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Du fehlst... - von SilverLight, 17.01.2013
Du fehlst
Der Motor des Autos geht aus. Ich greife nach meiner Handtasche auf dem Beifahrersitz, werfe noch einen Blick in den Rückspiegel und überprüfe das Make-Up. Ich streiche mir eine der schwarzen Haarsträhnen, die sich aus der komplizierten Frisur gelöst hatte, hinter mein Ohr. Blind taste ich in der kleinen Handtasche nach meinem Handy, um es auszuschalten. Ich angle es hervor und werfe einen Blick auf das Display. Ich sehe ein Foto. Dein Foto. Du lachst. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder. Du blickst mir immer noch entgegen. Ich schau aus dem Fenster. Der Wind bewegt die Äste der Bäume. Ein Blatt segelt zu Boden. Ich sehe den gepflasterten Weg entlang, erhasche einen Blick durch das Tor auf eine Reihe säuberlich gepflegter Grabsteine. Was tue ich hier? Deine Familie will mich nicht sehen! Du würdest mir nicht verübeln, wenn ich nicht kommen würde. Das hast du mir sogar gesagt!
Ich sehe deine Mutter, sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem schwarzen Schleier. Der Gottesdienst ist wohl schon vorbei. Ich habe lange überlegt, ob ich das wirklich tun sollte. Schließlich habe ich mich doch fertig gemacht, mich in das Auto gesetzt und bin hergefahren. Aber jetzt verlässt mich der Mut.
Vier Männer tragen den Sarg zum Grab deiner Familie. Ich lehne mich zurück, hole tief Luft und beobachte wie die Welt langsam weiterläuft. Ich komme mir fremd vor, als hätte jemand, nur für mich, die Zeit angehalten. Als wäre ich aus dem Leben ausgestiegen und schaue nun von außen zu. Ich grüble darüber nach, was mich plötzlich so fühlen lässt.
Was fehlt?
Ich sehe den Wind der die herbstlichen Blätter tanzen lässt. Ich sehe die Trauergäste beten. Ich sehe dein lachendes Gesicht auf meinem Handydisplay.
Du fehlst!
Aber das schien nur ich allein zu bemerken. Der Welt war es egal! Die Sonne ging weiterhin auf und unter. Der Herbst kam jeden Tag näher. Selbst deine Verwandten wirkten, als ob sie hier nur ihre Pflicht taten um dann endlich wieder zurück zum Alltag überzugehen. War ich der einzige Mensch, der dich vermisste? Von deinen Eltern hattest du dich schon vor ewiger Zeit abgewandt. Es war ungerecht, dass sie nun an deinem Grab stehen durften, ich aber nicht! War das fair? Ich war der Mensch, der dich kannte, der dich liebte und verstand! Ich war es gewesen, der dich tröstete, als die Diagnose kam. Ich war es gewesen, die dir Halt gab, als deine Beine nachgaben. Ich stand tagtäglich an deinem Krankenbett, bis du mich schließlich fortgejagt hast. Und selbst dann kam ich jeden Tag zu dir, ignorierte deine Einwürfe und setzte mich schweigend neben dich. Am Schluss gab es nichts mehr zu sagen. Weder für mich, noch für dich. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dass es mir schlechter ging als dir. Schließlich lagst du auf dem Sterbebett. Und während diesem Schweigen hatte ich ganz versäumt dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe. Liebte. Jetzt bist du ja tot.
Ich kann nicht mehr. Ich habe ein Jahr lang aufrecht gestanden, um für dich stark zu sein. Aber du bist trotzdem gegangen. Hast mich allein gelassen in dieser schrecklich kalten und leeren Welt. Dafür hasse ich dich.
Als ich dich das erste Mal sah, musste ich lächeln. Deine bloße Erscheinung hatte mich glücklich gemacht. Und das, obwohl ich dich kein bisschen kannte. Ich liebte dein Lachen. Nein, ich liebe es immer noch. Aber ich kann es jetzt nicht mehr ertragen. Denn immer, wenn ich dieses Lachen auf einem Foto sehe, wird mir bewusst, was ich verloren haben. Dass du für immer gegangen bist. Diese Gewissheit schmerzt. Als würde eine eisige Hand sich um mein Herz schließen.
Wieder tasten meine Finger nach dem Handy. Ich wechsle das Hintergrundbild, lösche dein lachendes Gesicht aber nicht von der Speicherkarte. Vielleicht würde ich es ausdrucken und irgendwo in einem deiner geliebten Bücher verstecken. Und dann, irgendwann, würde ich vielleicht aus Zufall wieder darüber stolpern und mich lächelnd an dich zurückerinnern können. Wenn ein paar Jahre vergangen sind. Wenn ich mich ohne Schmerz an dich erinnern kann.
Ich wische mir das Make-Up aus dem Gesicht, löse die Frisur und binde die Haare zu einem lockeren Zopf zusammen. Die lächerliche Handtasche lasse ich liegen, nehme die kitschige Halskette ab und stopfe sie in die Tasche. Im Spiegel sehe ich mein blasses Gesicht. Ich sehe menschlich aus, so ganz ohne Schminke. Und das sollte man doch auf einer Beerdigung sein. Menschlich. Lebendig. Keine Puppen wie deine ganzen Verwandten. So wie ich jetzt aussehe, hast du mich kennengelernt. So wie ich jetzt aussehe, hast du dich in mich verliebt. Also kann mein Aussehen ja gar nicht so schrecklich sein. Doch man sieht es mir an. Den Verlust. Ich sehe müde aus und erschöpft. Aber trotzdem, vielleicht sogar deswegen, auch seltsam befreit. Eine Last ist von meinen Schultern genommen worden. Jetzt muss ich für dich nicht mehr stark sein. Jetzt kann ich mich in meinem dunklen Zimmer vergraben und dort die nächsten Tage der Trauer verbringen. Ich kann weinen so viel ich will, ohne Schuldgefühle zu haben, weil du stirbst und ich rumsitze und heule. Jetzt bist du ja schon tot.
Jetzt bin ich an der Reihe. Ich öffne die Autotür und steige aus. Die Welt hat mich wieder. Das Handy halte ich fest in der Hand. Ich will dir nahe sein. Und weil das nicht geht, kann ich so zumindest dem Foto von dir nahe sein. Ich laufe zielstrebig auf die Versammlung zu. Deine Mutter funkelt mich böse an. Andere schütteln den Kopf und wenden sich ab. Sie geben mir die Schuld an deinem Tod. Sie geben mir die Schuld, weil du mich liebtest und mit mir zusammen alt werden wolltest. Tja, das Schicksal ist uns zuvorgekommen. Aber wer weiß, vielleicht wartest du ja auf mich.
Ich bleibe noch eine Weile, während deine Verwandten längst gegangen waren. Immer noch lächelnd mache ich ein Foto von deinem Grab. Auch dieses würde ich in eines der Bücher legen und vielleicht irgendwann wiederfinden.




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