heftig und erschienen in neuem Glanze. Und unsere Initialen prangten wie kleine Schmuckstücke auf den Lehnen. Die Arbeit von Hans konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese vier Möbel alt waren und eigentlich schon längst auf den Sperrmüll gehört hätten.

Ein größeres Geheimnis erkannte ich im Verhalten der beiden Brüder. Warum kam Hans am Wochenende stets zu uns und warum ließen es Georg und mein Vater zu, obwohl wir doch alle wußten, daß diese drei Tage durch Streit gekennzeichnet waren? Warum hatte mein Vater nicht gelacht, als Hans sich hilflos an den Tisch geklammert und es nur mit Mühe zu verhindern gewußt hatte, vollkommen zusammenzubrechen? Das und die Reparatur der Stühle hatte mich nachdenklich werden lassen. Es hatte den Anschein gehabt, als wolle Hans mit der Reparatur etwas schon längst Kaputtgegangenes bewahren und am Leben erhalten.

„Vater“, fragte ich den Hereinkommenden.

„Na?“, erwiderte dieser und versuchte zu grinsen.

„Warum hat Hans die Stühle repariert und zusätzlich noch unsere Anfangsbuchstaben in die Lehnen geschnitzt?“

Er sah mir einen Moment lang direkt in die Augen, begann zu glucksen, dann warf er seinen Kopf in den Nacken, lachte ein gackerndes, freudloses Lachen.

„Benjamin.“

Er schnellte auf mich zu und bohrte seinen langen Finger in meine Brust. Ich zuckte zusammen, wich unwillkürlich zurück.

„Benjamin, damit du beim Essen nicht zu stehen brauchst. Und das andere ... nun, er sorgt sich, befürchtet, daß wir unsere Namen vergessen könnten.“

„Aber, warum ....?“

Noch ehe ich meine Frage wiederholen konnte, hatte er die Küche verlassen. Ich war verwirrt, fühlte mich nicht ernst genommen, wandte mich an Georg. Dieser zuckte mit den Schultern.

„Die Stühle sind schon sehr alt. Sie stammen aus Kirgisien ... Der Ernteeinsatz“, entgegnete er, den Sinn meiner Frage erahnend.

„Dann sind sie ein Andenken?“

Georg nickte und verließ ebenfalls den Raum. Es war offensichtlich, daß auch er nicht darüber sprechen wollte.


V


„Hier, da sind die beiden Krachmacher mal ganz manierlich“, bemerkte Georg und reichte mir ein großes, schon leicht vergilbtes Klassenphoto.

„Such sie mal“, gluckste er. „Kleiner Tip, die wo da sich gleichen wie ein Ei dem anderen, das sind sie, mmh?“

Ich lachte, auch wenn ich seinen Witz gestelzt fand und deutete auf zwei sich schelmisch angrinsende kleine Jungen, die links und rechts von ihrer Truppe saßen. Hatten sie der Lehrerin gerade einen Kaugummi auf den Sitz geschmiert, oder einem Mitschüler ein „Ich-bin-doof-Schild“ auf den Rücken gepappt?

„Und wer von beiden ist mein Vater?“, fragte ich verwirrt.

„Mmh, gute Frage“, meinte Georg und lächelte, während er sich das Bild näher an die Augen hielt.

„Ich glaube, der hier. Ja, der, der so etwas mehr grinst.“

Ich betrachtete das Photo eingehend und konnte keinen Unterschied erkennen. Die beiden wirkten wie ein Junge, den man gespiegelt hatte. Und ihre Kleider -, für die damalige Zeit sehr, vielleicht zu modern. Die beiden Brüder stachen durch ihre bunten Pullover, auf denen Mickey Mouse und Donald Duck mit ihnen um die Wette grinsten aus der Klasse heraus. Sie paßten nicht in jene wohlgescheitelte Anzugszeit, die ich persönlich jedoch so sehr liebe, weil ich mit ihr diese weite Wiese auf dem Photo unter meinem Kopfkissen verbinde. Hätte man die beiden aus dem Bild entfernt und mich statt dessen hineingesetzt, wäre ich nicht aufgefallen, abgesehen davon, daß ich vielleicht der Größte wäre.

