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Das Geheimnis der Burgruine - von Candide, 31.10.2009
Kapitel 1


Ein Fremder war er in unserer Mitte. Georg. Gestern angekommen, nun an unserem Kaffeetisch sitzend. Zwischen den vier Tellern flackerten vier rote Kerzen im grünen Kranz.

Viele Jahre war Georg schon nicht mehr hier gewesen. Ich war noch ganz klein, als er gegangen war, kannte ihn eigentlich nur aus den Erzählungen von Vater und Großvater. Er hatte in der Stadt studiert und mit sehr guten Ergebnissen abgeschlossen. Er war Mediziner, hatte kaum Zeit, war viel unterwegs. Auf Kongressen hielt er Vorträge über die neusten Methoden in der Radiologie. Er war erfolgreich.

Nun saß dieser Mann vor uns, leicht über den Tisch gebeugt, den Kopf gesenkt. Zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand ein kleines Stück Stolle. Mit der anderen stützte er sich auf der Fensterbank ab. Die Beine unterm Tisch verknotet. Das hatte ich gesehen, als ich mich bückte, um einen Krümel aufzuheben, denn Großvater haßte Krümel auf dem Boden. Ich sah Georgs Beine, wie sie sich ineinander verflochten. Seltsam, dieser Mann kannte die ganze Welt. Er wußte sich unter Menschen zu bewegen, galt als wortgewandt, clever, charmant. Aber in diesem Augenblick erinnerte er mich an eine nur lose in den Angeln hängende Tür, die bei jedem Windstoß an den morschen Rahmen knallte, wenn man sie nicht richtig schloß. Gleichzeitig aber schien er zu Stein erstarrt. Wie die Hälfte eines Torbogens, die jeden Augenblick zu kippen drohte, da ihr die Gegenseite, ihre Stütze fehlte. Und doch spürte ich, daß gerade dies nie geschehen werde. Daß er sitzen bliebe, so vornüber gebeugt. Zu tief verwurzelt in der Erde. Aber er schien ins Nichts zu starren.

„Nun?“

Großvater, die Hände auf dem Tisch gefaltet, so als wolle er beten, streckte den Rücken durch, wie er's immer tat, wenn ihn etwas bewegte und betrachtete Georg mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Warum?“

Georg schwieg. Vater blinzelte zu ihm hinüber und begann leise mit den Füßen zu scharren. Großvater zischte geräuschvoll durch die Zähne, schüttelte den Kopf. Sofort setzte sich Vater aufrecht hin. Starrte den selbst gebastelten Kranz an. Die vier Kerzen flackerten. Beschienen Rehe und Hirsche, Eicheln und Nüsse. Dazu die Wattewolken auf den Spitzen der Zweige.

„Schneeflocken aus Watte sind Kitsch“, hatte Vater gestern Morgen noch gesagt, doch sein verträumtes Lächeln hatte ihn verraten. Er mochte diesen Kitsch.

Die kleine Futterkrippe im Kranz, auch mit Watte bedeckt, hatte Großvater aus Streichhölzern gebastelt.

„Du und Georg, ihr müßt da fünf oder sechs gewesen sein, als ich sie gemacht habe“, hatte sich Großvater gestern beim Frühstück erinnert.

Vater hatte die Stirn kraus gezogen, dann genickt.

„Ja, es war kurz vor Weihnachten gewesen. Und Mutter hat geschimpft, weil du ihr nicht beim kochen geholfen hast. Wir sollten dich holen gehen. Und du hast im Keller gesessen und diese Krippe in der Hand gehabt. Das war unser schönstes Weihnachtsgeschenk, Vater.“

Großvater hatte gelächelt und mit dem Zeigefinger über die Hölzchen gestrichen.

„Wie die Krippe in unserem Wald.“

Akkurat waren die Hölzchen aneinander geklebt und der Lack sauber verstrichen. Das große Dach bot den Tieren Schutz. Und in der kleinen Traufe lagen Moos und einige klein gehackte Nüsse. Daneben befand sich eine Rinne mit frischem Wasser.

