Homepage | Kalender | Mein Profil | Meine Post | Autorenliste | Buchshop
Poesie
Prosa
Verschiedenes
Werkstatt
Forum
Sonstiges

Prosa => Phantasy & SciFi


Joker-Mission - Kapitel 1 - von Karmanjaka, 27.02.2005
Die JOKER-MISSION − Kapitel I

"Ich soll das verstehen?! Ich will dir mal was sagen, Gwynn - alles, was ich hier verstehe, ist, dass du für diese Leute die Kastanien aus dem Feuer holst. Ich meine, seien wir doch mal ehrlich, was riskieren die schon dabei? Gar nichts! Du bist es, Gwynn, du riskierst jedesmal dein Leben!" Jeromes Stimme schien proportional zu seiner Erbitterung an Volumen zu gewinnen, bis jedes Wort herauskam wie ein Fanfarenstoß, hell, durchdringend und vor allem unüberhörbar.

"Nicht so laut!" zischte Gwynn und schenkte dem von Kopf bis Fuß mit mitternachtsschwarzer Seide und professioneller Würde gepanzerten Oberkellner, der gerade an ihrem Tisch vorbeischwebte, ein um Entschuldigung bittendes Lächeln, das vollkommen ignoriert wurde. Der Kellner, der mit der ganzen Ehrfurcht eines Priesters, der im Begriff war, einen Altar mit Opfergaben zu schmücken, ein gigantisches silbernes Tablett auf seiner hoch erhobenen rechten Hand balancierte, bedachte Jerome trotzdem mit einem indignierten Blick. Temperamentsausbrüche und andere emotionale Entgleisungen wurden im Arcadia-Club, einem der vornehmsten Restaurants von Delamere, der Hauptstadt von Devon, entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder nur mit majestätischer Missbilligung. Sogar die zarten blassblauen Köpfe der Wiccalilien, die geschmackvoll arrangiert aus der schlanken Vase herauslugten, die unerbittlich das Zentrum der schneeweißen Damasttischdecke beherrschte, schienen sich vor Entsetzen über diesen Mangel an Lebensart regelrecht zu krümmen.

Jerome sah sich unwillkürlich um und schien erst jetzt zu merken, dass der Ecktisch, an dem sie saßen, trotz der üppig wuchernden, fast zwei Meter hohen Phrinxpalmen, von denen sie praktisch umzingelt waren, gar nicht so privat und vollkommen von der Öffentlichkeit abgeschirmt war, wie er auf den ersten Blick aussah. Aber wenn Gwynn gehofft hatte, dass diese Diskussion, die sich nun wirklich überhaupt nicht für die Augen und Ohren von Publikum eignete - und die sie noch dazu in letzter Zeit schon viel zu oft geführt hatten -, damit endlich beendet war, dann hatte sie sich geirrt. Zu Jeromes hervorstechendsten Charaktereigenschaften gehörte eine an Sturheit grenzende Hartnäckigkeit, die ihn auch dann bei einem ganz bestimmten Thema verharren ließ, wenn sein jeweiliger Gesprächspartner schon mehr als deutlich zu erkennen gegeben hatte, dass er nichts mehr davon hören wollte. (Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass die Gewinnspanne von Interstellar Flloyd, die Versicherungsgesellschaft, für die er arbeitete, um dreiundzwanzig Prozent angestiegen war, was Jeromes Ernennung zum Kundenberater des Jahres, eine drastische Gehaltserhöhung und seine Beteiligung am betriebseigenen Aktienfond nach sich gezogen hatte.) Und deshalb ging es jetzt auch weiter, wenn auch nur noch sotto voce.

"Warum tust du das, Gwynn? Was versprichst du dir davon? Okay, okay ... ich gehöre ganz bestimmt nicht zu denen, die damals den roten Teppich ausgerollt und den Sturmtruppen Blumen vor die Füße geworfen haben, als sie zum erstenmal hier aufgekreuzt sind, das weißt du. Und du weißt auch, wie ich über das Imperium denke. Ich halte gar nichts von dieser ... Neuen Ordnung oder wie sie das nennen. Es gibt Augenblicke ... wenn ich mir die Nachrichten ansehe oder das, was hier so abgeht ... und das stinkt manchmal wirklich zum Himmel ... ja, es gibt Augenblicke, da möchte ich mich am liebsten auf den Boden werfen und laut schreien. Aber was können wir schon dagegen tun, Gwynn? Ob es uns nun passt oder nicht - das Imperium ist unsere rechtmäßige Regierung, und durch die ganze Geschichte der Galaxis hindurch haben Regierungen immer genau das getan, was sie tun wollten, und kleine Leute wie du und ich mussten immer die Suppe auslöffeln, die andere ihnen eingebrockt haben. Es gibt keine perfekte Regierung, es hat sie nie gegeben, und es wird sie auch nie geben! Glaubst du vielleicht, unter der Alten Republik war immer alles Friede, Freude, Eierkuchen? Das verlorene Paradies ... es wird immer erst dann zum Paradies erklärt, wenn es verloren ist. Die gute alte Zeit ... sie wird immer erst dann als gute alte Zeit bezeichnet, wenn alle wissen, dass sie endgültig aus und vorbei ist. Aber wir leben in der Gegenwart, Gwynn, wir leben hier und heute ... Glaubst du wirklich, dass das, was du tust, irgendetwas daran ändert?"

"Ja! Denn irgendwann muss sich schließlich irgendjemand irgendwo und irgendwie dazu durchringen, irgendetwas zu tun - oder willst du, dass es immer so weitergeht? Mein Gott ... wenn alle so denken würden wie du, könnte das Imperium ja wirklich bis in alle Ewigkeit treiben, was es will, und niemand würde es aufhalten, weil niemand den Mut dazu aufbringen würde, etwas zu unternehmen, statt auf allen Vieren mit dem Gesicht im Staub herumzukriechen und vor sich hin zu jammern", sagte Gwynn scharf. Jerome hatte wie üblich mit bewundernswerter Zielsicherheit ihren wunden Punkt getroffen - inzwischen hatte sie nämlich selbst mehr oder weniger leise Zweifel daran, ob das Ergebnis ihres Einsatzes das Risiko wert war, und das schlechte Gewissen, das sie sofort überkam, wenn ihre Gedanken in diese Richtung abwanderten, bewirkte automatisch, dass sie wild um sich schlug ... wenigstens verbal.

