Heute war einer der Tage, an denen der alte Mann seinen Zuhörern eine Geschichte aus dem Baum vorlas. Es waren mittlerweile über 100 Leute, die sich bei seinen „Lesungen“ einfanden, größtenteils aus den umliegenden Wohnhäusern. Manchmal war auch ein Reporter da.
Begonnen hatte es vor mehreren Monaten, als der alte Baum gefällt werden sollte. Er stand mitten in einer Wohnhaussiedlung. Eigentlich stand er schon ewig da, noch bevor auf diesem Areal überhaupt was gebaut wurde. Im Laufe der Zeit wurden die Bäume ringsum gefällt und es entstand eine Wohnsiedlung ringsum. Der alte Baum blieb, letztendlich wurde er zum Mittelpunkt einer Spielwiese. Unter seinem großen Blätterdach spielten die Alten Karten, Schach und Backgammon. Die Jungen knutschten nachts an seinen Stamm gelehnt oder machten ihn zum Mittelpunkt ihrer Spielabenteuer. Der alte Mann hatte Jahrzehnte seines Lebens in dieser Siedlung verbracht und speziell in den letzten Jahren eine besondere Beziehung zu ihm hergestellt.
Nun wollte die Wohnungsbaugesellschaft den Baum fällen, um einen Blumenladen mitten in die Wiese zu bauen. Als die Nachricht die Runde machte, war der Schock groß für den alten Mann. Aber auch viele andere Bewohner aus der Siedlung waren empört und so entstand sehr schnell eine Initiative gegen das Fällen des Baumes.
Der alte Mann wusste aus seiner Lebenserfahrung, dass dies nur eine Hinauszögerung sein würde. Man würde die große Mehrheit beschwichtigen, man würde in einer Stadtratssitzung die Gefahren die von dem alten Baum ausgingen analysieren, um dann letztendlich zu dem Ergebnis zu kommen das sein Verbleib nicht mehr tragbar wäre.
Er verbrachte immer mehr Zeit unter dem Baum, bis er eines Tages einen Rucksack mit allem notwendigen packte, sich eine Leiter besorgte und in den Baum stieg. Er wollte 1-2 Tage im Hause seines alten Freundes wohnen, dem Baum.
Der Tumult, der dabei entstand, ist aus anderen Aktionen hinlänglich bekannt: Unterstützung seitens der Umweltschutzorganisationen, Feuerwehr, Berichterstatter, Parteileute und viele andere mehr oder weniger interessierte. Nachdem der alte Mann bekanntgab, nach 2 Tagen wieder runterzukommen und belegen konnte, das er für diese Zeit alles nötige dabei hatte und auch geistig voll da wäre, legte sich die Aufregung. Der alte Mann zog sich im Blätterdach so weit zurück, das er aus dem Blickfeld der anderen geriet. An einen dicken, knorrigen Ast gelehnt gab er sich seinen Gefühlen für den „alten Freund“ hin. Er begann zu spüren, dass die Schwingungen seiner Gefühle immer mehr eins mit denen des Baumes wurden. Er versank in eine Art Trance und fühlte sich geborgener als zu jedem anderen Zeitpunkt der letzten Jahrzehnte.
Irgendwann viel ihm ein Blatt aus einem über ihm befindlichen Ast in den Schoß. Er nahm es mit zittrigen Händen auf, da ihn das Gefühl befiel, sein Freund würde mit einem langen Abschied beginnen. Als er es genauer betrachtete, wurde er hellwach. Das Baumblatt war beschrieben. Es berichtete von einem Tag aus dem Leben eines Anwohners der Siedlung. Der alte Mann betrachtete die Blätter ringsum und stellte fest, dass alle Blätter beschrieben waren.
Nachdem er einen ganzen Tag lang die beschriebenen Blätter gelesen hatte, kam er zu der Überzeugung das der Baum hier auf jedem Blatt Geschehnisse aus dem Leben der Menschen innerhalb des „Sichtkreises“ des Baumes gespeichert hatte. Und zwar seit dem Zeitpunkt der ersten Wohnungen bis heute.
Um nicht aufzufallen, kletterte er nach den angekündigten 2 Tagen vom Baum und verkündete , für ihn sei es eine Art Therapie, ein paar Stunden „auf dem Baum“ zu verbringen und er beabsichtige, dies täglich ein paar Stunden zu tun, so lange der Baum noch da sei. Die Menschen nahmen es mit einem Lächeln, teilweise auch mit Besorgnis und auch zum Teil mit Verständnis zur Kenntnis.