„Perfekt“, hatte Großvater gemurmelt und den Kranz betrachtet. „Aber dort in der Ecke fehlt ...“

„Ja, ich weiß“, hatte Vater ihn unterbrochen und den Kopf gesenkt.

„Was denn? Noch etwas Watte?“, hatte ich gefragt, denn ich sah nicht, was noch fehlen könnte. Für mich befand sich alles an seinem Platz. Die Krippe tief im Winterwald. Und die alte Burgruine wachte auf ihrem Bergfried über das weihnachtliche Land.

„Ja, Dan, tu noch etwas Watte hinzu“, hatte Vater erwidert.

Großvater aber hatte den Kopf geschüttelt, war vom Frühstückstisch aufgestanden, in seinen Augen ein seltsamer Schimmer.

„Vielleicht denkt er dran … Ach, unmöglich“, winkte er ab.

„Na ja, packen wir's, bald kommt hoher Besuch aus der Stadt.“



Kapitel 2


Und Georg war gekommen. Gestern Abend hatte er in der Haustür gestanden. Früher als erwartet und ohne zu klingeln. Schnee im grauen Haar und mit roten Wangen. Auf dem Rücken einen Rucksack, in der einen Hand einen Koffer, über der anderen Schulter eine Umhängetasche. Sein Atem ging schnell, als er auf die Schwelle getreten und seinem Vater die Hand entgegenstreckte.

„Willst du hier einziehen?“, hatte ihn Großvater statt einer Begrüßung gefragt, eine Augenbraue hochgezogen und die Arme vor der Brust verschränkt. Kleiner als sein Sohn, war er ihm entgegengetreten.

„Ich bin müde. Die Reise war lang. Ich möchte nur ins Bett.“

„Na, denn mach mal“, hatte Großvater erwidert, war aber nicht zurückgewichen.

Georg, noch immer mit seinen Sachen bepackt, hatte die Hand zurückgezogen, seine Brille abgesetzt und die Augen geschlossen. Er stand breitbeinig in der Tür, schnaufte wie ein Pferd, das entschlossen war, dem kalten Wetter und körperlicher Anstrengung zu trotzen.

„Komm, gib mir deine Sachen. Geh hoch. Weißt ja, wo das Gästezimmer ist“, hatte Vater eingeworfen und sich an Großvater vorbei gedrängt.

„Na, na“, hatte dieser barsch hervor gestoßen, war aber zur Seite gewichen.

„Gästezimmer? Warum nicht in unser Zimmer?“, hatte Georg gemurmelt, die Hand zur Faust geballt und war über die Schwelle in den Flur getreten.

„Ich habe umgebaut“, hatte Vater schulterzuckend erwidert.

„Ach so.“

Georg hatte die Arme vor Brust verschränkt und den Kopf gesenkt.

Groß und kräftig stand er da. Der tauende Schnee tropfte von seiner Kleidung auf den Dielenboden. Er fuhr sich durchs Haar, sah sich um, fing meinen Blick auf. Braun waren seine Augen. Matt glänzend zugleich und rot gerändert. Ich deutete ein Nicken an und spürte seine Berührung an der Wange. Sie kam so plötzlich, wie ein kalter Luftzug, der durchs geöffnete Fenster in den Raum drang. Ich ging einen Schritt zurück, blickte ihn von der Seite an.

„Warum ...?“, stieß ich hervor.

Er zuckte mit den Schultern, zwinkerte.

„Warum nicht?“

„Tatsch den Jungen nicht an. Der mag das nicht“, blaffte Großvater und stellte sich vor mich.

Georg hatte ihm in die Augen geblickt. Die Lippen schmal wie ein Strich und die Hände zu Fäusten geballt. Sein Atem ging heftig.