"Wenn alle so denken würden wie ich, gäbe es das Imperium gar nicht", verteidigte sich Jerome, aber er war verletzt - und genau das hatte Gwynn auch beabsichtigt. Plötzlich herrschte eisiges Schweigen, was zum Teil auch daran lag, dass gerade ein anderer Kellner zu ihrem Tisch gesegelt kam, um ihnen ihr Dessert zu servieren. Doch weder Gwynn noch Jerome schenkten nach seinem Abgang dem garantiert köstlichen Mjollquarksoufflé, das den Abschluss ihres Drei-Gänge-Menüs bilden sollte, auch nur die leiseste Beachtung - beiden war der Appetit inzwischen gründlich vergangen.

Das ist alles meine Schuld, dachte Gwynn. Ich hätte es ihm nie erzählen dürfen, nie! Aber damals hatte sie eben das Gefühl gehabt, keine andere Wahl mehr zu haben - nicht, nachdem Jerome damit angefangen hatte, ihr nicht nur dramatische Eifersuchtsszenen zu machen, sondern auch noch hinter ihr her zu spionieren, weil er herausfinden wollte, wo sie war und was sie trieb, wenn er sie abends zu Hause anrief und niemand ans Kom ging, und das konnte Gwynn einfach nicht zulassen. Also hatte sie sich Jerome eines Tages vorgeknöpft und die Katze aus dem Sack gelassen - weil es um ihre Sicherheit und die Sicherheit von Cel und seiner Gruppe ging, wie sie sich eingeredet hatte, aber in Wirklichkeit hatte sie dabei eher an Jeromes Sicherheit gedacht. Wer konnte schließlich wissen, wie Cel reagieren würde, wenn er sich irgendwo mit Gwynn traf, um ihr neue Anweisungen zu geben, und plötzlich Jerome hereinstolperte? Gwynn wollte auf gar keinen Fall die Probe aufs Exempel machen. Also hatte sie Jerome die Wahrheit gesagt ... um ihn aus der Schusslinie herauszuhalten ... und um ihre Ruhe zu haben, wenn sie ganz ehrlich war. Jetzt bereute sie das - und von Ruhe konnte inzwischen sowieso nicht mehr die Rede sein, dafür sorgte schon Jerome, den der Augenblick der Wahrheit in helle Panik versetzt hatte.

Gwynn seufzte. Wie auch immer ... ganz egal, was Jerome dazu sagte - und er hatte sehr viel zu diesem Thema zu sagen, auch wenn sich seine Argumentation in ihrem Kernpunkt ständig wiederholte -, irgendjemand musste schließlich irgendetwas tun. In diesen Zeiten konnte niemand für immer und ewig den Kopf in den Sand stecken und einfach abwarten, wie sich die Dinge weiterentwickelten. (Jerome sprach in diesem Zusammenhang gerne von überlebensbedingtem Individualismus - er hatte eine Schwäche für psychologisch angehauchte Schlagworte.) Alle Wege führten zum Imperium - und alle Umwege zur Allianz. Eines hatte Gwynn Jerome nicht erzählt - und das würde sie ihm auch nie erzählen, soviel stand fest! -, dass es nämlich ausgerechnet seine Schwester Larissa gewesen war, die Gwynn den Weg zur Allianz geebnet hatte ... na ja, eigentlich war es eher Davvyd, einer von Larissas Freunden. Aber der eigentliche Auslöser war diese Sache mit Alderaan. Ja, mit Alderaan hatte alles angefangen ...

War es wirklich erst zwei Jahre her, dass die von sämtlichen Medien breit aufgemachte Sensationsnachricht von Alderaans Vernichtung eine Schockwelle durch die Galaxis gejagt hatte, deren Ausläufer bis zum heutigen Tag den Widerstand zahlloser unendlich weit entfernter Randsysteme gegen den unersättlichen Expansionshunger und die unerbittlich demonstrierte Präsenz des Imperiums zersplittern ließ wie hauchdünnes Glas? Was Gwynn anging, so hätten es inzwischen ebenso gut zweihundert Jahre sein können.

Schockwelle ... das war genau das richtige Wort. Denn das waren sie damals alle gewesen, nachdem sie die Nachrichten gesehen hatten - geschockt. Eine ganze Welt, eine blühende, atmende, lebende Welt ... in Sekundenbruchteilen zerstört, vernichtet, ausgelöscht ... Alle waren erschüttert. Gwynn erinnerte sich daran, dass sogar die Offiziere ihrer Dienststelle, die von allen als hundertprozentig linientreu eingestuft wurden - was im Klartext hieß, dass sie als Fanatiker verschrien waren -, nach dieser Neuigkeit in einer bemerkenswert gedämpften Stimmung waren, obwohl keiner von ihnen in irgendeiner besonderen Beziehung zu Alderaan stand, weder familiär noch sonst wie. (Ganz im Gegensatz zu Rae Kelso, einer Kollegin, die gebürtige Alderaanerin war und nach dieser Hiobsbotschaft einen Nervenzusammenbruch hatte, der bewirkte, dass sie nie wieder gesehen wurde, weder in Gwynns Abteilung, wo sie gearbeitet hatte, noch sonst wo. Die offizielle Version lautete, dass sie aus gesundheitlichen Gründen auf unbestimmte Zeit beurlaubt war.) Ja, alle waren erschüttert - aber niemand wagte es, sich seine Erschütterung allzu sehr anmerken zu lassen oder ihr mit Worten Luft zu verschaffen. Nicht in aller Öffentlichkeit. Nicht nachdem das Imperium, das sich gerade selbst endgültig die Maske vom Gesicht gerissen hatte, damit begonnen hatte, das Alderaan-Massaker als politisch vollkommen gerechtfertigte militärische Maßnahme darzustellen und auch noch zu Propagandazwecken zu missbrauchen, ganz nach dem Motto: Lang lebe das Imperium! Wer nicht für uns ist, ist gegen uns - und gnade Gott allen, die gegen uns sind!