Und Georg? Eigentlich sieht er auf seinem Abschlußphoto der 10. Klasse genauso aus wie ich. Das Haar ist sauber gescheitelt und der Mund zu einem kleinen, ein wenig gestellten Lächeln verzogen. Seine Augen blicken jedoch ernst in die Kamera. Er hält den Kopf leicht schräg nach oben gewandt. Das mag ich an ihm. Er wirkt verträumt und stark zugleich. Und wenn er nun auf diesem Photo tatsächlich lächeln würde? Ja, dann sähe er vielleicht sogar meinem Vater ähnlich. So aber scheint’s mir, als blicke mich mein Spiegelbild an, nur fehlt ihm die kleine runde Brille.


VI


„Georg?“, beginne ich.

Wir sitzen in der Küche, haben soeben unser Abendessen verzehrt.

„Ja?“ Er blickt auf, seine Augen wirken müde. Es ist ja auch schon spät, wie mir ein Blick auf die große Küchenuhr verrät.

„Was bedeutet ‚Ala Tau’?“

Er räuspert sich. „Das ist der Name verschiedener Gebirgszüge des Tienschan.“

„Das weiß ich, hab’s im Lexikon nachgeschlagen.“

„Und, warum fragst du dann, wenn du’s schon weißt?“

Er gibt sich verwundert, doch kann ich seinem offenen Blick entnehmen, daß er genau weiß, worauf ich hinauswill. Von allein aber wird er mir nichts sagen, dazu preßt er die Lippen zu fest aufeinander.

„Weil sich Hans und mein Vater diese Worte zugerufen haben. Warum taten sie das?“

Er schluckt, reibt sich die Augen.

„Es ist schon spät“, weicht er mir aus und räumt das Geschirr ab.

„Warum?“, dringe ich in ihn, doch er schüttelt nur den Kopf, wirkt erschöpft. Sein Blick gleitet ins Leere.

„Da fragst du den Falschen“, murmelt er und verbirgt seine Unsicherheit hinter einem langen Gähnen.

Den Falschen also und wer ist der Richtige?

Meinen Vater kann ich nicht mehr fragen. Und zu seinen Lebzeiten dachte ich nicht daran, es zu tun. Warum auch? Es interessierte mich nicht. Jetzt aber, da mein Vater tot ist ... jetzt möcht’ ich’s wissen. Ich möcht’ alles über diesen Mann wissen, der mein Vater war. Aber habe ich das Recht dazu, dieses Geheimnis zu ergründen? Habe ich? Ich bin sein Sohn. Also habe ich’s?

In dieser Nacht liege ich sehr lange wach und grüble über den Sinn dieser Worte nach. Warum sprachen sich die beiden Brüder stets mit ‚Ala’ und ‚Tau’ an? Was verbirgt sich dahinter? Und stellen diese beiden Worte überhaupt den Schlüssel zu meiner Frage dar? Helfen sie mir weiter?

Ich denke schon. Ja. Ich kenne die beiden Brüder nur von Photos her. Als Kinder lachten sie, als Heranwachsende wirkten sie wie zwei Gelehrte, die sich gemeinsam beraten und als Erwachsene waren sie plötzlich auf keinem einzigen Photo mehr gemeinsam abgebildet. Dann der ständige Streit, schließlich das ‚Ala’ - ‚Tau’, das wie eine Parole wirkte. Was bindet sie an diese beiden Worte? Oder ist’s purer Zufall, daß sie sich stets mit dem Namen eines Gebirgszugs verabschiedeten?

Ich wälze mich im Bett umher und starre zum Fenster hinaus. Der Mond gleitet hinter einer Wolke hervor, scheint mir direkt ins Gesicht. Ich zwinkere müde, doch an Schlaf ist nicht zu denken.

„Ala Tau“, murmle ich und gähne.

„Ala Tau“, hämmert es in meinem Schädel und ich weiß noch immer nicht, ob ich das Recht habe, dieses Geheimnis zu ergründen.

„Da fragst du den Falschen.“, schwebt’s gespenstergleich in mein Bewußtsein.

Bedeutet diese Antwort, daß ich einen Richtigen fragen könnte?

Aber wer ist der Richtige?

Hans?

Unwillkürlich schüttle ich den Kopf, sehe den zornblitzenden Blick meines Onkels, erahne den Kampfhund und weiche schon jetzt zurück.