„Komm, gib mir deine Sachen. Schnell.“

Vater hatte die Hand nach dem Koffer ausgestreckt. Georg schob den Unterkiefer vor, senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

„Laß mal.“

Ohne sich umzudrehen war er an uns vorbei gegangen und die Treppe hinaufgestiegen bis unters Dach. Die Stufen ächzten unter der Last seiner Schritte. Dann klappte die Tür. Er war im Gästezimmer verschwunden.



Kapitel 3


Am Morgen war Georg nicht zum Frühstück erschienen. Auch nicht zum Mittagessen.

„Vielleicht ist er in den Wald gegangen. Zur Burgruine? Würde mich nicht wundern“, hatte mir Vater auf meine Frage geantwortet.

Georg kam zum Kaffeetrinken. Wie am Vorabend stand er ohne zu klingeln auf der Schwelle und wartete an den Türrahmen gelehnt und die Hände vor der Brust verschränkt. Vater kam. Ich mit ihm.

„Warum stehst du da an der Tür, so als wollest du uns beobachten? Komm rein.“
Georg stieß sich vom Türrahmen ab und trat schweigend in den Flur. Wieder tropfte Schnee von seinen Kleidern auf den Boden. Seine Wangen waren rot, die Hände ebenfalls, denn er hatte keine Handschuhe bei sich. Die dunkle Jacke war leicht geöffnet. Der Wollschal mit Eiskristallen verklebt. Das graue Haar hing ihm in die Stirn, bis hinab zur Brille, die er sich auf die Nasenspitze geschoben hatte. Er befeuchtete sich die Lippen, sah sich um, so als müsse er sich sammeln, sich bewußt machen, daß er zu Hause war. Und ich konnte ihn verstehen. Wer so lange nicht mehr in der Heimat gewesen war, mußte sich wohl in der Fremde eher heimisch fühlen als in seinem Elternhaus, bei seiner Familie.

„Komm in die Küche.“

Georg nickte, ging an mir vorbei. Wieder streckte er die Hand nach mir aus. Ich wich unwillkürlich zurück.

„Du sollst doch den Jungen nicht antatschen“, rief Großvater.
Georg zuckte mit den Schultern. Seine Lippen kräuselten sich, doch er schwieg. Ohne sich umzusehen, betrat er sie Küche. Nun saß er hier mit uns am Kaffeetisch. Das Stück Stolle zwischen Daumen und Zeigefinger, wahrscheinlich seine erste Mahlzeit an diesem Tag.

„Warum, will ich wissen.“

Wieder Großvater. Vater neigte den Kopf zur Seite. Sein Blick huschte zu Großvater, der mit zur Faust geballter Hand am Kopf des Tisches saß. Er schob die Unterlippe vor, öffnete den Mund.

„Junge bitte.“

Seine Augen blitzten, dunkel, undurchdringlich. Sie schienen das Licht der Kerzen aufzusaugen.

„Warum?“

Die Worte kamen gedehnt, so als spräche er mit einem schwerhörigen Menschen, oder einem kleinen Kind. Mir gegenüber hatte er diesen Ton oft angeschlagen, wenn ihn etwas störte.

Vater befeuchtete sich die Lippen, öffnete den Mund, holte Luft, setzte an.

„Laß ...“

Es war Advent. Der Vierte. Wenige Tage vor Weihnachten.

„Warum, Junge?“

„Laß ihn doch...“

„Michael, halt du den Mund“, blaffte Großvater und es hörte sich so an, als zerberste Holz.

Vater schnaubte leise und steckte sich hastig ein Stück Stolle in den Mund, kaute, schluckte schwer, gerade so als müsse er würgen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und er drückte sie leicht. Ich spürte Vaters Wärme, seinen weichen Daumen, der über meinen Handrücken glitt. Georg sah zu uns hinüber. Als er meinen Blick auffing, senkte er den Kopf. Ich wußte, daß er diese Berührung beobachtet hatte, sah, daß er die Augen nun schloß und einige Male tief Luft holte. Was ging in ihm vor?