Ja, niemand machte in aller Öffentlichkeit den Mund auf, was auch nicht besonders klug gewesen wäre, aber im privaten Rahmen sah die Sache natürlich ganz anders aus - was auch nicht besonders klug und manchmal sogar fatal war. So standen die Dinge an jenem Abend wenige Wochen nach der Katastrophe, an dem Larissa ihren Bruder und seine Dauerverlobte (Jerome und Gwynn hatten irgendwie Schwierigkeiten damit, ihre Beziehung auf die offizielle Ebene von Standesamt und Trauschein zu heben) zum Essen eingeladen hatte. Der Kreis war klein - außer Larissa, Davvyd, Gwynn und Jerome waren nur noch zwei oder drei andere unbedingt zuverlässige Freunde anwesend - und die Atmosphäre entsprechend vertraulich. Sie hatten zuviel getrunken und viel zuviel geredet, vor allem Gwynn, die unter dem unausgesprochenen Schweigegebot litt, das wie eine Gewitterfront über dem Großraumbüro hing, in dem sie ihren 9-Stunden-Arbeitstag mit demselben Mangel an Begeisterung absaß, den auch ein Schulmädchen an den Tag legen mochte, das von einem überstrengen Lehrer wegen fehlender Hausaufgaben zu schier endlosem Nachsitzen verdonnert worden war.

Später dann, als die Dinge längst in Bewegung gekommen waren, unaufhaltsam wie eine Lawine, die sich von einer Bergflanke in ein ungeschütztes Tal hinabwälzt, war Gwynn über ihren eigenen Leichtsinn entsetzt - sie hatte an diesem Abend genug geredet, um in einem Gefängnis zu enden oder einfach spurlos zu verschwinden, wie es immer häufiger mit Leuten geschah, die nicht den Mund halten konnten und sich um Kopf und Kragen redeten, Leute wie Rae Kelso zum Beispiel. Und genau das war es, was Cel ihr schon bei ihrem allerersten Treffen eingeschärft hatte und ihr wieder und wieder einschärfte - sie musste vorsichtig sein, konnte niemals vorsichtig genug sein, denn ...

"... du weißt nie, wer dir zuhört. Du kannst niemandem vertrauen, du darfst niemandem vertrauen - dein Leben hängt davon ab! Jeder kann ein imperialer Agent sein ... Menschen, die dir nahe stehen ... ein Freund, sogar ein Familienmitglied, einfach jeder. Niemand ist so einsam wie ein Spion ..."

Aber an jenem Abend bei Larissa ritt Gwynn noch auf einem Surfbrett aus Eriwennbrandy-Cocktails ganz oben auf einer Welle von Sorglosigkeit, ohne auch nur zu ahnen, dass die Brandung, die sie trug, schon dabei war, sie an den Strand einer unbekannten Insel voller unbekannter Gefahren zu spülen. Neben Jerome auf Larissas gemütliche Ledercouch gekuschelt, redete sie sich einfach ihren Frust von der Seele, genau wie alle anderen auch ... bis Davvyd, der ihr die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, sich plötzlich aus den Tiefen seines voluminösen Konturensessels zu ihr vorbeugte, sie durch die kleinen, runden Gläser seiner ausgesprochen intellektuell aussehenden Nickelbrille musterte - eine Brille, die er, wie Gwynn wußte, aus optischen Gründen trug, die gar nichts mit seinen Augen, aber sehr viel mit Eitelkeit zu tun hatten - und sagte: "Ja, ja, das ist ja alles gut und schön, aber das sind nur Worte. Was würdest du wirklich tun, wenn du die Gelegenheit dazu hättest?"

Und Gwynn, von Eriwennbrandy, ihrer eigenen blühenden Rhetorik und der Größe des Augenblicks überwältigt, sagte sehr laut und so deutlich, dass es an die geschliffene Artikulation einer ausgebildeten Schauspielerin erinnerte: "Alles, was in meiner Macht steht ... und wenn ich könnte, noch sehr viel mehr!"

Und damit waren die Würfel gefallen - auch wenn Gwynn es noch nicht wußte. Denn Davvyd hatte einen Freund, der eine Freundin hatte, die jemanden kannte, der seinerseits jemanden kannte, der rein zufällig über einen Stiefbruder oder Cousin oder irgendetwas in dieser Art verfügte - der genaue Grad ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen war nie völlig geklärt worden -, der wiederum aktives Mitglied in einer eher anarchistisch ausgerichteten Studentenbewegung war, deren Aktivitäten sich darauf beschränkten, in zahlreichen chaotischen Nacht-und-Nebel-Aktionen antiimperiale Parolen zu verbreiten, indem sie sie in Form von ziemlich farbenfrohen Graffities auf die Hauswände sprühten, was zwar nicht besonders effektiv war, aber immerhin ihren Standpunkt demonstrierte.

Und es war diese Gruppe, die eine ziemlich lose, aber nie ganz abreißende Verbindung zu einem überaus geheimnisvollen Mann aufrechterhielt, den offenbar noch niemand je zu Gesicht bekommen hatte. Ein Mann, der nur aus einer heiseren Flüsterstimme zu bestehen schien, die beinahe von dem typischen verkehrslärmbedingten Geräuschpegel einer öffentlichen Komzelle übertönt wurde, als er wenige Tage nach dem denkwürdigen Abend bei Larissa mitten in der Nacht anrief und eine Uhrzeit und einen Treffpunkt in das Ohr der schlaftrunkenen Möchtegern-Rebellin am anderen Ende der Leitung raunte, die bei dieser unerwarteten - aber wenigstens nicht ganz und gar unerwünschten - Kontaktaufnahme aus allen Wolken fiel.

