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Eine gute Fahrt - von berlinerplakate, 06.10.2007

Stille. Dann Telefonklingeln. Ich erschrak. Ich ahnte Unheil.

Ich sprang auf und ging ans Telefon. Guten morgen, Martin! Gut geschlafen?" Yvonne. Ich hatte verschlafen. Meine Gedanken hingen noch halb in den Träumen. Schnell duschte ich mich und zog mich an. Ein Blick zur Uhr.
6:05: Die Schuhe. Die Bahn um neunzehn konnte ich schaffen. Ich musste mich beeilen Schnell. Schnell. Nicht denken. Laufen. Die Treppe hinunter. Ich rannte aus dem Haus. Über die S Bahnbrücke. In den Menschenmassen versuchte ich niemand anzurempeln. Fischgleich schlängelte ich mich durch sie hindurch. Schnell. Warschauerstrasse.
06:18: Die S- Bahn fuhr unter mir ein. Ich wurde schneller. Rannte die Treppen hinunter. Menschenmassen stiegen aus. Ich rannte: Die roten Lampen leuchteten. Die Sirene heulte. Ich sprang in den Zug. Die Türen schlossen sich. Ich setze mich hin. Geschafft!
06:19 Der Zug fuhr an. Mein Atem war schnell und laut, mein Körper verschwitzt und in meinen Ohren pochte der Schlag meines Herzen. Dazu gesellte sich eine Stimme: Fahrkarten!" Ich erschrak