„Warum, will ich wissen? Warum all die Jahre nicht.“

Georg schwieg. Die Augen noch immer geschlossen, gab er sich jedoch einen Ruck, setzte sich aufrecht hin. Seine Lippen kräuselten sich. Er wirkte auf mich wie eine Mauer. An einigen Stellen versehrt und der Witterung doch trotzend. Aus großen Feldsteinen geschaffen. Wie die Burgruine in unserem Wald, die in der Dämmerung wie eine in einen dunklen Mantel gekleidete Gestalt wirkte.

„Totes Gemäuer“, hatte Opa sie immer wieder genannt, als ich klein war. „Es gehört abgerissen.“

Vater aber hatte den Kopf geschüttelt.

„Sie ist nicht tot. Sie birgt ein Geheimnis.“

„Was? Kennst du's?“, hatte ich mich damals eingeschaltet.

Vater hatte genickt.

„Erzähl’s mir.“

„Das kann ich nicht. Das muß jeder für sich selbst herausfinden. Geh hin und bitte sie, dir von sich zu erzählen.“

„Aber Mauern haben doch keinen Mund, oder?“

Vater hatte mir über den Kopf gestrichen.

„Doch, wenn du dein Ohr an eine ihrer Mauern legst, dann ...“

„Spinnst du, dem Jungen solchen Mist aufzutischen?“, hatte Großvater gebrummt, mir einen Klaps gegeben und Vater angefunkelt.

„Und außerdem ist er ja noch viel zu klein, allein zu gehen. Wenn überhaupt, dann gehe ich mit ihm.“

Vater aber hatte den Kopf geschüttelt. „Georg und ich waren in seinem Alter auch das erste Mal allein dort. Erinnerst du dich?“

„Das ist was anderes. Ihr ward zu zweit.“

„Ich will aber allein.“

„Geh“, hatte Vater gelächelt und mir einen Klaps auf die Schulter gegeben.

Ich war gegangen, nicht wissend, was mich erwarten würde. Was würde mir die Ruine erzählen? Ich hatte das feuchtkalte Gemäuer an der Wange gespürt. Die Dämmerung war bereits eingebrochen. Mich hatte es geschaudert, doch ich hatte mich überwunden und die Augen geschlossen, den Wind flüstern, die Vögel zwitschern gehört. Und gewartet, daß diese alte Mauer tatsächlich ihren Mund öffnen und zu sprechen beginnen würde. Nichts. Nur die Geräusche des Waldes. Das Knacken eines Zweiges. Und ab und an das ferne Brummen eines Autos auf der Landstraße. Hatte Großvater doch Recht? War alles nur ein Hirngespinst meines Vaters? Ich blinzelte, sah grauen Stein dicht vor meiner Nase. Vereinzelt blitzten Kiesel im letzten Tageslicht auf. Wie kleine Sternchen am Himmel. Ich berührte sie, strich über sie. Und ich spürte gleichzeitig die unzählig vielen Unebenheiten im Gemäuer. Die Kälte des Steins. Aber ebenso meinte ich, das Funkeln der winzigen Kristalle erfühlen zu können. Einbildung? Vielleicht war ich schon zu müde? Über mir hing ein Gespinst, einem dunklen Schleier gleich. Und ich streckte den Finger nach ihm aus, spürte, wie's sich augenblicklich um meine Hand schlang. Sacht und kalt zugleich. Ich zuckte zurück und versuchte die Fäden abzustreifen. Doch es gelang mir nicht. Ich fühlte mich gefangen. Gefangen von der Mauer.

„Du“, hatte ich geflüstert, geschluckt und sie angetippt. „Warum läßt du mich nicht los und sprichst einfach mit mir? Ich möchte doch nur dein Geheimnis erfahren.“

Ich hatte lange gewartet. Sie aber hatte nicht zu sprechen begonnen. So war ich enttäuscht nach Hause gegangen, an der Hand noch immer diese hauchzarten Fäden spürend.