Niemand wusste besser als Gwynn, was es bedeutete, sich zu einem Entschluss durchzuringen, der allem widersprach, was Jerome als gesunden Menschenverstand bezeichnete. Wenn sie heute daran zurückdachte, dann wußte sie wirklich nicht mehr, woher sie damals den Mut genommen hatte, tatsächlich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu erscheinen, einer vor Jahren stillgelegten Fabrik am Rande der Stadt, wo ein richtiger, echter, leibhaftiger Rebell in voller Lebensgröße auf sie warten sollte. Aber eines wußte Gwynn noch ganz genau ... als sie buchstäblich auf Zehenspitzen aus der windgepeitschten Dunkelheit dieses Herbstabends in das spinnwebenverhangene Dunkel der baufälligen alten Werkshalle hineinschlich, in der das Treffen stattfinden sollte, rechnete sie jeden Augenblick damit, grelles Scheinwerferlicht aufflammen und mindestens ein Dutzend uniformierte Männer mit ihren Blastern auf sie zielen zu sehen, während eine befehlsgewohnte Stentortimme im Hintergrund triumphierend bellte: "IM NAMEN DES IMPERIUMS - SIE SIND VERHAFTET!" oder etwas ähnlich Schreckliches.

Doch statt der gleißenden Lichtflut eines Scheinwerfers blitzte nur der schmale Strahl einer Taschenlampe auf, der den Raum unmittelbar vor Gwynn in ein diffuses Dämmerlicht tauchte, und als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, entdeckte sie zwischen den undefinierbaren Schatten der von Staubflocken überzogenen Maschinen einen Mann, der im Schneidersitz neben einem vor langer Zeit demontierten Fließband hockte und ihr entgegensah, so ruhig, als würde er an einem sonnigen Frühlingsnachmittag auf einer Bank im Stadtpark sitzen und einen Schwarm Flarishtauben mit Brotresten füttern. Das war das erste, was ihr an ihm auffiel - seine Gelassenheit.

Erst später, als sie wieder zu Hause und in Sicherheit war und die Aufregung über ihr gefährliches Abenteuer beim Anblick der freundlichen hellen Kifarholzmöbel ihres kleinen Appartements langsam abebbte, wurde Gwynn klar, dass der Mann, der sich ihr mit den Worten: "Hallo, mein Name ist Cel ... und das ist im Augenblick alles, was du über mich wissen musst." vorgestellt hatte, ebenso wie sie das Risiko eingegangen war, einer Kommandoeinheit des imperialen Geheimdienstes direkt in die Arme zu laufen. Und noch später, als Gwynn in ihrem cremefarben gefliesten Badezimmer in der Wanne und bis zum Kinn in heißem, nach Verbennaöl duftenden Wasser lag und gerade dabei war, sich wirklich zu entspannen, ging ihr plötzlich auf, dass der Begriff "Sicherheit" für sie von jetzt an nur noch eine sehr relative Bedeutung hatte. Für einen Lieutenant der imperialen Nachrichtendienstzentrale auf Devon, der sich gerade von der Allianz als Spionin hatte anwerben lassen und im Begriff war, Hochverrat zu begehen, indem er Top-secret-Informationen über Truppenbewegungen an die Rebellen weiterleitete, gab es so etwas wie wirkliche Sicherheit nicht mehr - nie wieder!

Das zweite, was Gwynn an dem Mann namens Cel auffiel, waren seine Augen. Ansonsten sah er ganz ... na ja, normal aus, er war weder jung noch alt, sondern irgendwo dazwischen, schlank, mittelgroß, ein Durchschnittstyp, in jeder Beziehung. Aber seine Augen ... die waren irgendwie anders. Dunkel, leuchtend und seltsam intensiv ... irgendwie magnetisch ... beinahe hypnotisch. Als er sie zum erstenmal mit diesen Augen ansah, prüfend, forschend, durchdringend, hatte Gwynn das Gefühl, dass er bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnte. Sie fragte sich unwillkürlich, was er dort sah und was er davon hielt.

Cel stellte ihr eine Menge Fragen. Er wollte wissen, wer sie war, woher sie kam, wo und wie sie lebte, wo und was sie arbeitete, alles, was mit ihr, ihrer Familie und ihrem ganzen Hintergrund zusammenhing. Ihre Antworten quittierte er nur mit einem kommentarlosen Nicken. Und erst als diese Präliminarien abgeschlossen waren, kam endlich die Kardinalfrage, auf die Gwynn schon die ganze Zeit gewartet hatte. "Warum willst du dich unbedingt der Allianz anschließen?"

Diese eine Antwort beanspruchte mindestens doppelt soviel Zeit wie alle vorangegangenen Antworten zusammen. Gwynn sprudelte beinahe über, und vielleicht war es ihr leidenschaftlicher Eifer, ihre naive Begeisterung, gepaart mit einem nicht weniger naiven Idealismus, die Cel zum erstenmal lächeln ließen. Aber es war eine Spur von Traurigkeit in seinem Lächeln, die Gwynn damals nicht verstanden hatte. Heute verstand sie sie. Heute fragte sie sich, wie oft er genau die gleiche Antwort aus dem Mund wie vieler junger Menschen gehört hatte, die ihre Leidenschaft, ihre Begeisterung und ihre Ideale längst mit ihrem Leben bezahlt hatten.

Als Gwynn schließlich mit allem, was sie zu sagen hatte, fertig war, begann Cel zu sprechen. Er hatte ihr nie etwas vorgemacht. Er hatte ihr von Anfang an gesagt, wie es sein würde - und er hatte dabei kein Blatt vor den Mund genommen.
"Wenn du dir irgendeinen romantischen Kleister zusammenphantasiert hast und dich in deinen Tagträumen gerne als Heldin oder Märtyrerin oder irgendetwas in dieser Art siehst, dann vergessen wir die ganze Sache lieber gleich. Die Wirklichkeit sieht anders aus, ganz anders. Leute wie du arbeiten immer hinter den Kulissen. Niemand sieht dich, niemand hört dich, niemand kennt dich. Die Orden, das Hurrageschrei, die ganze gegenseitige Beweihräucherung und die hübschen kleinen Gedenktafeln für tote Helden - das alles hat mit dir überhaupt nichts zu tun. Lorbeerkränze gibt es nur für die, die mitten auf der Bühne im Rampenlicht stehen. Für dich gibt es in neun von zehn Fällen nicht mal jemanden, der dir auf die Schulter klopft und 'Gut gemacht, Gwynn Tolkian!' sagt. Aber dafür gibt es die Angst, die dir vierundzwanzig Stunden am Tag im Nacken sitzt, das ewige Versteckspiel, die Lügen, das Misstrauen ... Glaub ja nicht, dass du dich daran gewöhnst. An sowas gewöhnt man sich nie."

