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Verletzt - von Jurewa, 08.08.2009
Hast du gesehen? Schafgarbe! Ganz ordinäre Schafgarbe wächst hier!" rief Maren Holger zu.
Er lief vor Maren und sie sah, wie sich die Schweißflecken auf seinem Shirt so schnell ausbreiteten wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt. Sie waren gegen neun Uhr bei fast dreißig Grad zu einer Wanderung von ihrem Camp aus in die Drakensberge aufgebrochen.
Die Drakensberge von Natal in Südafrika bilden den dramatischsten Abschnitt der Abbruchkante vom südafrikanischen Hochland zum Tiefland. Die Fahrt zu ihrem, am Fuße des mächtigen Cathredal Peak liegenden Camp, führte sie durch eine Landschaft, dessen Fremdheit sie begeisterte.
Saftige Wiesen, schroffe Felswände und bizarre Bergformationen verwöhnten das Auge und ließ einen fast vergessen, dass es in den vielen kleinen Dörfern Armut gab. Selbst die am Straßenrand winkenden Kinder, die ihre Hände aufhieltem, rückten hinter das Panorama, das sich ihnen bot.

Der erste Teil des Wanderweges, der steil nach oben führte, endete an einer Wegkreuzung. Rechts führte der Weg zu dem Berg 'Rainbow Gorge' links zum 'Tryme Hill'. Die Namen sagten ihnen beide nichts.
"Und? Wohin jetzt? Sag du oder besser, wir losen! Wenn du den Stein erwischst, geht es zum Rainbow Gorge!", legte Maren kurzerhand fest.
Sie bückte sich, nahm einen kleinen Stein, versteckte die Hände kurz auf den Rücken, um sie dann überkreuz vorzustrecken. Holger zog den Stein und sie liefen nach rechts. Der Weg wurde unebener, die ersten Sträucher und Bäume wuchsen am Wegesrand und teils aus den Felsen heraus.

Holger blieb etwas zurück, da er, wie immer, fast jeden Stein fotografierte. Bei früheren Reisen hatte sich Maren darüber aufgeregt. Nun, da mehrere seiner Bilder ausgezeichnet und veröffentlicht waren, lief sie einfach weiter, ohne sich um ihn zu kümmern. Ein lauter Schrei ließ Holger schneller laufen.
"Das musst du gesehen haben! Eine echte Protea und dann noch in allen Wachstumsphasen! Knospe, halb aufgeblüht und als volle Blüte. Ist das nicht toll? Ich glaub, heute ist unser Glückstag!", rief Maren und dann lachten beide laut auf. Den Satz hatten sie aufgrund der vielen Erlebnisse auf dieser Reise so oft gesagt, dass er zu ihrem Slogan geworden war.
Diesem immergrünen Strauch mit den auffälligen Blüten waren sie des öfteren begegnet, aber die Farbe und Schönheit dieser roten Blüten, die wie ein zapfenartiges Köpfchen aussahen, überraschte sie. In einer der Blüten hatten es sich drei Spinnen gemütlich gemacht. Fasziniert beobachteten sie die Tiere.
Der Weg veränderte sich, wurde steiniger, war teilweise versperrt mit großen Felsen und künstlich angebrachten Leitern aus Ästen. Sie kletterten über Baumstümpfe, zwängten sich durch Felsspalten und hörten im Hintergrund das Wasser rauschen. Es waren kleine Gebirgsflüsse, die breiter und reißender wurden, sich aber später wieder verengten.
Immer wieder blieben sie stehen, um die Berge in der Ferne aber auch die vielen Orchideenarten zu bewundern.

"Findest du nicht auch, dass dieser Berg aussieht wie ein dicker Mensch ohne Hals aber mit großer Nase?", fragte Holger und zeigte Richtung Norden. Man musste sehr viel Fantasie haben, um in diesem Felsen einen Menschen zu erkennen.
"Du meinst wie du?", neckte Maren ihn.
"Wie ich? Findest du mich dick?"
"Schlank bist du jedenfalls nicht!"
"Bin ich jetzt zu dick oder nicht?", wiederholte Holger die Frage etwas unwirsch.
"Musst du doch selber wissen, ob du zu dick bist, ist das wichtig?", antwortete sie und wunderte sich über seinen Ausbruch.
Sie fand ihren Mann nicht zu dick, sicher war er voller geworden, aber nicht so, dass man sich Gedanken machen musste. Wieso legte er plötzlich Wert auf sein Äußeres? Aber es stimmte, stellte sie in Gedanken fest, seit er in eine andere Abteilung versetzt worden war und viel Kundenkontakt hatte, war ihm seine Figur wichtig. Sollte eine Frau dahinterstecken? Sie ertappte sich, dass sie keine Lust hatte, jetzt darüber nachzudenken, sie hatte vielmehr Lust zu baden.