Eine Mauer hatte keinen Mund, da hatte Großvater vollkommen Recht. Mein Vater war ein Träumer. Ich war ihm damals nicht böse gewesen, nur enttäuscht, daß er mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Nun aber sah ich diesen Fremden vor mir und wieder erschien die Mauer vor meinem geistigen Auge. Aufrecht dasitzend und mit geschlossenen Augen. Ich schnappte nach Luft. Was, wenn die Mauer doch zu mir gesprochen und ich sie nur nicht verstanden hatte? Eben weil ich zu sehr auf das gesprochene Worte gehofft und andere Äußerungen ausgeblendet hatte? Für mich stand in diesem Augenblick fest, daß diese Mauer ein Geheimnis barg, denn sie hatte schon soviel erlebt. Mein Vater hatte einst gesagt, ich müsse mein Ohr an die Mauer legen, um ihr lauschen zu können. Vielleicht hatte ich das Hinhören noch nicht gelernt?



Kapitel 4


Die Kerzen im Kranz flackerten und warfen in der heraufziehenden Dämmerung scharfkantige Schatten auf die mit Glocken und Tannengrün bestickte Tischdecke. Sie war eine Erinnerung an meine verstorbene Großmutter.

„Ja, sprich doch endlich.“

Großvater, nun mit den Händen auf die Tischplatte gestützt, erhob sich langsam, verharrte in leicht geduckter Haltung und starrte Georg mit zu Schlitzen verengten Augen an. Doch Georg tat nicht dergleichen. Saß auf der Fensterbank, vor uns, an seinem alten Platz. Das Stück Stolle noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger. Den Arm leicht erhoben. In der Bewegung erstarrt, so als habe er sich auf den Weg gemacht, um sein Ziel zu erreichen und dabei doch wissend, daß er ihm niemals näher kommen würde, weil er sich uns nicht mitteilen konnte. Aber vielleicht sprach er gerade durch sein Schweigen. Oder, vielleicht hatte er eine ganz andere Sprache gewählt. Nur welche? Und was wollte er sagen? Was war sein Geheimnis? Ich betrachtete ihn. Er hatte die Augen noch immer geschlossen, wirkte in sich gekehrt, gerade so, als kümmere ihn all das nicht, was um ihn her geschah. Abwesend und sich der Konsequenzen seiner Träumereien doch vollkommen bewußt. Schon als kleiner Junge hatte Georg auf der Fensterbank gesessen. Im Frühling und Sommer stets einen leichten Luftzug im Rücken spürend und im Winter in eine Decke gehüllt, sich schützend vor der eindringenden Kälte. Dennoch zitternd. Er war sehr oft krank gewesen und hatte das Bett hüten müssen. Wie sehr hatte er sich vor dem Lebertran geekelt und ihn trotzdem mit einem Schulterzucken eingenommen.

„Er mochte eben den Duft des Frühlings und im Winter war er der erste, der den Schnee begrüßte. Manchmal rannte er nur in die Decke gehüllt hinaus“, hatte Vater erzählt.

„Er liebte den Winter. Wenn die Flocken vom Himmel schwebten und sich auf unserer Schaukel niederließen, verglich er dies mit einer zärtlichen Berührung eines anderen Menschen. Wie er darauf kam? Vielleicht, weil er sein Gesicht gen Himmel reckte und die Flocken auf den Wangen und der Stirn spürte?“

Vater hatte gelächelt.

„Er liebte den Anblick unseres Hauses. Wie's sich unter der dünnen weißen Decke barg und an den Erdboden schmiegte. Ein kleines Tier, das Winterschlaf halten wollten. Und doch war Leben in ihm. Die durch Kerzen erleuchteten Fenster. Und in der Stube der Weihnachtsbaum. Das Haus von außen zu betrachten, liebte er ebenso sehr, wie auf der Fensterbank in seine Decke gekuschelt zu sitzen und in die Winterlandschaft zu blicken.“

„Laß doch die Vergangenheit ruhen“, hatte Großvater eingeworfen.