Gwynn schrak unwillkürlich zusammen, als Jeromes Hand sich über den Tisch schob, ihre Finger umschloss und damit ihre Reminiszenzen unterbrach, sie in den Arcadia-Club und in die Gegenwart zurückholte.

"Ich liebe dich. Ich habe Angst um dich", sagte er leise. "Ich habe Angst vor dem Tag, an dem ich dich anrufe und ein fremder Mann an dein Kom geht, der mich erst fragt, wer ich bin und was ich von dir will, bevor er mir sagt, dass ich im Moment leider, leider nicht mit dir sprechen kann, weil du einen kleinen Unfall gehabt hast oder ... ach, was weiß ich! Ich habe Angst vor dem Tag, an dem ich zu dir komme und sehe, dass deine Tür aufgebrochen und deine ganze Wohnung von oben bis unten durchwühlt worden ist, während deine Nachbarin - diese grässliche alte Schachtel mit diesem fetten, krummbeinigen, verblödeten Köter von einem Dasset - um mich herumschleicht und mir erzählt, dass du schon seit Tagen nicht mehr nach Hause gekommen bist und dass stattdessen die Polizei da war und alle Leute über dich ausgefragt hat. Gwynn, hörst du mir überhaupt zu? Wir wollen doch irgendwann heiraten, Kinder haben, glücklich sein ... Willst du wirklich all das aufs Spiel setzen für ... nichts und wieder nichts?"

"Es geht hier ganz und gar nicht um ... nichts und wieder nichts, wie du dich auszudrücken beliebst. Und es geht auch um weit mehr als nur um uns beide, Jerome!" sagte Gwynn fest, aber ohne große Überzeugungskraft. Es war spät, viel zu spät, wenn sie daran dachte, wie früh sie morgen aufstehen musste, aber es lag nicht nur an der Uhrzeit, dass sie so müde war wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, zu einer lebenslänglichen Sitzung in einem Holokinofilm verurteilt worden zu sein, den sie in- und auswendig kannte. Immer und immer wieder dieselben Schauspieler, die erbarmungslos immer und immer wieder dieselben längst sinnlos gewordenen Dialoge abspulten. Sie wußte haargenau, was für ein Text jetzt kam. Es war zum Schreien.

"Hast du eine Ahnung ... hast du auch nur eine vage Vorstellung davon, was die mit dir machen, wenn sie dich schnappen?" fragte Jerome mit filmgerechtem Pathos. Er hielt sich an das Drehbuch, darauf konnte man sich verlassen.

Großaufnahme, Kameraschwenk ... und Schnitt! Jeder Regisseur wäre begeistert, dachte Gwynn mit einem Anflug von Galgenhumor - aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sehr viel mehr als nur eine vage Vorstellung davon hatte, was mit ihr geschehen würde, wenn sie geschnappt wurde. Sie wußte es - und dieses Wissen spielte die Hauptrolle in all ihren Alpträumen. Auch in dieser Beziehung hatte Cel ihr nie etwas vorgemacht ...

"... und über eines musst du dir im klaren sein - wenn sie dich schnappen, ist es vorbei! Vorbei, verstehst du? Der imperiale Geheimdienst wird einen von seinen Bluthunden von der Kette und auf dich loslassen, einen von diesen ganz speziellen Spezialisten. Und wenn der mit dir fertig ist - und damit wird er sich sehr viel Zeit lassen, das kannst du mir glauben -, dann wartet nur noch das Erschießungskommando auf dich. Tja, so sieht's aus. Man muss schon sehr von seiner Sache überzeugt sein, um all das auf sich zu nehmen." Wieder dieser prüfende dunkle Blick, der wie ein Laserskalpell in ihre Gedanken hineinzuschneiden und sie zu sezieren schien. "Willst du immer noch bei uns mitmachen?"

"Ja!" sagte Gwynn laut. Hätte man sie gefragt, sie hätte selbst nicht genau sagen können, wem dieses Ja eigentlich galt, aber Jerome bezog ihre Antwort natürlich auf sich. Abrupt ließ er ihre Hand los, griff nach seinem Glas, trank einen Schluck und stellte es mit einem Schwung auf den Tisch zurück, der den restlichen Wein - einen Brionn aus einem sehr, sehr edlen und sehr, sehr teuren Jahrgang - in seinem in allen Regenbogenfarben schillernden Gefängnis aus Bleikristall hin und her schwappen und im samtigen Licht der Leuchtpaneele rubinrot auffunkeln ließ. Rot wie Blut, dachte Gwynn und fröstelte plötzlich.

"Du bist verrückt, übergeschnappt, vollkommen ausgeklinkt! Du hast dich so in diese ganze verdammte Geschichte hineingesteigert, dich so verrannt, dass man dir mit Vernunft überhaupt nicht mehr beikommen kann. Ich hab's versucht, immer wieder versucht, aber auf mich hörst du ja nicht. Gut ... schön ... mach doch, was du willst ... ich kann dich sowieso nicht davon abhalten. Aber eines sage ich dir, du ... glaub ja nicht, dass ich ewig wie auf glühenden Kohlen sitzen und darauf warten werde, dass der Blitz einschlägt, nur weil du davon besessen bist, deinen ganz privaten kleinen Kreuzzug zu führen! Das tue ich mir nicht an, hörst du? Da mache ich nicht mit!"

Aber alles, was Gwynn hörte, war Verzweiflung - ein Unterton, der in jedem Wort mitschwang, das Jerome sagte. Und das war auch gut so, denn das war etwas Neues, etwas, das es ihr erlaubte, über das unmissverständliche Ultimatum hinwegzusehen, das ihr gerade gestellt worden war, und jetzt ihrerseits über die Barriere der viel zu weißen Damasttischdecke hinweg nach seiner Hand zu greifen und sie festzuhalten.