Daheim packte er ein paar mitgenommene Blätter aus seinem Rucksack, um weiter zu lesen. Er musste feststellen, dass es da nichts zu lesen gab. Die vorher beschriebenen Blätter waren grün und unbeschrieben. Am nächsten Tag kletterte er mit dem ersten Tageslicht wieder auf den Baum und stellte erleichtert fest, dass die Blätter wieder beschrieben waren.
Er konnte die Geschichten also bloß auf dem Baum lesen, stelle aber auch fest dass auf den abgerissenen Blättern die Zeilen zu verblassen begannen. Jedes Blatt würde also nur für eine gewisse Zeit seine Geschichte preisgeben und dies auch bloß auf dem Baum. Er empfand ein Gefühl großer Trauer: sollten diese Zeugnisse aus der Vergangenheit so vieler Menschen einfach so verschwinden? Jede der Geschichten, die er bisher gelesen hatte, offenbarten wahre Wunder, es waren keine Erzählungen irgendeines normalen Tages. Jede Geschichte berichtete über einen besonderen Tag eines Menschen, manche fröhlich, manche besinnlich, manche traurig.
Er beschloss, sich ein Aufnahmegerät zu besorgen und während des Lesens im Baum alle Geschichten aufzunehmen. Er besorgte sich mehrere der kleinen Technikwunder, wobei ihm einige Jugendliche sehr hilfreich zur Seite standen.
Nach ein paar Tagen fiel es auf, dass er mit einem Blatt vor seinen Augen stundenlange Diktate aufnahm.
Man war besorgt! Also erzählte der alte Mann die Wahrheit. Das eben auf jedem Blatt des Baumes eine Geschichte aus dem Leben eines Menschen, der in einer der umliegenden Wohnungen gelebt hatte oder noch lebte, zu lesen sei. Lachend erklommen etliche Menschen den Baum, doch keiner konnte was lesen. Sie hielten nur grüne Blätter in der Hand, welche der alte Mann ihnen besorgt abnahm.
Jetzt war man noch mehr besorgt! Der alte Mann ergriff die Flucht nach vorn und las ihnen eine der Geschichten vor.
Die Zuhörer staunten. Der alte Mann konnte faszinierende Geschichten erzählen. Man sah, dass er für sich sorgen konnte und außer dieser Eigenart, nur im Baum die faszinierendsten Geschichten zu erfinden, schien er ja noch in Ordnung zu sein. Im Laufe der Zeit wurde er so manchem unheimlich. Es geschah, das er Geschichten erzählte, in denen sich Menschen aus der Siedlung wieder erkannten oder zumindest diese jemandem zuordnen konnten. Also begann der alte Mann, die Geschichten, die er vorlas sorgsam zu selektieren, um nicht zu viele vor den Kopf zu stoßen.
Er wurde zu einer Berühmtheit! Menschen außerhalb der Wohnsiedlung kamen, um seine Geschichten zu hören. Aber auch Leute von lokalen Sendern, Zeitungen und sogar von einem kleinen Verlagshaus kamen vorbei. Nachdem ihm verschiedene Angebote gemacht wurden, die er anfangs alle ablehnte, blieb ihm nichts anderes übrig als sich das Urheberrecht für diese Geschichten anzueignen.
Unter dem Baum fand ein geselliges Treiben statt, Bänke wurden herbeigebracht, manche kamen mit Picknickdecken und Provisionen an Essen und Trinken, andere mit Aufnahmegeräten. An dem Baum hatte er ein bedrucktes Blatt angebracht, in welchem er die Aufnahme und Weitergabe der Geschichten gestattete, so lange diese nur für den persönlichen Gebrauch waren. Jede kommerzielle Wiedergabe war nur mit seiner ausdrücklichen Genehmigung erlaubt. Diese gab er ab und zu einer Zeitung, mit der Auflage, den ausgehandelten Betrag an die örtliche Naturschutzorganisation zu überweisen. Mit Hilfe seiner jugendlichen Fans waren auch 2 Lautsprecher und 1 Mikrophon installiert worden. Diese nutzte er, wenn mehrere Zuhörer da waren.
Unter dem Baum wurden noch 2 Behälter angebracht, eine mit frischem Wasser aufgefüllte Schale, in welche die abgefallenen Blätter gelegt wurden (diese nahm er dann jeden Tag mit in den Baum und las sie als erste). Die Zweite war für kleine Spenden, um den Baum (und auch den alten Mann)zumindest so lange am Leben zu erhalten, bis kein Blatt mit einer Geschichte mehr erschien.
Zumindest wurde im Stadtrat jede Entscheidung bezüglich des Schicksals des Baumes bei jeder Sitzung vertagt.