„Der Gedanke an sie schmerzt zu sehr.“

Vater hatte den Kopf gesenkt.

Jetzt, da die Fenster abgedichtet waren, bedurfte es dieser Decke nicht mehr. Aber sie – rot und mit Schneemännern bestickt – lag wieder an ihrem Platz. Ein Andenken an meine verstorbene Großmutter. Großvater hatte sie aus dem Schrank geholt, als er gehört hatte, daß Georg kommen wolle.

„Warum?“

Opas Bariton kratzte in meinen Ohren wie eine quietschende Tür. Auch Georg zuckte, schwieg aber. Die Decke neben ihm, glatt gestrichen und sauber, berührte er leicht, nur einen Augenblick, ehe er sich erhob und den Raum verließ. Ein Schneemann, so schien's, lächelte ihm nach.

Großvater schüttelte den Kopf.

„Es muß die Stadt sein, die ihn so verändert hat. Daß er so gar nicht mehr mit uns sprechen möchte. Sicher sind wir ihm zu kleingeistig. Zu ...“

Vater zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht kann er aber auch nicht mit uns sprechen.“

„Eines steht jedenfalls fest. So wie er sich verhält, hat er sicher nicht dran gedacht, es mitzubringen. Niemals“, stieß Großvater rauh hervor, zog die Luft geräuschvoll durch die Zähne, hieb mit der Faust einige Mal leicht auf den Tisch und erhob sich ruckartig. In seinen Augen ein Schimmer, scharfkantig, wie die Schatten der vier Kerzen auf der Weihnachtsdecke.



Kapitel 5


In der Nacht erwachte ich von einem dringenden Bedürfnis getrieben. Ich schlüpfte aus dem Bett, öffnete meine Tür, huschte hinaus. Der dunkle Flur lag vor mir wie ein langer enger Schlauch. Doch ich machte das Licht nie an, denn ich wußte, wohin ich zu treten hatte. Selbst mit geschlossenen Augen. Ich spielte oft Blinder, mochte das Gefühl zu schweben und meinen Traum weiterzuträumen. Nicht vollkommen erwachen zu müssen und mich doch auf die Sehkraft meiner Hände zu konzentrieren. Ich ertastete das Geländer links neben mir. Hier begann die frisch gebohnerte Treppe, die zum Gästezimmer auf dem Dachboden führte. Und rechts lagen die Zimmer von Vater und Großvater. Vor mir die WC-Tür. Alles war ruhig. Kein Knacken der Dielen. Auch nicht das Quietschen der Federn von Vaters Bett. Oder Opas Schnarchen. Nichts. Selbst das Haus schien ruhig zu schlafen. Wie ein kleines Kind barg es sich in der weißen Decke, die sich über ihn breitete. Für einen Augenblick meinte ich sogar seine tiefen Atemzüge zu hören. Ich tastete nach der Klinke.

„Daniel, bist du's?“

Ich zuckte zurück, riß die Augen auf. Vor mir eine dunkle Gestalt. Riesenhaft und mächtig stand sie da. Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte, wie sich ein Schrei meiner Kehle entrinnen wollte. Wie ich mir auf die Unterlippe biß, nach dem Treppengeländer angelte. Ich sah eine Hand, die sich aus den Schatten schälte und sich mir langsam näherte.

„Daniel, du schläfst ja mit geöffneten Augen.“

Ich hielt die Luft an. Tonlos die Stimme, wie von einem Geist stammend.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin's doch nur.“

Wieder diese Berührung. Ich zuckte, doch die rauhe Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fühlte mich gefangen.

„Wer?“

„Wach auf und sieh mich an.“

Ich schluckte, zwinkerte einige Male. Vor mir diese Gestalt, dunkel, massig, hob sich von ihrer Umgebung kaum ab.

„Was machst du hier?“

Ein leises Schnauben folgte.

