Chaos. Das war das Wort, welches am besten geeignet für den momentanen Zustand in der Evergreen Street war. Die Vorort-Siedlung war eine friedliche Gegend, sauber, rein, brav. Breite Straßen legten sich im Fächermuster über die grünen Hügel North Cornwalls, akkurat geschnittene Hecken trennten pastellfarbene Einfamilienhäuser, alle auf die selbe Höhe gestutzt wie die Rasenflächen in sattem Grün mit kleinen weißen Schildchen („Dies ist kein Hundeklo“) oder kleinen weißen Zäunchen, die nicht zur Abwehr von Einbrechern gedacht waren. Die Security Guards bewachten das eingezäunte Viertel und sorgten dafür, dass unerwünschte Gestalten, Tag wie Nacht, den Frieden der reichen Bewohner mit ihren Swimmingpools, schweren, teueren Wagen und lächelndem Vorzeigecharme nicht störten. So einfach allerdings die Abwehr von außen war, mit einer derartigen Störung des Friedens in der Siedlung waren sie im ersten Moment völlig überfordert und machtlos. Es waren ja schließlich Kinder. Doch keiner konnte rausfinden, wie es diesen Kindern gelang, in die Siedlung mit ihrer perfekten Überwachung einzudringen. Sie waren einfach nur da und brachten das Chaos mit sich.
Das Mädchen, welches momentan die Leute in der Evergreen Street in Atem hielt, tauchte genau so urplötzlich auf wie die anderen drei vor ihr. Alles Mädchen. Alle ungefähr im selben Alter von 14 Jahren. Mädchen, denen nichts daran gelegen sein sollte, so negativ auffallend und peinlich auf sich aufmerksam zu machen. Mädchen, die zur Schule gingen, mittags und nachmittags im Einkaufszentrum „Sandies“ abhängten und mit Jungs flirten sollten, während sie dabei verlegen an der Ein-Dollar-Eistüte von „Marcellos“ naschten und kicherten. Mädchen, auf der Suche nach Stil, Einstellung, Erfahrung und wenn es denn sein musste, einen Selbstfindungstrip mit Drogen und Alkohol (natürlich immer nur so viel, das man davon nicht abhängig wurde).
Im Grunde genommen waren sie normale Mädchen. So wie sie ihre Eltern niemals haben wollten, aber eine konsequente Fortsetzung von Lebensidealen und –vorstellungen auf die nächste Generation waren.
So wie Sophie Collins, die fasziniert das fremde Mädchen in der Evergreen Street beobachtete. Möglichst weit weg beobachtete. Nicht auszudenken, wie peinlich das wäre, wenn die Verrückte sich an ihrer Seite zeigen würde. Sophie warf einen Blick die Straße hinab und stellte zufrieden zweierlei fest: Erstens hatte sie einen wirklich guten Blick auf das Schauspiel im Vorgarten drei Häuser weiter, da sie auf der Veranda des Hauses ihrer Eltern saß und über die Köpfe der Schaulustigen, bestehend aus Nachbarn und einem Security Guard, der mit ruderndem Arm in sein Funkgerät brabbelte, blicken konnte. Zweitens war weit und breit keine ihrer Freundinnen zu sehen und somit hatte sie die Exklusivrechte an der Story mit der Verrückten. Sobald sich das Schauspiel dem Ende zuneigen sollte, wird Sophie telefonieren und erzählen, telefonieren und erzählen, telefonieren..
„Hallo, Sophie.“
Sie schreckte hoch, hielt die Luft an, sah das Gesicht der Stimme und fiel beinahe rückwärts auf die Bodenbretter. „Mensch, Claire. Musst du mich so erschrecken.“
Völlig unbeeindruckt von der wütenden Sophie streckte Claire ihren Hals und beobachtete das nunmehr hysterisch schreiende Mädchen drei Häuser weiter. „Wieder eine,“ kam ihr als Antwort über die Lippen. Sophie behielt die Fassung und setzte sich wieder auf die Treppe. „Ja, und wieder eine völlig Fremde.“
Das Phänomen der Mädchen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten, nahm vor etwa fünf Wochen seinen Lauf. Es begann mit einer blondhaarigen, relativ hübschen, etwas dünnen Teenagerin, die eines mittags vor dem Haus der Stewarts auftauchte, den Vorgarten in Beschlag nahm und brüllte und schrie, was das Zeug hielt. Sofort hatte sie neben Mrs. Stewart und ihren kleinen, fünfjährigen Sohn auch die Aufmerksamkeit der ganzen Straße. Die arme Mrs. Stewart, so erzählte man sich, war völlig verstört angesichts der Tatsache, das da ein Mädchen auftauchte und von sich behauptete, ihre Tochter zu sein. Die Blonde kam, so mir nichts dir nichts, in das Haus, warf ihre Tasche auf einen Hocker in der Küche und sagte, völlig normal und frech „Tag, Mum, was gibt’s zum Essen?“ Mrs. Stewart fiel der Kochlöffel aus der Hand vor Schreck. Es war zwar üblich, das gerade in dieser Siedlung kaum jemand die Haustür absperrte, da sich immer wieder die freundlichen Nachbarn gegenseitig besuchten. Nicht üblich war es allerdings, in fremde Häuser zu marschieren und Leute zu erschrecken. Im ersten Moment dachte Mrs. Stewart an einen ganz üblen Scherz. Als das Mädchen allerdings nach mehrmaliger Aufforderung nicht verschwinden wollte, griff Mrs. Stewart, jetzt von Angst übermannt, zu einem langen, scharfen Küchenmesser und vertrieb das Mädchen, sperrte ab, nachdem sie erst panisch nach dem Schlüssel suchen musste, und zog die Vorhänge zu, da der Teenie keine Anstalten machte, auch von ihrem Vorgarten zu verschwinden. Im Gegenteil, der Horror begann jetzt erst. Das Mädchen versuchte natürlich, durch den Garten in das Haus zu gelangen. Nachdem der Versuch misslang, fing sie an, gegen die Haustür zu hämmern, während sie zunehmend lauter und hysterischer, ganz in Tränen aufgelöst, nach ihrer angeblichen Mutter rief. Beinahe konnte man glauben, Mrs. Stewart sei tatsächlich ihre Mutter, so herzzerreißend und traurig schrie das Mädchen immer wieder „Mum. Lass mich rein. Mum. Was soll das? Mum. Hast du mich nicht mehr lieb? Mum, Mum, Mum.“ Doch Mrs. Stewart hatte nie eine Tochter. Der Sohn, Bobby, fing ebenfalls zu weinen an und Mrs. Stewart blieb nichts anderes übrig, als ihren Mann und die Polizei zu verständigen.
