Schneewittchen Teil III
Niemand schien zu Hause zu sein. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um sich
an das dämmrige Licht im Hause zu gewöhnen. Sie ließ ihre Augen
umherschweifen. Hinten in dem einen Raum, der das ganze Haus auszufüllen
schien, stand ein großer Kamin aus rau behauenen Steinen. Etwas Feuerholz
war daneben aufgeschlichtet. In der Höhlung des Kamins hing über einem
Dreibein ein großer eiserner Kessel. Mitten im Raum stand ein langer roh
gezimmerter Tisch und sieben ebensolche Stühle. Der Tisch war gedeckt,
tönerne Teller, Krüge und Becher standen dort. Ein großer Laib Brot lag
in Linnen gehüllt mitten darauf, daneben ein Tontopf mit Schmalz. Sie
fasste sich ein Herz, hockte sich erschöpft auf einen dieser etwas kleinen
Stühle, brach sich ein Stück Brot herunter, gönnte sich einen Schluck
Wein aus einem der Becher, tunkte das Brot in den Schmalztopf und aß ein
wenig.
Dann sah sie sich wieder um und entdeckte in der anderen Ecke des Raumes
eine schmale Treppe, die bis unters Dach reichte. Vorsichtig stieg sie
neugierig die knarrenden Stufen empor und erreichte einen Raum der dunkel
vor ihr lag. Sie nahm ein Öllämpchen von der Wand, entzündete es und sah
dann im flackernden Licht sieben Bettstätten, auch merkwürdig klein und
sieben mächtige Truhen, die allesamt den Raum nahezu ausfüllten. Beim
Anblick der Betten überkam sie eine große Müdigkeit. Sie legte ihr Wams
ab, darunter trug sie ein linnenes Hemd, löschte das Licht und ließ sich
bäuchlings auf das nächstbeste Bett fallen. Sofort versank sie in einen
tiefen Schlaf.
Beim letzten Tageslicht vollzog sich eine merkwürdige Prozession im Wald.
Sieben etwas kleingeratene Burschen stiefelten im Gänsemarsch heran. Sie
hatten ihre Werkzeuge, Äxte, Hacken und Pickel geschultert, und sangen aus
voller Kehle, so dass die Vögel erschreckt davon stoben und ehrfurchtsvoll
verstummten. Die Fischerchöre waren ein Nichts dagegen.
„Brüder wir sind wieder zu Hause" stellte Johann Sebastian fest.
„Ich habe einen Bärenhunger. Was knurrt mir mein Magen" fügte Zacharias
hinzu. Er war der zweitälteste der Brüder.
„Brüder, Brüder! Jemand war in unserem Häuslein" stellte plötzlich
Wolfgang Amadeus mit erschrecktem Ausruf fest.
Er war etwas vorausgelaufen, da er heute Küchendienst hatte. Die anderen
liefen aufgeregt herbei und schnatterten wild durcheinander.
„Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?"
„Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?"
„Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?"
Aufgeregt liefen sie in ihrer Stube umher und schauten misstrauisch in jeden
Winkel, unter den Tisch, hinter die Gardinen.
„Und was meint ihr, wer in meinem Bettchen schläft?" stellte plötzlich
Franz Josef fest, der mit kalkweißem Gesicht die Treppe herunterkam.
„Ein Fremder, ein fremder Jägerknappe in meinem Bett. Ich glaube, mir
blieb mein Herz stehen, als ich ihn sah."
Johann Sebastian fasste sich als erster ein Herz und ging vorsichtig, ganz
vorsichtig die Treppe zum Schlafraum hinauf, nicht ohne seine Brüder noch
zu ermahnen ruhig zu sein und unten zu bleiben.
Es dauerte eine geraume Weile, bis er wieder mit todernster Miene
herunterstieg. Er deutete auf seine Lippen und machte nur
„Pssst, Brüder, seid still!"
Dann überzog ein Lächeln sein Gesicht und zu Franz Josef gewandt meinte er
spöttisch
„Du bist ein Dussel, Brüderchen. Von wegen Jägerknappe. Da oben schläft
ein Mädchen, ein besonders hübsches sogar. Das sieht man doch gleich."
„Ein Mädchen, ein Mädchen!" riefen alle durcheinander,
„Aber was machen wir denn da?" meinte Zacharias.
„Wieso hast du das gleich gesehen, das das ein Mädchen ist, Johann
Sebastian?",
wollte Franz Josef neugierig von seinem großen Bruder erfahren.
„Wart nur Brüderchen, in ein paar Jahren werd ich’s dir verraten. Wenn du
bis dahin noch nicht selber darauf gekommen bist."
Teil IV