Wenn sich die beiden diese Worte zuriefen, schienen sie für Augenblicke befriedet, ja eins gewesen zu sein, so wie in dem Augenblick, als Hans beinahe mit seinem Stuhl zusammengekracht wäre. Sie lächelten selten, doch ihre Blicke wirkten tief, tiefer, als es sonst der Fall war.

Was verbirgt sich hinter diesen Worten? Habe ich das Recht, eine Antwort auf meine Frage zu verlangen? Und hilft mir diese überhaupt, meinen Vater zu finden? Es wäre Hans’ Sicht auf meinen Vater. Bedarf’s dieser Sichtweise? Wäre er meinem Vater gegenüber nicht ungerecht? Würde er ihn nicht karikieren? Wie wüßte ich, daß er mir die Wahrheit sagt? Und würde er mich überhaupt verstehen? Könnte ich ihm vertrauen? Er mag mich doch gar nicht.

Mein Schädel beginnt zu brummen. Ich schwitze.

Diese Fragen machen mich wahnsinnig und ich erhebe mich. Das Kopfkissen habe ich bereits unter meinen Arm geklemmt. Meine Seele kennt ihren Weg. Ich spüre den kalten Boden unter den Füßen, höre die Dielen knarren. Schon strecke ich die Hand nach der Klinke aus -, doch nein! ... Diesmal sagt mein Geist: „Nein.“

Nein, nicht zu Georg. Diesmal nicht! Zwar sehne ich mich nach seiner Wärme und ich würde mich in seinen Armen sofort beruhigen, doch will ich das? Will ich in dieser Nacht überhaupt den Schlaf eines Kindes finden? Habe ich nicht über so vieles nachzudenken, was keinen Aufschub duldet?

Ich hocke mich auf mein Bett. Die Wand empfängt mich warm und weich, Dank des Teppichs, den Georg angebracht hat. Er ist von Hand geknüpft und zeigt Buratino und Tscheburaschka, zwei Gestalten aus der russischen Kinderwelt, wie mir Vater einst erklärte. Wer hatte ihn mir geschenkt? Vater oder Georg?

„Damit du nicht immer gleich nen Schnupfen bekommst, wenn der Wind ums Haus fegt“, hatte Georg geschmunzelt.

„Und außerdem bewachen die Beiden deinen Schlaf“, war er fortgefahren und hatte auf die frechgrinsende Spitznase mit Zipfelmütze und Ringelpullover und das freundlich winkende Schlappohr gedeutet.

Auch wenn’s stimmt, daß mich diese beiden Wesen oft getröstet haben -, damals war ich ein Kind gewesen. Jetzt aber, jetzt interessieren sie mich nicht mehr. Ich werde den Teppich wohl bald abnehmen. Dennoch: Er spendet mir Wärme, tut seinen Dienst, wenigstens in dieser Hinsicht. Ich bette mein Kinn auf das Kopfkissen. Mein Blick gleitet wiederum hinaus, dem silbernleuchtenden Mond entgegen.

Was soll ich tun? Hans fragen? Wie wird er reagieren? Wird er zum Kampfhund, renne ich sofort weg. Antwortet er, dann ... Er antwortet nicht ... nein, er wird nicht antworten. Das fühle ich ganz deutlich. Warum? Vielleicht sind’s diese tiefen, aber schweigenden Blicke, die sich die beiden Brüder manchmal zuwarfen. Dieses Geheimnis, das dahinter wie in einer alten, sargähnlichen Truhe liegt, oder schlummert es doch nur? Blickte mich Hans nicht kurz nach dem Tode meines Vaters einmal so an, als wolle er ‚Ala’ sagen, nur um sich dann abrupt wegzudrehen? Ich täusche mich sicher. Vielleicht ist’s aber auch so, daß es nichts zu beantworten gibt, eben weil die Frage niemals gestellt wird? Aus Angst? Ich beiße in den Zipfel meines Kopfkissens. Das gibt mir Linderung. Aber es ist auch die Angst, die mich weiterhin zubeißen läßt -, wie im Zwang. Es schmerzt.