An seiner Haltung sah sie, dass er noch verstimmt war.
"Hey, lach mal wieder! Wollen wir hier hinuntersteigen und baden!", rief sie ihm zu.
"Hier? Nee, viel zu steil! Lass uns noch ein Stück weiterlaufen, es gibt bestimmt noch eine bessere Stelle zum Baden."
Sie waren noch keinem Menschen begegnet und hatten das Gefühl, als wären sie die einzigen in diesem Gebirge. Es wurde heißer und die Kleidung klebte ihnen völlig durchgeschwitzt am Körper. Auf den Handflächen und den Armen war ein ständiger Schweißfilm.
Das Blätterdach wurde dichter, nur vereinzelt drang ein Sonnenstrahl durch, die Schwüle war fast unerträglich. Etwa zehn Meter tiefer erblickten sie einen kleinen Wasserfall.
"Wollen wir jetzt?", fragte Maren und zeigte nach unten.
Sie kletterten zu dem Fluss hinunter, hielten sich dabei an Wurzeln und herabhängenden Ästen fest.
"Wir könnten gleich ein Picknick einlegen, ich habe schon wieder Hunger!"
"Wann hast du denn mal keinen Hunger? Es ist gerade zwei Stunden her, dass wir gefrühstückt haben!", wunderte sich Holger. Für das, was Maren aß, müsste sie dreimal so dick sein.
Sie zogen sich nackt aus, da sie keine Badesachen dabei hatten, legten sich unter den Wasserfall, bespritzten sich gegenseitig und plantschten wie Kinder.
Der Temperaturunterschied zu der heißen Luft war enorm und ließ sie etwas frösteln. Holger schaute in das glückliche Gesicht seiner Frau und fand, dass sie sich wenig verändert hatte. Immer noch umspielte ein jungenhaftes Lächeln ihren Mund, um urplötzlich in ein heftiges Lachen überzugehen. Ihre Haut war glatt und braun. Am indischen Ozean hatte sie sich vor einer Woche einen Sonnenbrand geholt, die Haut schälte sich nun an einigen Stellen.

Er umfasste ihre Brüste, aber sie rollte zur Seite weg und kreischte laut auf.
"Nicht so laut! Meine Ohren! Du kreischst wie 'ne Jungfrau, die vergewaltigt wird!", japste Holger und griff wieder nach ihr.
Sie setzten sich auf einen großen Stein, ließen sich von der Sonne trocknen und aßen dabei ihre Mangos, die sie am Vortag gekauft hatten. Maren schälte sie mit ihrem Taschenmesser und fütterte Holger. Der Saft lief an ihren Armen entlang und Holger leckte ihn ab.
"Hör auf, das kitzelt!", lachte sie und versuchte, ihn abzuschütteln.
Er drückte sie kurz an sich und gab ihr die einzelnen Kleidungsstücke zum Anziehen.
Sie kletterten auf den Weg zurück. Dabei rutschte Holger ab und fiel zwei Meter tief. Er rappelte sich sofort wieder hoch und meinte auf ihren fragenden Blick:"Nein, nein, alles okay! Wir brauchen nicht umkehren. Lass uns noch weiterlaufen oder schaffst du es nicht mehr?"

Der Weg wurde zunehmend schwieriger. Maren zweifelte inzwischen, ob dies der Wanderweg sei, weil sie so oft das Flussbett überqueren mussten. Schließlich gelangten sie an eine Stelle, wo links und rechts hohe Felsen standen. In der Mitte war der Fluss.
"Du kannst gerne alleine weiterlaufen, für mich ist jetzt Schluss! Wir sind jetzt über drei Stunden vom Camp entfernt und es sind bestimmt weit über dreißig Grad! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das noch der Wanderweg ist. Oder willst du dich die Felsen hochhangeln?", fragte sie etwas spitz.
„Na gut, nun denn.“ Er zuckte enttäuscht die Schultern.

Beim erneuten Überqueren des Flusses sprang Maren von einem Stein auf den nächsten und übersah dabei, dass der abgestorbene Baum, der dort stand, auch unten Äste hat. Sie sprang mit voller Wucht in einen Ast, der sich in ihr linkes Bein bohrte, aber nicht abbrach.
Eine Blutfontäne schoss heraus. Maren wurde vor Schmerz ganz blass, konnte nicht auftreten. Panik zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Wie zurück?
Verbandszeug hatten sie keines mit. In Holgers Fototasche fand sich lediglich ein kleines Pflaster, das Blut lief unter dem Pflaster am Bein hinunter. Und nun?

