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Alte Freunde - von schellenkoenig, 28.06.2009
Die letzten beiden Jahre spürte er es schon in den Knochen, wie ihm der Aufstieg immer schwerer fiel.
In den Wipfeln der Pinien über ihm glänzte schon die Morgensonne, aber bedächtig und stetig folgte Umberto dem schmalen Pfad bergauf. Aus dem Hain führte der Weg durch eine ausgetrocknete Schmelzwasserrinne höher in den Hang, und als er auch die niedrigen Kiefern und Sträucher hinter sich gelassen hatte stand er vor dem Eingang zu einem natürlichen Steig aus Felsenstufen, die sich steil in die Höhe wandten. Umberto schob seinen Rucksack gerade und folgte den Stufen dieser Himmelsleiter weiter nach oben.
Gleichzeitig mit der Morgensonne erreichte Umberto die Zinne. Er ließ den Rucksack neben die Steinerne Bank sinken und setzte sich. Von der Steinernen Bank aus konnte ein Wanderer das gesamte Tal überblicken, östlich hinauf in die Marmorbrüche und westlich bis zu den Schornsteinen der Stadt am Horizont. Am Boden des Tals zog sich die Hauptstrasse in vielen Kehren bis zum Ort, der unterhalb der Steinernen Bank lag.

Versonnen blickte Umberto hinab auf sein Heimatdorf und ließ die Sonne den Schweiß von seinem Hemd abtrocknen. Der Frühling war gut. Im Tal leuchteten die Obstbäume in ihrer Blüte, hellgrün trieben die Oliven aus und der Steig zur steinernen Bank war seit Ostern wieder eisfrei. Jede Woche in den letzten zwölf Jahren hatte er sich aufgemacht und den Aufstieg unternommen. Auch im Winter, wenn Schnee und Eisplatten den Steig oft über Wochen im Griff behielten.
Es lebten nicht mehr viele Menschen im Dorf. Die Jungen gingen fort, zogen der Arbeit hinterher. Zurück blieben die Alten, Ruheständler wie Umberto, die für einander sorgten so wie sie es schon ihr ganzes Leben lang gewohnt waren. Von Kindesbeinen an kannten sie sich. Sie hatten ihre Schulzeit und Jugend gemeinsam verbracht und jeder hatte seinen Platz gefunden in der Gemeinschaft des Dorfes.
Umberto konnte einen blau-weißen Punkt beobachten, der langsam den Marktplatz überquerte, pünktlich als es zehn Uhr schlug vom Kirchturm. Auch der Dorfschulze, Massimo war bereits im Ruhestand, ließ es sich aber nicht nehmen, bis heute jeden Vormittag in voller Carabineriuniform über den Corso zu stolzieren.
Leise lächelte Umberto, als er an die Kinderschar seiner Dorfschulklasse zurückdachte. Ihre Lehrerin, Signora Totti, schalt sie täglich, wenn sie wieder Massimo zum Ziel ihrer Streiche gemacht hatten. Als sich zum Ende der Schulzeit bestätigt hatte, dass Massimo weder eine Neigung zur Arbeit noch die Fähigkeit zu geistiger Leistung innewohnten hatte sich die Dorfgemeinschaft daran erinnert, dass die Stelle eines Ordnungshüters seit langem unbesetzt war. So fand auch Massimo ein Auskommen in Würde, ohne dass er dabei Schlimmeres anrichten konnte.

Unter den jungen Leuten des Ortes gaben Stefano, Michele und Umberto den Ton an. So wie sie sich schon zur Schulzeit des Öfteren selbständig davon gemacht hatten und auf eigene Faust die Klettersteige und Höhlen ihrer bergigen Heimat erforschten, so konnten sich die Drei auch als Jugendliche nie bremsen, sobald einer auf eine neue gute Idee verfiel. Am meisten wetteiferten dabei Stefano und Michele, während sich Umberto mehr auf die Organisation der Ausführung verstand.
Außer den gemeinsamen Abenteuern verbanden die Freunde dann auch die gemeinsam erfahrenen Bestrafungen, die mit jeder Aktion ebenfalls drastischer ausfielen. Während vor den mehrtägigen Ausflügen der Schulkameraden in die Bergwelt noch die folgenden Internierungen in Keller und Stall zeitweise abgeschreckt hatten, waren zum Höhepunkt ihrer Aktivitäten die ortsüblichen Strafen längst nicht mehr ausreichend.
Die Jungen veranstalteten Autorennen, Box- und Hahnenkämpfe und betrieben zusätzlich ein florierendes Wettbüro. Bis in die Region reichte der Ruf der Veranstaltungen hinaus, so dass auch die Finanzpolizei aufmerksam wurde. Zwei Beamte wurden beim Bürgermeister vorstellig und stellten ihm Fragen. Die Beamten wurden höflich empfangen, aber ohne Antworten wieder auf den Rückweg in die Stadt geschickt. Über die Jungen wurde in den folgenden Tagen von ihren älteren Verwandten geurteilt, ohne weitere Untersuchungen oder einen sichtbaren Strafprozess, und es wurde unmittelbar vollstreckt.

Michele fand sich als Auszubildender in der Genossenschaftsbank wieder, Umberto in der Automobilfabrik im Norden und Stefano im Internat einer höheren Schule in der Hauptstadt. Ausser der Unterbrechung ihrer Freundschaft betrauerten die Drei damals auch den Abschied von Lucia. Ihre Schulfreundin und gelegentliche Teilnehmerin an Verschwörungen hatte sich zum Mittelpunkt ihrer Träume und eines sportlichen Wettstreits unter den Jungen entwickelt, wovon die Drei dachten, dass Lucia es nicht merke.