Hans ist mir ein Fremder, ebenso wie es mir im Grunde auch mein Vater immer war. Obwohl Hans jedes Wochenende bei uns ist, kümmern wir uns kaum um einander. Er ignoriert mich, weil er mich nicht mag. Ich versuche ihm auszuweichen und habe mich schon dabei ertappt, mich gleich nach dem Essen aus dem Staub zu machen. Plötzlich fand ich mich auf der Hollywoodschaukel wieder. Ich stieß mich leicht ab. Nur ein Schlager wollte mir nicht einfallen und das Buch Dshamilja fehlte auch. Als mir das bewußt wurde, lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinab und ich sprang auf.

Vielleicht empfinde ich seine Besuche gerade deswegen als so sehr belastend, weil er mich meidet? Wir schweigen uns an. Er ist verschlossen, abweisend und reagiert auch auf seinen jüngeren Bruder sehr mürrisch.

Soll ich ihn morgen anrufen? Vielleicht ist’s besser, ihn anzurufen, als ihn von Angesicht zu Angesicht zu fragen? Vielleicht ist’s für uns beide besser, uns nicht sehen zu müssen, wenn ich ihm diese Frage stelle?


VII


„Was bedeutet ‚Ala Tau’?“

Stille.

Ich habe Hans am nächsten Morgen nicht angerufen. Nein, ich mußte zur Schule. Und als ich dann nach Hause kam, gab’s so vieles, was sich zwischen mich und die Frage schob. Da mußte das erledigt werden und dann das und dann wieder jenes und dieses. Es war seltsam, ich kam nie zum telephonieren. Und immer, wenn ich etwas Zeit hatte und dachte, Hans nun anrufen zu können, fiel mir wieder etwas anderes ein. Und so verging die Woche wie im Flug.

Nun sitze ich hier am Frühstückstisch. Es ist Samstagmorgen. Bisher aßen wir schweigend, so wie immer, wenn Hans da ist. Er will es so. Doch jetzt holte ich tief Luft, überwand mich, ignorierte meinen rasenden Herzschlag und richtete das Wort an ihn. Eigentlich habe ich nicht ihm die Frage gestellt, sondern meiner Müslischüssel. Und ich starre noch immer auf sie herab, versuche die kleinen grauweißen Flocken zu zählen.

Georg sitzt dicht neben mir, hält mich unterm Tisch am Arm gepackt. Ich spüre seinen verwirrt fragenden Blick, das entsetzte Kopfschütteln. Hat er Angst?

Auch ich erwarte den Kampfhund, der jeden Augenblick zuschnappen wird und ein Schauer läuft mir den Rücken hinab. Georgs Griff preßt mein Handgelenk, es schmerzt mich. Er zittert. Was jetzt?

Ich lausche in die Stille, höre wie Hans den Löffel neben seine Müslischale legt. Gleichmütig? Dann ...

Er schweigt, zieht die Luft geräuschvoll durch die Nase ein und beugt sich über den Tisch, ergreift die Kaffeekanne -, ein Andenken aus Kirgisien, ebenso wie die vier Stühle. Schön gearbeitet ist sie, wirkt wie gedrechselt und ist doch aus Porzellan. Wir konnten sie lange nicht gebrauchen, da die Tülle und ein Teil der Wandung abgeschlagen waren. Wann das geschah, weiß ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, daß mein Vater sie schon wegwerfen wollte, als Hans plötzlich einen Extrakleber für sie aus der Stadt mitgebracht hatte und sie leimte, geradeso, als wolle er ihre Seele vor dem Tod bewahren.

Hans gießt sich etwas Kaffee ein, nimmt einen Schluck. Blickt auf. Es fehlt etwas, aber er überlegt einen Moment zu lange, ehe er sich einen Tropfen Milch hinzugibt. Nur einen, so wie er es mag, nimmt aber keinen weiteren Schluck. Wieder greift er nach seinem Löffel. Das nun folgende gleichmäßige Klirren signalisiert mir, daß Hans weiterißt.

Georg lockert seinen Griff. Der Atem entweicht seinen Lungen leise, sehr leise. Zu leise, um nicht aufzufallen. Noch ist die Gefahr nicht gebannt, aber ich riskiere einen winzigen Blick. Hans ißt. Seine Kiefer mahlen, ruhig, beinahe gelassen, doch er starrt in seine Schüssel.

Schweigen.

Ich sollte essen.

