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Traumzeit am Wiesenrain - von ScharkaliScharri, 17.04.2015
Ich gehe diese eine Straße entlang. Immer im Halbdämmer und immer Schritt für Schritt. Menschen in langen weißen Kleidern kommen mir entgegen. Frauen, Männer, auch Kinder. Manchmal sehen wir uns in die Augen, manchmal drehen wir uns sogar nach einander um. Ein Lächeln, ein Wort. Ein kleiner Junge in kurzen Hosen greift suchend nach meiner Hand, doch als ich hinab sehe, ist er schon verschwunden.

Ich gehe langsam diese Straße entlang. Immer denselben Weg. Sie führt an einer Bundesstraße entlang, auf der kaum Verkehr herrscht. Mir zur Linken stehen Bäume, die den Blick ab und zu auf eine große Wiese und in den Boden eingesackte Steine freigeben.

Menschen kommen mir entgegen. Menschen gehen an mir vorbei. Menschen drehen sich nach mir um. Oder ich folge ihnen mit Blicken. Eine flüchtige Berührung. Ein Wort …

… am nächsten Morgen erwache ich. Jedes Mal mit einer neuen Handynummer in der Hand. Diesmal war es ein Grauhaariger, mit dem ich im Vorbeigehen ein Wort wechselte. Seitdem ich auf dieser Straße gehe, ist er der Erste, mit dem ich näher in Kontakt kam. Er lächelte. Ich lächelte. Er war mir sofort sympathisch. Groß, kräftig. Eine angenehm tiefe Stimme. Nun halte ich seine Handynummer in der Hand.

Wir treffen uns. Einmal, zweimal. Immer hinter den Bäumen auf der Wiese im Dämmerlicht. Er flüstert mir Dinge ins Ohr. Wir berühren uns. Einmal, zweimal. Aber ein drittes Mal gibt es nicht. Das wissen wir beide.

Ein anderer kam. Mit ihm unternahm ich Wanderungen entlang des Wiesenrains, bis er mir eines Tages sagte, dass er nicht mehr wüsste, wohin er mit mir gehen sollte.

Und wieder gehe ich diese Straße entlang. Wieder sammle ich Handynummern. Aber anrufen will ich niemanden. Ich gehe weiter. Immer weiter. Und beginne mich zu fragen, wohin mich diese Straße führen wird. Und müsste sie, nach all den Kilometern, die ich schon gelaufen bin, nicht endlich enden? Und … und woher kommt sie überhaupt? Soll ich umkehren und nachsehen? Woher komme ich? Wo bin ich aufgebrochen? Und gibt es diese Straße wirklich? Wenn ja, wo befindet sie sich?

Und da, nach so vielen Kilometern, es ist schon fast Nacht: Ich kann den mir entgegenkommenden Mann kaum erkennen. Schemenhaft ist sein Gesicht. Aber ich weiß tief im Herzen, dass er mir zulächelt, so als würden wir uns schon ewig kennen.

Dann stehen wir uns gegenüber, halten uns bei den Händen.

„Mia, ich möchte mit dir ein neues Leben beginnen“, sagt er.

Am nächsten Morgen erwachen wir beide nicht im Dämmerlicht hinter den Bäumen am Wiesenrain, sondern in meinem Bett. Die Nacht war schön gewesen.

Er heißt Hans, ist 60 und Arzt in München. Er hat schon zwei Kinder aus erster Ehe, die bereits erwachsen sind. Ich bin 30, gerade mit dem Studium fertig und im Bewerbungsstress, denn die Karriere wartet nicht. Ich will aufstehen, doch er hält mich zurück.

„Ich wär gern noch einmal Vater“, flüstert er mir ins Ohr.