Das Ticket stempeln!" Jetzt fiel es mir ein. Das hatte ich vergessen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Ich fuhr schwarz. Ohne Ticket. Meine Müdigkeit hatte mich dazu gebracht. Vierzig Euro sollte ich zahlen. Hätte ich doch nur eine Monatskarte. Die war zu teuer. Ich fuhr nur zur Arbeit mit der Bahn, sonst mit dem Fahrrad. Der Kontrolleur kam zu mir. Anstelle des Ärgers über mich, trat große Scham. Ich fühlte mich schlecht. Die Situation vor den anderen, mir unbekannten, Fahrgästen war mir unerträglich peinlich. Maßlos nervös und sehr aufgebracht, erklärte ich dem Kontrolleur meinen Fehltritt.
Ich verhaspelte mich, stotterte ein wenig. Schweiss floss in Händen und auf der Stirn. Und ich wünschte, er könnte Verständnis für mich und meine Situation haben. Schließlich hatte ich einen guten Grund, die Strafe nicht zahlen zu wollen. Die vierzig fehlenden Euro würden ein empfindliches Loch in unser Familienbudget reißen. Ich bat ihn mein ungestempeltes Ticket zu entwerten. Ich zeigte ihm zur Bekräftigung meiner Ehrlichkeit alte, regelmäßig gestempelte Fahrausweise. Ich wollte ihm zeigen, das ich sonst zahle. Nur diesmal nicht. Das war doch ein Unglück. Ein Missgeschick. Mein einmaliges, persönliches Versagen im Schlaf. Ich appellierte an seine Menschlichkeit. Meine Worte verfehlten ihr Ziel. Sie interessierten ihn nicht. Sie waren ihm egal. Gelangweilt verlangte er meinen Personalausweis und schrieb meine Anschrift auf. Ich erhielt meinen teuren Fahrschein. Hätte ich es nicht besser gewusst, so hätte ich geglaubt, ich sei ein antisozialer Krimineller. So fühlte ich mich behandelt. Sein Unverständnis und die Blicke der Mitfahrer waren mir eine schwere Last. Ich schämte mich sehr. Blickte den Rest der Fahrt zu Boden. Trauer, Wut und Scham beherrschten mich. Zu spät zur Arbeit und den halben Lohn schon verloren. Was für ein Morgen. Jetzt hatte ich meine Fahrkarte: Ein 40 Euro- Ticket.
Auf dem Rückweg hatte ich Zeit. Mit Gewohnheit entwertete ich mein Ticket und steckte es ins Portemonnaie. Zu dem Strafticket. Dessen Anblick ärgerte mich.
Ich erkannte, das das Verkehrsunternehmen mich durch Kontrollen, als Kriminellen verdächtigte. Dieses Misstrauen mir gegenüber: Dem zahlenden Fahrgast. Sofern nichts Aussergewöhnliches geschehen war, zahlte ich immer. Und kaum passierte Aussergewöhnliches, widerfuhr mir eine üble Behandlung und die damit verbundene schlimme Konsequenz für meine Familie. Ich konnte doch so gerade meine Frau und mein Kind versorgen. 40 Euro waren viel Geld. Hätte ich sie gehabt, ich hätte mir doch eine Monatskarte gekauft. Sogar ein Trinkgeld für die Kassiererin wäre drin. Aber so? Was würde wohl meine Liebste sagen? Vorwürfe würden kommen, dessen war ich mir sicher. Tunichtsgut", würde sie sagen und mir dann vorrechnen, wo wir sparen müssten. Das konnte sie besser als ich.
Auch die Frage, ob das Verschlafen Unrecht war, konnte ich sicher verneinen. Diesbezüglich beging ich kein Unrecht. Solange mein Schlaf stärker als mein Wachen war, war ich handlungsunfähig und schuldfrei. Und vollkommene Klarheit und Wachheit unterlagen dem eiligen Unterfangen schnell zur Arbeit zu kommen. Ich war nicht hundert Prozent Ich gewesen. Das kann geschehen. Und doch wurde ich behandelt, als hätte ich.. ,als wäre ich mit Absicht schwarzgefahren.
Ich fuhr seit Jahren Bahn. Mit dem Verständnis für die Notwendigkeit öffentlicher Verkehrsmittel, zahlte ich ihre Nutzung gerne. Durfte ich unter diesen Aspekten keine Kulanz erwarten?
Doch heute morgen... In welch scheußliches Licht rückte mich diese Behandlung?
Mit diesen Gedanken stand ich am Bahnsteig und wartete auf die Bahn.
Sie war voll. Es kamen wieder Kontrolleure. Und mich durchfuhr ein Geist. Er führte mich. Er wies mir den Weg. Er bestimmte meine Handlung. Ich schloss die Augen. Ich hörte die Stimme des Kontrolleurs: Ihre Fahrkarte!". Ich reagierte nicht, stellte mich abwesend. Er berührte mich. Langsam sah ich ihn an, musterte ihn von oben bis unten. Erneut fragte er mich nach meinem Ticket. Er hielt mir seinen Ausweis entgegen. Langsam führte ich ihn in Augenhöhe und justierte ihn sorgfältig. Ich verglich das Photo mit dem Gesicht. Suchte langsam nach Auffälligkeiten und lächelte über das schlechte Bild. Dann verglich ich das Photo mit dem Menschen, der es hielt. Könnte passen, obwohl es ein sehr altes Photo ist. Und sie haben eine ganz andere Frisur.", bemerkte ich freundlich. Ich liess mir Zeit. Ihre Fahrkarte!", drängte der Kontrolleur.
Achja!" Ich begann die Suche. Im Portemonnaie!", erinnerte ich mich richtig. Dort würde ich als letztes suchen", dachte ich. Ich durchwühlte meine Hosentaschen. Hinten, vorne, und die Jackentaschen. Ich öffnete meinen Koffer und suchte in ihm. Ach, wissen sie", sagte ich zu dem Kontrolleur,
Konzentrationsschwäche. Ich bin in Behandlung. Es ist immer das gleiche." Stück für Stück sortierte ich meine Habseligkeiten im Koffer, schaute hier, schaute dort, fand sogar ein altes Ticket."Ach endlich!" Ich sah es an. Nein es ist alt." Die Ungeduld des Kontrolleurs füllte den Waggon. Etwas mehr Ruhe in seiner Tätigkeit würde ihm sicherlich gut tun", dachte ich. Jetzt weiss ich's!" Mit theatralischer Geste griff ich an meine Stirn. Ich hab's, wissen sie. Ich hab's" Ich lächelte freudig in sein genervtes Gesicht. Ich griff in meine Brusttasche, holte mein Portemonnaie heraus und zeigte ihm, wonach er verlangte. Er ging zum nächsten. Dieser verhielt sich genauso. Alle verhielten sich gleich. Vielleicht lag das am Zeitgeist. Die Fahrkartenkontrolle dauerte sechs Stationen und wir nahmen uns alle viel Zeit für die Kontrolleure. Diese Zeit würde ich zukünftig immer für sie haben.
Beide Gruppen der Fahrgäste gewannen: Zahlende und Nichtzahlende.
Kein Nichtzahlender geriet in eine peinliche Situation. Es gab reichlich Gelegenheit unkontrolliert auszusteigen. Keine Rechenschaft wurde abgelegt, um Kulanz zu erreichen. Niemand würde erfahren, ob einer es eilig gehabt hatte, oder wie dringlich er die 40 Euro missen würde. Weder Schusseligkeit, noch ungenügende Kaufkraft wurden thematisiert.
Und in der S-Bahn verbliebende Gäste, wurden nicht Zeuge einer unangenehmen öffentlichen Bloßstellung. Unbeschwert fuhren wir weiter, ohne in die peinliche Gefühlswelt von Scham und Schande eines Fahrgastes verwickelt zu werden. Keiner mühte sich die Augen von einer solchen Situation abzuwenden, oder wurde der Niedertracht schuldig, lüstern den Unglücklichen anzustarren.
Statt dem unangenehmen Gefühl der Scham füllte sich die Atmosphäre des Waggons mit Stolz, menschlicher Erhabenheit und Edelmut. Keiner blickte zu Boden, im Gegenteil wir blickten einander an, und wagten lächelnde Augenkontakte.

Wir hatten Mut bewiesen. Und wir hatten gelernt, wie gut das war. Wir hatten eine gute Fahrt.

von Martin Teuschel

- ENDE -

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