Mein Herz rast. Ich kann kaum schlucken, aber ich versuche mich zu beruhigen, versuche gleichmäßig zu atmen und mich dem Eßrhythmus von Hans anzupassen. Mechanisch hebe ich den Löffel zum Mund, kaue, schlucke und greife nach einer Weißbrotscheibe. Meine Hand zittert.

Er wird nicht antworten. Diese Tür bleibt mir verschlossen. Vielleicht ist das gut so? Ja, es ist gut so ... Ich hebe den Kopf. Es geht mich nichts an. Diese Seite meines Vaters ist allein Hans vorbehalten. Nur er hat ein Recht darauf. Nur er allein ... Ich will es auch gar nicht mehr wissen. Warum habe ich überhaupt diese Frage gestellt? Warum? Er soll nicht antworten ... nicht antworten.

Ein Windhauch streift mich an der Wange. Ich blicke auf, sehe, wie er mit der Gardine spielt. Wie sacht sie sich über ihm entfaltet, nein bläht -, wie ein Segel? Nein, sie gleitet wie ein weißer Schleier durch den Raum, so als tanze sie zu einer lautlosen Melodie, die nur sie vernimmt. Ich stoße die angehaltene Luft aus, find’s wunderschön.

„Wann beginnen deine Sommerferien?“

Die Frage rammt sich mir wie eine eiserne Faust in den Magen. Mir ist’s so, als setze mein Herzschlag für einige Takte aus. Nur mit Mühe kann ich den Löffel in der Hand behalten, doch ein Stück Weißbrot klatscht in die Schüssel. Milch spritzt an meine Brillengläser, vernebelt meine Sicht.

„In ... in ... drei ... Wochen“, höre ich mich stammeln und starre wieder in meine Müslischüssel, in der sich das Weißbrot mit Milch vollsaugt.

„Gut, das reicht“, erwidert Hans rauh und erhebt sich.

„Was hast du vor?“, nuschelt Georg.

„Hans?“

Doch dieser ist schon aus der Küche verschwunden. Ich starre in meine Schüssel und frage mich, wie ich das Weißbrot, das wie Erbrochenes in der Milch schwimmt, aus der Schüssel bekommen soll.

„Hans?“

Georg springt so impulsiv auf, daß ich zusammenzucke und wieder spritzt Milch an meine Brillengläser.


VIII


„Du hast Hans eine Frage gestellt ... nicht eine, sondern die Frage und er will ...“, stottert Georg wenig später und fährt sich durchs Haar.

„Hans ...“

Hans ist unmittelbar nach dem Frühstück heimgefahren und langsam spüre ich das Leben in mich zurückkehren, meine, wieder frei atmen zu können. Ich bin erleichtert, daß er weg ist.

Georg streicht mir über den Arm und ich blicke ihm genau in die Augen, sehe aber statt der Ausgeglichenheit nur eine hilflos flackernde Rastlosigkeit. Er beißt sich auf die Unterlippe -, verbeißt sich in sie, wie ein Hund.

„Was?“

Ich packe seine Hände. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren.

„Was?“

„Und er ...“, setzt Georg an, schüttelt dann den Kopf und holt tief Luft.

„Und er will sie dir auf seine Art beantworten. Er findet, daß du es wissen solltest ...“

„Kennst du die Antwort?“, stoße ich hervor.

Er preßt die Lippen fest aufeinander, sein Blick irrt ab. Seinem Nicken -, kaum mehr als eine Ahnung, folgen einige Tränen.

„Sag’s mir“, dränge ich ihn. „Sag’s mir.“

Doch er erhebt sich und schüttelt nur den Kopf.

„Nein, das kann ich nicht. Er will sie dir auf seine Art beantworten.“

Sein hilflos leerer Blick läßt mich würgen. Und wieder ist da diese in mir wühlende Angst. Warum habe ich die Frage nur gestellt und eine Tür, die mich nichts angeht, aufgerissen? Ich habe kein Recht dazu, kein Recht dazu. Ich springe auf. Der Boden schwankt unter meinen Füßen, ich taumle, kralle mich am Tischtuch fest. Es ist mir so, als falle ich, als falle ich tief in einen Abgrund, der Unendlichkeit entgegen. Mein Magen hebt sich und ich renne auf Klo.
Ende



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