"Tut mir leid, Jerry. Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber ... ich weiß, wie schlimm das alles für dich ist. Ich weiß, dass du dir die ganze Zeit Sorgen machst und dir dauernd den Kopf darüber zerbrichst, was mir alles passieren könnte. Und deshalb ...", Gwynn zögerte einen Herzschlag lang, dann sagte sie hastig, " ... und deshalb verspreche ich dir jetzt auch etwas, Jerry. Es ... wird nicht mehr lange dauern ... gar nicht mehr lange. Ich ... höre damit auf. Definitiv. Bald."

"Und was verstehst du unter bald?"

"Ziemlich bald", erwiderte Gwynn, aber sie konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen.

Jerome starrte sie an, dann schüttelte er langsam den Kopf - eine Geste, in der mehr Resignation lag, als er durch Worte zum Ausdruck bringen konnte. "Du spielst mit dem Feuer, Gwynn. Ich hoffe nur, dass du wirklich damit aufhörst, bevor es zu spät ist."

Vielleicht ist es ja schon zu spät, dachte Gwynn und schloss die Augen, nur um Finn Tintagel vor sich zu sehen, der ihr heute in der Mittagspause etwas erzählt hatte, das ihre Gedanken immer noch Purzelbäume schlagen ließ. Viel zu spät ... "Lass uns gehen, ja? Ich muss morgen früh raus."

Jerome stand sofort auf und zückte seine Kreditkarte. "Ja, sicher. Ich bring dich nach Hause."

Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, während sie zur Rezeption gingen, wo Jerome die Rechnung beglich, und dann zur Garderobe, um ihre Mäntel zu holen. Auch während der ganzen Fahrt herrschte Schweigen - jeder hing seinen Gedanken nach -, aber als Jerome seinen Gleiter vor Gwynns Haus anhielt, fragte er beinahe schüchtern: "Kann ich noch mit reinkommen?" und das war ein eindeutiges Friedensangebot.

Gwynn lächelte, beugte sich zu ihm vor und gab ihm einen Kuss. "Natürlich."

Als sie ausgestiegen waren und auf das Haus zugingen, Hand in Hand, sagte Jerome betont beiläufig: "Ich fliege morgen abend nach Rengeti. Wir haben dort einen Klienten, eine Speditionsfirma, die es irgendwie geschafft hat, ihre ganzen Lagerhallen in Flammen aufgehen zu lassen. Aber die Sache ist ziemlich heiß ... unser Versicherungsnehmer ist nämlich so gut wie bankrott, und deshalb glauben sie jetzt bei Flloyd, dass es vielleicht Brandstiftung war. Ich soll mir ein Bild von der Lage und eine vorläufige Schadensaufstellung machen. Das wird schon eine Weile dauern ... ich komme bestimmt nicht vor nächster Woche zurück. Aber wenn ich wieder hier bin, du ... dann gehen wir beide sofort auf die Jagd nach einer 3- oder 4-Zimmer-Wohnung, und wenn wir eine gefunden haben, dann ziehen wir endlich zusammen. Und wir heiraten noch dieses Jahr. Einverstanden?"

Gwynn schwieg, erwiderte nur den zärtlichen Druck seiner Hand, und das war für beide Antwort genug.

Die Uhr auf der Kifarholz-Kommode gab jedesmal ein leises Klicken von sich, wenn ihre Leuchtdiodenanzeige auf eine volle Stunde umschaltete, ein winziges Geräusch, ein fast unhörbarer Kontrapunkt in der Melodie der Nacht, die von Gwynns eigenem rhythmischen Herzschlag und den gleichmäßigen Atemzügen an ihrer Seite widerhallte. Zwei Uhr morgens ... und sie war immer noch hellwach. Regungslos lag sie da, starrte mit weitgeöffneten Augen in die Dunkelheit hinein und wartete auf den Schlaf wie auf einen Gast, der einfach nicht kommen wollte. Nicht zu ihr. Zu Jerome schon ... Jerome, der oft behauptete, vor lauter Angst um sie kein Auge mehr zuzubekommen, und der trotzdem hier und jetzt auf dem Kissen neben ihr den Schlaf des Gerechten schlief ...

Gwynn drehte sich zu ihm um, stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihn. Jerome sah ganz anders aus, wenn er schlief. So unschuldig ... beinahe kindlich ... und irgendwie rührend mit seinem zerzausten weizenfarbenen Haarschopf und dem halboffenen, atmenden Mund in seinem schlafenden Gesicht. Es tat weh, ihn anzulügen. Hatte sie ihn denn angelogen? Ja. Nein. Jein ...

Sie würde nicht aufhören. Sie konnte nicht aufhören, nicht jetzt, nicht einfach so - von heute auf morgen alles stehen und liegen lassen und ... ja ... und die Allianz im Stich lassen. Aber sie wollte aufhören ...

Dann tu es! schrie eine kleine Stimme irgendwo tief in ihr, eine Stimme, die sich in letzter Zeit immer öfter ungefragt zu Wort meldete - vor allem nachts, wenn Gwynn dalag, wie sie heute dalag, und auf die erlösende Bewusstlosigkeit eines Schlafes wartete, der entweder überhaupt nicht kam oder von Alpträumen bevölkert war, die sie nur allzu bald schweißgebadet und mit fliegendem Puls hochfahren ließen.

Gwynn kuschelte sich an Jerome. Es tat gut, seine Nähe zu spüren, seine Wärme zu fühlen. Sie fragte sich, ob er seine unausgesprochene Drohung wahrmachen und sie wirklich verlassen würde, wenn er merkte, dass sie ihn hinhielt. Jedes Ding hatte seinen Preis. Aber sich gegen das Imperium zu stellen, hatte einen Preis, der so hoch war, dass Gwynn sich allmählich fragte, ob ihn überhaupt jemand bezahlen konnte.

Sie stellte sich in letzter Zeit viel zu viele Fragen - aber sie fand keine Antworten ...