Während Umberto für gutes Geld noch einige Zeit in der Fabrik verlängerte, war Micheles Ausbildung wohl am schnellsten abgeschlossen, und am Tag von Umbertos Heimkehr kam er gerade noch rechtzeitig zur Hochzeit von Lucia und Michele. Offensichtlich hatte der junge Bankkaufmann seine Zeit gut genutzt. Nicht nur bei Lucia, sondern auch beruflich war Michele sehr aktiv gewesen. Vier Tage später trug Umberto einen Lederkoffer, einen neuen Anzug und eine teure Krawatte. Er saß in einem Fernreisezug, um Michele im Ausland bei der Abwicklung von Geschäften behilflich zu sein.
Die nächsten Jahre sah Umberto viel von der Welt. Als Vertrauter von Michele sah er für ihn nach dem Rechten, pflegte Kontakte und war besonders erfolgreich wenn es darum ging, stockende Verhandlungen wiederzubeleben oder säumige Schuldner auf den rechten Weg zurückzuführen.

Gelegentlich fand er Zeit zu Besuchen bei Stefano in der Hauptstadt. Nach der Oberschule war Stefano auf die Universität gegangen und zum Dottore der Rechtswissenschaften geworden. Mit seiner attraktiven Frau hatte er eine Familie mit zwei Töchtern, beglückwünschte Michele neidlos zu dessen Glück bei Lucia und plauderte offenherzig mit Umberto über die alten Zeiten, oft bis spät in die Nacht.

Umberto wusste, dass Michele ihn oft nicht über alle Hintergründe seiner Geschäfte einweihte. Dennoch spürte er, wie der Erfolg mit der Zeit immer schwerer und seltener zustande kam. Kontakte verschwanden spurlos, Kredite trugen keine Früchte und Umberto kam nur noch selten in sein Heimatdorf, weil ihn Michele immer öfter und länger auf Reisen schickte. Darüber war Umberto nicht unglücklich, denn wenn die Geschäfte nicht gut liefen war es nicht einfach, mit Michele auszukommen. An Lucia konnte Umberto deutlich ablesen, wie es um Micheles Stimmung stand. Bei jedem Besuch zuhause erschien ihm seine Schulfreundin blasser und stiller, und Umberto sah sich vor, vor Michele.

Vor zwölf Jahren dann, als Gino bei ihm anrief und ihm sagte, dass Lucia unerwartet gestorben sei, wunderte sich Umberto nicht. Er nahm das nächste Flugzeug nach Hause und am nächsten morgen traf er Gino am Aeroporte Fiumicino.
„Er ist in Sicherheit, bei Carlo und Andrea. Dieser Staatsanwalt, der uns jahrelang Schwierigkeiten gemacht hat. Michele will, dass er für eine Weile aussetzt im Spiel.“

Umberto hatte seine Aufgabe verstanden. Es war nicht das erste Mal, dass er zusammen mit Carlo und Andrea einen Geschäftsfreund auf diese Art betreute. Doch dieser Gast war schwieriger als alle vorherigen. Offensichtlich war das politische Interesse an seiner Person besonders hoch, und tagelang durchsuchten die Carabineri die Umgebung. Hubschrauber kreisten über dem Dorf und die Gazetten waren voll mit Nachrichten über den verschwundenen Staatsanwalt. Carlo und Andrea wurden nervös, machten einen Fehler und wurden bei einer Verfolgungsjagd erschossen. Der Staatsanwalt wurde nicht gefunden.
Als Wochen später die Untersuchungen eingestellt wurden, waren Micheles Geschäfte vollständig zum erliegen gekommen. Die Aufregung der letzten Wochen und Lucias Tod hatten Michele verändert, und er wurde auch in den folgenden Jahren nie wieder der Alte. Sie trafen sich jetzt täglich morgens im Café, vor dem Zeitschriftengeschäft oder gelegentlich auf dem Friedhof. Sie sprachen miteinander, aber es gab keine Neuigkeiten zu erzählen. Sie wussten beide, dass ihre Zeit vorbei war und dass sich inzwischen die Jungen um das Dorf kümmerten. Die Dorfgemeinschaft war immer noch stark, so wie in ihrer Jugend, und für Jeden wurde gesorgt.

Auf der Steinernen Bank war es warm geworden und es war Zeit, wieder abzusteigen. Umberto griff nach seinem Rucksack und öffnete ihn. Frisches Brot, Gemüse, Schinken, Kaffee, eine Gasflasche und ein Stück Seife.
Hinter der Steinernen Bank lag der Eingang zu den Höhlen, in denen sie als Schulkinder gespielt hatten. Seit damals war der Eingang mit Eichenbohlen verrammelt, so dass nur ein schaler Spalt über dem Boden frei blieb. Umberto schob den Proviant durch den Spalt und wandte sich zum gehen.
Manchmal hörte er ein Geräusch hinter dem Bohlenverschlag, ein Kratzen oder ein heiseres Krächzen. Nie war er sich sicher, ob überhaupt etwas zu hören war. Doch an manchen Tagen hatte er das Gefühl er höre es hinter sich dröhnen bis die Berge das Echo zurückwarfen, noch auf seinem ganzen Abstieg, bis ins Tal hinunter.
Er hatte sich daran gewöhnt, und wenn er nächste Woche wieder hier sein würde wusste er, dass die mitgebrachten Vorräte verschwunden waren, wie jedesmal.



©2009 by schellenkoenig. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

Kommentare


Von ScharkaliScharri
Am 03.07.2009 um 15:10 Uhr

es ist ein wenig umständlich erzählt, aber deine beschreibungen und schilderungen besitzen ein hohes maß an dichte. dem leser ist es möglich, sich in die situation einzufinden. und das ende ist dir gut gelungen. grauenvolle vorstellung ...

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Es gibt 1 Kommentar


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