„Auf's Klo gehen, was sonst?“

„Warum bist du hergekommen?“

Mein Herz tobte und ich hörte das Blut in meinem Kopf rauschen. Es war noch immer der Schreck.

„Wie meinst du?“

„Warum bist du hergekommen, wenn du doch nicht mit uns sprichst? Vater und Großvater machen sich viele Gedanken um dich.“

„Daniel … Dan ... Das ist jetzt vollkommen egal.“

Er stockte.

„Ich kann deine Augen nicht sehen und ich kenne dich nicht, aber du mir vertrauter, als …“

Er unterbrach sich und sog die Luft geräuschvoll ein.
„Ich spüre deinen Körper. Deine Wärme. Spüre, wie du atmest. Du lebst.“

Ehe ich's mich versah, zog er mich in seine Arme und drückte mich an sich. Der fremde Körper, mir ganz nah. Er war mein Onkel. Onkel Georg. Aber ich kannte ihn nur aus Erzählungen und von Bildern her. Ein Fremder. Nun lag meine Wange an seiner Brust. Ich hörte sein Herz unruhig schlagen.

„Was soll das?“

Er schwieg und strich mir über den Kopf.

„Warum tust du ...?“

„Dan – mir hat es so gut gefallen, wie du deinen Vater vorhin am Kaffeetisch berührt hast und wie er darauf eingegangen ist. Ihr seid miteinander verbunden.“

„Was redest du da?“

„Ich fühle mich manchmal so einsam zwischen all diesen Menschen, die ich täglich sehe und mit denen ich sprechen muß.“

„Was …?“

Ich unterbrach mich und er antwortete nicht. Wieder trat mir die Mauer, diese alte, von der Witterung gezeichnete Mauer unserer Burgruine vor's geistige Auge. Ich erinnerte mich daran, wie ich mein Ohr an sie gelegt und ihren kühlen, rauhen Stein gespürt hatte. Nun stand ich hier mit Georg. Ich in seinen Armen. In den Armen eines Fremden. Wir schwiegen, aber ich spürte, daß wir miteinander redeten. Ganz ohne Worte. Ich legte meine Arme um seinen Bauch. Einfach so. Und schloß die Augen, spürte, wie er mich enger an sich drückte und tief Luft holte.

„Ich bin hier nur zu Gast.“



Kapitel 6


Am nächsten Morgen schien alles ein Traum gewesen zu sein. Diese Umarmung in der Nacht vor dem WC. Unglaublich. Und doch spürte ich Georgs Wärme noch immer an meinem Körper und seine Hand auf meinem Kopf. Sein Lächeln in der Dunkelheit, als wir uns trennten.

„Dan, es ist etwas passiert. Komm sofort runter.“

Vater stand in meiner Tür. Er zitterte. Ich sprang aus dem Bett. Weg war der Gedanke, weg die Wärme.

„Was?“, keuchte ich.

„Komm.“

Er packte mich am Arm, schob mich vor sich her. Gemeinsam rannten wir die schmale Treppe hinab. Vater lenkte mich zur Küche, schob mich hinein. Großvater stand vor dem Tisch, Tränen in den Augen. Neben ihm der Kranz. Vier Kerzen entzündet. Sie flackerten.

„Was?“, stieß ich hervor und spürte, wie sich mein Herz aufbäumte.

„Er hat tatsächlich daran gedacht. Er hat es wirklich mitgebracht.“

„Was?“

„Sieh.“

Vater schob mich zum Tisch, dem Kranz entgegen. Verwirrt schüttelte ich den Kopf, zwinkerte. Auf dem leeren Platz von gestern stand ein kleines Haus, das sich an den Winterwald schmiegte. Aber. Mein Herz begann zu flattern und ich verkrallte mich in die Tischplatte. Das war ja eine Nachbildung unser Hauses. Aus Streichhölzern gefertigt, ebenso wie die Krippe und die Ruine.

„Er muß es in der Nacht dazu gestellt haben, oder heute am frühen Morgen“, schniefte Großvater.