*

Cel sah sie aufmerksam an. Ihm entging nichts ... weder die durchscheinende Blässe ihres Gesichtes, das mit seinen hohen Wangenknochen und seinem spitzen kleinen Kinn wie eine dreieckige, aus Mondstein geschnittene Kamee aussah, noch die bläulichen Schatten unter ihren rauchgrauen Augen ... weder die Art, wie sie dasaß - jeder einzelne Muskel angespannt, fluchtbereit -, noch die fahrige, unruhige Handbewegung, mit der sie sich immer wieder eine helle Haarsträhne aus der Stirn wischte. Cel kannte die Symptome - er hatte sie oft genug beobachtet -, aber dass Gwynns Nerven wirklich am Boden schleiften, wurde ihm spätestens in dem Augenblick klar, als sie es schaffte, ihre Teetasse zum zweitenmal umzuwerfen.

Er warf seine Serviette auf die lauwarme, grünbraune Miniatursintflut, bevor sie sich erneut über den Tischrand und auf den mit Korkmatten ausgelegten Boden ergießen konnte. Die Kellnerin, die das Fiasko beobachtet hatte, runzelte die Stirn, verschwand kurz hinter der Theke, förderte dort wieder einen Putzlappen von undefinierbarer Farbe zutage und kam zu ihnen herüber, um noch einmal mit spitzen Fingern eine durchweichte Papierserviette aufzuheben und das billige Kunststoffset, das auf dem Tisch lag, flüchtig trockenzuwischen. Ihr Gesichtsausdruck gab deutlich zu erkennen, dass sie Gäste, die mit ihren Getränken offenbar nichts Besseres anzufangen wussten, als sie wieder und wieder zu verschütten, nicht nur als Zumutung, sondern auch als lebende Symbole für die allgemeine Ungerechtigkeit des Universums betrachtete. Cel fragte sich, ob es eine Gewerkschaft gab, die sich um die Sorgen und Nöte von überarbeiteten und unterbezahlten Straßencafé-Bedienungen kümmerte. Wenn ja, dann würde diese Frau wahrscheinlich in nächster Zukunft einen Sitzstreik oder einen Protestmarsch organisieren - und wenn nicht, dann würde sie ihren Gästen zusätzliche Dienstleistungen wie diese hier einfach auf die Rechnung zu setzen. Er beschloss, ihr trotzdem ein großzügig bemessenes Trinkgeld zu geben.

Bross, der den Tisch neben ihnen mit Beschlag belegt hatte, um sie vor der unerwünschten Aufmerksamkeit der anderen Gäste abzuschirmen, konzentriert in die Tagesausgabe der Imperial News starrte und sich grenzenlose Mühe gab, ganz, ganz unauffällig auszusehen - was wirklich nicht einfach war, wenn man ein 1,95-Meter-Hüne mit den ehrfurchtgebietenden Muskelpaketen eines Tsumo-Ringers war -, begann zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd.

Cel fand die Situation gar nicht komisch. Aber das lag vielleicht auch an dem Duell, das ihm jetzt bevorstand. Er dachte einen Augenblick lang nach, während er sich seine Taktik zurechtlegte und seine Argumente sortierte wie ein Arsenal aus scharfgeschliffenen Degen und Floretten. Er zog es vor, seine Kämpfe offen auszutragen, und deshalb warf er Gwynn auch gleich mit dem allerersten Satz, den er von sich gab, den Fehdehandschuh vor die Füße.

"Du willst aussteigen." Seine Stimme war so ruhig und beherrscht wie immer, enthielt weder einen Vorwurf noch eine Anklage - nur eine Herausforderung.

"Nein!" sagte Gwynn hastig - viel zu hastig, viel zu verteidigend. "Nein, das nicht. Ich will nicht aussteigen, Cel. Aber ich brauche einfach eine ... Auszeit, eine kleine Atempause. Ich ... ich war in den letzten sechs Monaten so oft aktiv und jetzt ... Es wäre besser, wenn ich mich eine Zeitlang ein bisschen zurückhalte."

"Was ist mit dir los, Gwynn? Wo liegt das Problem? Ist irgendetwas passiert?"

Gwynn sah aus dem Fenster, starrte in den flirrenden Sonnenschein hinaus. "Sie sind mir auf der Spur, Cel", sagte sie leise. "Ich fühle es. Ich weiß es."
Paranoia - die Berufskrankheit der Spione, dachte Cel. Aber immerhin wußte er jetzt, wo er den Hebel ansetzen musste. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme über der Brust und sagte betont leichthin: "Aha. Du fühlst es! Du weißt es! Ist das jetzt nur die berühmte weibliche Intuition oder hast du auch etwas Konkretes in der Hand? Wie kommst du darauf?"

"Einer von meinen Kollegen hat mir erzählt, dass unsere Finanzabteilung die Girokonten von allen Mitarbeitern überprüft hat - und das ist noch keine Woche her!"

"Na, wenn das kein alarmierendes Zeichen ist!" Cel lächelte ein wenig. "Ich bitte dich, Gwynn - die haben sich wahrscheinlich bei der Überweisung eurer letzten Soldzahlung um ein paar Credits zu euren Gunsten verrechnet und sind gleich in Panik geraten, dass sie bei der nächsten Revision vielleicht in den roten Zahlen stehen, wenn sie euch das Geld nicht ganz schnell wieder abknöpfen. Ist das alles?"

"Was ist, wenn sie die Konten überprüft haben, weil sie glauben, dass irgendjemand bei uns die Hand aufhält, dass sich jemand bestechen lässt? Was ist, wenn sie schon längst gemerkt haben, dass sie einen Maulwurf im System haben ... und dass dieser Maulwurf hier auf Devon sitzt?"