Ich schmiege mich an ihn, erwidere seinen Kuss und schließe die Augen. Neun Monate später sind wir zu dritt. Samuel, unser Sohn, liegt in unserer Mitte. Die kommenden zwei Jahre bin ich daheim und kümmere mich um Samuel. Hans arbeitet derweil in seiner Praxis, in der er die Sportprominenz und die Bayern-Stars behandelt. Am Abend sitzen wir am Küchentisch und erzählen uns von unserem Tag. In der Nacht weckt mich Hans mit einem Kuss.

„Ich wünsche mir noch eine Tochter.“

Es ist kurz nach Weihnachten, als wir eine kleine Reise unternehmen wollen. Einfach aufs Land, nur wir drei allein. Hans und ich möchten Zeit mit unserem Sohn verbringen und beraten, wie wir uns unser neues – gemeinsames – Leben vorstellen. Wie das werden könnte, wenn wir noch ein Kind bekämen. Wir tragen die Sachen ins Auto, fahren los, hinein in die Dämmerung der heraufziehenden Nacht. Der Verkehr nimmt seit der Autobahnauffahrt immer mehr zu, denn viele haben den gleichen Wunsch wie wir. Raus, aufs Land und Ruhe tanken. Wir fahren, unterhalten uns und im Fond sitzt Samuel. Ab und an ruft er „Mutti“ oder „Vati“ und will uns etwas zeigen. Ich wende mich um und lächle ihm zu. Wir nehmen kaum wahr, wie der Flockenwirbel dichter wird. Aber die Scheibenwischer nehmen ihre Arbeit auf, doch sind sie ihr bald schon nicht mehr gewachsen. Wir wollen rechts ran fahren, denn ich habe den Hinweis auf eine Raststätte erspäht, Hans blinkt schon, als ich plötzlich eine weiße Wand vor mich schiebt. Rasend schnell und so grell, dass ich die Augen schließen musste. Das nächste, was ich spüre, ist ein entsetzlicher Ruck – und ich höre Schreie von irgendwoher. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann, denn dann herrscht Stille.

Ich gehe diese eine Straße entlang. Schritt vor Schritt. Wie lange schon, das weiß ich gar nicht – sind’s Monate oder gar schon Jahre? Vielleicht sind’s auch erst Minuten, Sekunden? Ich weiß es nicht, denn ich habe jegliches Zeitgefühl verloren und mir kommt es so vor, als erwachte ich nicht mehr.

Ich gehe diese Straße entlang. Den Blick geradeaus gerichtet – in die Ferne. Wohin sie mich führen wird, diese Straße, das weiß ich nicht. Aber ich weiß jetzt, woher ich komme und wohl schon immer gekommen bin ...

Vor einigen Tagen bin ich an halb in den Boden versunkenen Steinen am Wiesenrain vorbeigekommen. Vor dem größten lagen Blumen, daneben ein Kreuz und ein Engel. Drumherum ein Zaun, um den sich Efeu rankt.

Ich gehe weiter diese Straße entlang. Schritt für Schritt. Langsam. Den Blick geradeaus gerichtet. Vor mir im Halbdämmer erscheinen wieder Menschen in langen weißen Kleidern. Männer, Frauen, seltener Kinder. Bisweilen tauschen wir Handynummern. Ein schon älterer Mann mit halblangen, braunen Haaren kommt auf mich zu. Unsere Blicke treffen sich. An der Hand hält er einen kleinen Jungen in kurzen Hosen.

„Zum Friedhof?“, will der Mann wissen und der Kleine grinst mich an.

„Immer geradeaus“, entgegne ich. „Sie können ihn nicht verfehlen.“

Dankend setzt er seinen Weg fort.

„Papi“, höre ich den Kleinen noch von Ferne rufen. „Wann darf ich aufstehen, ich hab nämlich ausgeschlafen!“

Vielleicht, so überlege ich, sollte ich den beiden meine Handynummer geben, damit ich vielleicht auch einmal erwache, da ich doch bisher wahrscheinlich nur meinte, zu erwachen, obwohl ich nur träumte ...



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