„Unser Haus. Ich habe es damals zusammen mit der Krippe und der Burgruine gefertigt, um unsere Heimat nachzubilden. Und als Georg vor vielen Jahren ging, nahm er dieses Haus mit sich. Er sagte, wenn er einst zurückkehren würde, brächte er's wieder mit. Als Zeichen, daß wieder alles in Ordnung ist.“

„Was in Ordnung?“

Großvater schluckte und zog ein Taschentuch hervor.

„Nichts ist in Ordnung. Er ist heute früh abgefahren. Ich verstehe nicht, warum. Es gäbe doch soviel zu besprechen.“

Ich preßte die Lippen aufeinander, verschränkte die Arme vor der Brust. Das Geheimnis der Burgruine kam mir wieder in den Sinn. Lag es nicht in ihrem Schweigen und in unserer Fähigkeit, diesem Schweigen zuzuhören und die tonlos hervorgestoßenen Worte zu verstehen? Und war's nicht so, daß Georg mit seiner Geste zu uns gesprochen hatte? Vielleicht gab's für ihn nichts mehr zu bereden und er war deswegen gegangen? Vielleicht war für ihn alles gut? Vielleicht hatte er uns, seine Familie wiedergefunden und nahm uns nun mit sich in die Fremde, die Einsamkeit der Großstadt? Das sagte ich mir und konnte es doch nicht verhindern, daß auch mir die Tränen kamen. Ich sah zu meinem Vater auf, denn er hatte Recht. Das Geheimnis der Burgruine konnte nur jeder für sich selbst ergründen. Es war Weihnachten, das Fest der Familie und Georg war mein Onkel. Kein Fremder und kein Gast.


ENDE




©2009 by Candide. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

Kommentare


Von Candide
Am 04.11.2009 um 12:30 Uhr

so, damit nicht gleich vier kommentare hier stehen, von denen zwei die meinen sind, bedanke ich mich für eure mühe, die geschichte gelesen und besprochen zu haben, in einem. hoffentlich fühlt ihr euch nicht auf den 'schlüps' getreten, doch wie bereits gesagt ... na, ihr wisst schon.

@mangaengel, danke für deine einwände. ich werde die story dahingehend nochmals überprüfen. hüpfer und sprünge sind meine leidenschaft, ich selbst mag sie in fremden geschichten auch, nur zu heftig sollten sie nicht sein. zum schluss stellt man sich dann nur noch die leicht verwirrte frage: und welche farbe hatte nun der faden? ;-)

@abatyron ... welch name. woher stammt er? :-)
die geschichte vom verlorenen sohn hat mich schon immer fasziniert. frag mich nicht, warum. na ja, selbst in der familie kann man sich fremd sein und (wieder-)finden. und-so platt wie es auch klingen mag-weihnachten ist dafür ein guter zeitpunkt.

in diesem sinne lg,

candide


Von Aabatyron
Am 01.11.2009 um 19:45 Uhr

Liest sich richtig gut! Das Geheimnis mit der Burg im Hintergrund macht die sehr gut formulierte "Weihnachtsstimmung" auch noch sehr spannend. Tolle Idee, wie der Onkel langsam vom Fremden zum Familienmitglied "wechselt".


Von MangaEngel
Am 01.11.2009 um 13:58 Uhr

Süße Geschichte, nur zwei Sachen:
Erstens.
Wieso die Kapitel? Sie sind alle für sich so wahnsinnig kurz, dass ein simpler Absatz zum Abtrennen gereicht hätte.

Zweitens.
Du springst manchmal, so dass man gar nicht weiß, wer da redet. Redet der Vater? Der Junge? Der Onkel? Wird es gerade gesagt oder ist es eine Erinnerung?
Ich war bei der Beschreibung der Jugend des Onkels ziemlich verwirrt, wer was wann gesagt hat und hatte.

Aber an sich eine sehr schöne Geschichte ^^

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