Cel stieß einen tiefen und theatralischen Seufzer aus. "Na schön. Gehen wir die Sache doch mal mit Logik an. Sämtliche Geheimdienstaktivitäten in diesem Sektor werden über die Zentrale auf Vardiss 3 gesteuert, nicht wahr?" Gwynn nickte nur. "Na also. Du brauchst das eigentlich nicht zu wissen, aber wenn es dich beruhigt ... Vor ein paar Monaten hat es die Allianz geschafft, in die Analyseabteilung auf Vardiss einen V-Mann einzuschleusen. Und der ganze Job von diesem Burschen besteht darin, Augen und Ohren offenzuhalten, damit wir hier auf Devon rechtzeitig gewarnt werden, wenn uns irgendjemand in die Quere kommt. Rückendeckung, verstehst du? Und weißt du was? Die haben keine Ahnung auf Vardiss! Und wenn sie sich in letzter Zeit überhaupt je Gedanken gemacht haben - vielleicht wegen dieser Sache im Canbalic-System oder meinetwegen auch wegen Soraya 8, weil du dir ausgerechnet über die letzten sechs Monate Sorgen machst -, dann würden sie eher irgendein hohes Tier im Flotten-Oberkommando verdächtigen als den Nachrichtendienst hier auf Devon, sagt unser V-Mann. Alles ruhig an der Vardiss-Front. Fühlst du dich jetzt besser?"

"Vielleicht ist euer V-Mann längst enttarnt worden. Vielleicht führen sie gerade jetzt ... in diesem Augenblick ... eine verdeckte Ermittlung durch."

"Und vielleicht fällt dem Imperator heute Nacht einer von seinen eigenen Sternzerstörern aufs Dach. Weißt du, Gwynn, wenn du dich selbst verrückt machen willst, dann kann ich dir auch nicht helfen." Auf Gwynns Stirn erschien eine steile Falte. Cel wartete, aber sie schwieg. "Niemand weiß besser als ich, unter was für einem Druck du stehst, Gwynn. Es ist hart, aber was sollen wir machen? Das Imperium steht uns allein, was seine Flotte angeht, in einem Verhältnis von zehn zu eins gegenüber - und das ist nur eine grobe Schätzung! -, von seinen Ressourcen ganz zu schweigen. Wir brauchen die Informationen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen. Wir brauchen dich, Gwynn. Du bist der Joker in diesem Spiel."

Cel legte eine Kunstpause ein und atmete tief durch. Als er weitersprach, wurde seine Stimme weich und werbend. "Erinnerst du dich noch daran, was ich dir damals, ganz am Anfang, gesagt habe? Das mit den Orden und den Lorbeerkränzen, weißt du noch? Damit habe ich nicht gemeint, dass die Allianz nicht anerkennt, was du leistest und wie viel sie dir zu verdanken hat. Und irgendwann, wenn dieser Krieg vorbei ist und alles endlich wieder so ist, wie es auch sein soll, dann wirst nicht nur du wissen, dass dazu wesentlich mehr nötig war als der Einsatz von ein paar X-Flügler-Staffeln. Aber bis dahin müssen wir noch einen weiten Weg zurücklegen, und das schaffen wir nur, wenn wir zusammen durchhalten. Lass uns jetzt nicht im Stich, Gwynn ..."

Gwynn senkte den Kopf ... und Cel wußte, dass er gewonnen hatte. Er wußte, wie man die Leute inspirierte, motivierte und - wenn es sein musste - auch manipulierte.

"Vielleicht habe ich nur zuviel Phantasie", sagte Gwynn widerstrebend.

"Du stehst unter Stress", sagte Cel mit einer sorgfältig dosierten Mischung aus Fürsorge und freundlicher Aufmunterung. Er sah sie forschend an. "Hör mal, wenn du einfach nur ein bisschen kürzertreten willst ... für eine Weile ... dagegen sagt ja niemand was. Vielleicht gönnst du dir zwischendurch mal einen kleinen Urlaub. Aber vorher hätten wir da noch eine Kleinigkeit für dich. Einer unserer Leute auf Arden hat herausbekommen, dass die Imperialen vorhaben, in irgendeinem Randsystem im Nachbarsektor ein bisschen Randale zu machen. Sie scheinen dafür Flotteneinheiten aus unserem Sektor abziehen zu wollen, damit die auch mal wieder ihren Spaß haben. Der springende Punkt ist, dass es sich bei dem Ziel wahrscheinlich nur um eine Welt mit ein paar mittelprächtigen Kolonistensiedlungen handelt, die sich kaum verteidigen können und bei einem Angriff ziemlich alt aussehen würden. Wir müssen unbedingt herausbekommen, wann und wo die Imperialen ihre Show abziehen wollen, damit wir die Kolonisten vorher warnen und ihnen ein bisschen unter die Arme greifen können. Evakuierung, wenn das überhaupt möglich ist ... medizinische Erstversorgung und solche Sachen ... du weißt schon."

"Ja, ich weiß", seufzte Gwynn.

Cel sah sie an. "Denk daran, was auf dem Spiel steht, Gwynn", sagte er ernst. "Tausende, Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Leben."

Tausende, Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Leben ... und was ist mit mir? dachte Gwynn. "Natürlich. Ich werde sehen, was ich tun kann", sagte sie und stand auf. Es war Zeit zu gehen. "Und wenn ich es habe? Dieselbe ... Prozedur wie immer?"

Cel nickte und lächelte ein wenig. "Dieselbe Prozedur wie immer."

Er sah ihr nach, als sie auf die Tür zuging, schmal und aufrecht wie eine Lanze, trotz der Müdigkeit in ihren Augen. Sie würde sich zusammenreißen und tun, was sie konnte, das wußte er. Sie würde weitermachen, weil er sie bei der Stange hielt - aber wie lange noch? In diesem Job musste man in jeder Situation kaltes Blut und einen klaren Kopf bewahren. Ein Spion, der die Nerven verlor, war verloren. Nervöse Spione machten Fehler - und Spione, die Fehler machten, wurden geschnappt.

Cel seufzte. Ja, er wußte, wie man die Leute inspirierte, motivierte oder auch manipulierte - und manchmal hasste er sich selbst dafür ...



Fortsetzung folgt ...



©2005 by Karmanjaka. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

Kommentare





Keine Kommentare vorhanden.

Bewertungen

Bewertung: 1.5/6
(8 Stimmen)

Es gibt 0 Kommentare


Aktionen


QR-Code als Direktlink


Werbung


Suchwolke