"Ich trage dich zurück!", sagte Holger und nahm sie in die Arme.
Maren starrte ihn ungläubig an, wie er da so vor ihr stand mit seinem bedeppertem Gesicht.
"Wie soll ich das schaffen? Wie soll ich zurückkommen?", schluchzte sie.
Ihr Bein tat ihr rasend weh und die Hilflosigkeit hatte deutliche Namen bekommen: über drei Stunden vom rettenden Camp entfernt, im Niemandsland in dieser subtropischen, unerträglichen Hitze. Sie versuchte in einem Anflug von Tapferkeit erneut aufzutreten und zuckte sofort vor Schmerz zusammen.

"Hast du dein Handy mit?", fragte er.
"Handy?", schluchzte sie, "Nein! Ich habe nie ein Handy mit, das weißt du doch!"
"Gut, du bleibst hier und ich hole Hilfe, ja?", fragte er.
Sie hörte die Unsicherheit in seiner Stimme. Wie sollte das gehen? Wer sollte sie die steilen Wege hinauf- bzw. hinuntertragen? Bis er wiederkäme, wäre es längst dunkel.
Sie stöhnte auf und probierte erneut, aufzutreten. Wenn sie seitlich lief und den Fuß schräg stellte, war der Schmerz zu ertragenSie mussten laufen, es gab für sie keine andere Möglichkeit, zurückzukommen.

Und sie liefen los.
Der Weg erschien Maren unendlich weit und unbekannt.
"Ist das wirklich der richtige Weg? Ich kann mich nicht erinnern, dass dieser dicke Baumstamm quer über dem Weg lag!", jammerte sie.
Sie versuchte über den Stamm zu klettern, Holger reichte ihr seine Hand, rutschte dabei selber ab und zog sie mit auf den Boden.
"Bist du bescheuert?", schrie sie ihn an. Der Schmerz war fast unerträglich.
"Du bist ungerecht! Komm, lass uns eine Pause machen!", bat er sie. Sie setzten sich auf den Baumstumpf, tranken Wasser und aßen die restlichen Mangos.
Der erste Schritt nach der Pause war die Hölle, ihr weißer Strumpf war inzwischen rot vom Blut.
Immer wieder fragte Holger, wie es ihr gehe.
"Halt doch endlich den Mund und lass mich einfach in Ruhe! Du siehst doch, wie es mir geht!", schrie sie ihn nach dem dritten Mal an.
Er reichte ihr ab jetzt nur noch stumm die Hand, blickte sie fast vorwurfsvoll an. Sie merkte, wie ungerecht sie war, dass sie ihn verletzt hatte, kam aber nicht dagegen an. War es gerecht, dass sie diese Schmerzen hatte? Warum mussten sie diesen Weg gehen? Sie war wütend.
Die Hitze empfand sie wie 80 Grad Celsius!
Große Probleme bereiteten ihr die feuchten und abschüssigen Stellen, da sie die Zehen nicht krümmen konnte. Sie knickte immer wieder um. Kurzerhand rutschte sie diese Stellen hinunter oder kroch auf allen Vieren.
Pausen legten sie nicht mehr ein.
"Lass uns einfach laufen, ohne Pause. Wenn ich nach einer Pause den Fuß aufsetze, schmerzt es doppelt so stark!", wimmerte sie.
Von der Mango hatten sich einige Fasern zwischen ihren Zähnen festgesetzt und
Maren versuchte immerzu, die Fasern mit der Zungenspitze zu entfernen, schaffte es nicht. Sie legte ihre ganze Konzentration auf die Zungenspitze und die Fasern, beschäftigte sich nur noch damit. Dabei vergaß sie fast die Schmerzen. Sie sammelte Spucke in ihrem Mund und versuchte diese mittels Kraft durch die Zähne zu drücken.
Wenn ich es schaffe, diese Fasern zu entfernen, dann schaffe ich es auch bis zum Camp, redete sie sich lautlos ein und presste die Zunge gegen ihre Zähne. Der Weg war nicht mehr so steinig und uneben. Holger lief ein ganzes Stück vor ihr. Er fragte nicht mehr, wie es ihr ging und drehte sich seltener um.

Endlich! Eine der Fasern hatte sie erwischt und spuckte sie aus.

Sie humpelte seitlich-rückwärts den Berg hinunter, an dessen Fuße sie in der Ferne die ersten strohgedeckten Lodges des Camps erblickte.
An der Rezeption angekommen, verzog sie das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und sagte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Holger:
"Ich glaub, heute ist unser Glückstag!"

Dann brach sie zusammen.



©2009 by Jurewa. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

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