Als Carl Stewart mit seinem Mercedes eintraf, war schon eine beträchtliche Menge Schaulustiger versammelt. Das Mädchen hatte teils selbst dafür gesorgt, indem sie die Straße entlang lief und jeden ansprach bzw. aus dem Haus klingelte. Sie behauptete felsenfest, Dorothy Stewart zu sein. Jeden in der Straße kannte sie mit Namen, was dem Schauspiel eine zusätzliche Portion Mystisches verlieh. Die meisten kratzten sich am Kopf, versuchten angestrengt, sich an den Namen Dorothy Stewart zu erinnern, aber es lief immer wieder auf das selbe hinaus: Die Fremde blieb fremd. Keiner kannte sie. Bei einigen wurde sie sogar handgreiflich, trommelte mit ihren Fäusten gegen die Schultern von Jimmy Denver, der sie angeblich entjungfert hätte („das würde ich wissen, Missy“), riss Mary Garding das Handy aus der Hand und wollte ihr zeigen, das ihr Name und Nummer in dem Telefon gespeichert waren („Ich würde niemals von so einer Irren die Telefonnummer in meinem Handy haben“). Resigniert zog sie wieder vor das Haus der Stewarts und rief, wenn dem so sei, dann wäre nichts Persönliches von ihr in dem Haus und fing an, mit Steinen die Fensterscheiben zu zertrümmern, um sich so Einlass zu verschaffen und die Leute vom Gegenteil zu überzeugen. In dem Moment kam Carl Stewart nach Hause, drängelte sich durch die Menschen und stellte zu seiner Erleichterung fest, das auch die Polizei schon im Anmarsch war.
„Daddy,“ rief das Mädchen, als sie Carl sah, „Daddy, Gott sei Dank, sag Mum und allen anderen hier, wer ich bin.“ Sie lief auf ihn zu, brach in Tränen aus und wollte ihn umarmen. Aber Carl hatte ebenfalls noch nie das Mädchen gesehen und hielt sie auf, hielt sie fest. Mit entsetztem Blick warf sich das Mädchen hin und her, wollte sich losreißen, wollte weglaufen. Die angebliche Dorothy Stewart wurde unter den Augen Dutzender Schaulustiger von zwei Polizisten weggebracht. Als die Stewarts zu dem Vorfall von Chief Roddick verhört wurden und die Sprache auf das vermeintliche Zimmer des Mädchens kam, stellte sich heraus, das da, wo Dorothy behauptet hatte, ihr Kinderzimmer zu haben, eine Gerümpelkammer war. Der Name Dorothy Stewart war niemanden, auch nicht Mr. Reid, dem Rektor der Highschool, in der sie angeblich ging, bekannt. Es war tatsächlich so, das dieses Mädchen aus heiterem Himmel auftauchte und genau so schnell wieder verschwand. Die Polizei konnte nichts aus ihr heraus kriegen, was auf die Identität des Mädchens hindeutete, noch herausfinden, ob sie vielleicht unter den vermissten Mädchen in der Datenbank der Zentrale war. Es war unglaublich, aber dieses Mädchen hatte keine Herkunft, keine Papiere (in dem Rucksack des Mädchens fanden sich nur ein paar Schulbücher, die man in jedem Buchladen kaufen konnte), keinen Hinweis auf nichts. Sie war einfach nur da. Nachdem die Polizei ihre Arbeit getan hatte, kam das Mädchen mit dem Namen Dorothy „Kansas“ (so wurde sie von Roddick getauft) in die geschlossene psychiatrische Anstalt „Highfield“. Dort verlor sich ihre Spur, da nur „Angehörige“ Zutritt zu dem Anwesen hatten. Es gab jedoch das Gerücht, das die Mädchen, Dorothy und die zwei nach ihr, Mandy und Carla (ebenfalls „Kansas“ mit Nachnamen, laut Roddick) auf noch ungeklärte Weise aus dem Sanatorium entkommen sind.
Und nachdem sich in so oder ähnlicher Folge die Vorfälle mit den anderen beiden Mädchen wiederholt hatten, war jeder gespannt auf die nächste Folge dieser Wahnsinns-Serie. Mandy, die Zweite, war ein ebenfalls blondes Mädchen, das behauptete, die Tochter der Sisslers zu sein. Carla nannte sich Young und terrorisierte die gleichnamige Familie eine geschlagene Stunde, bevor die rothaarige, in Cheerleader-Klamotten gekleidete, Verrückte von der Polizei abgeholt wurde.
„Ich glaube, ich habe sie schon mal irgendwo gesehen.“ Claire war ganz fasziniert von dem Theater, dass die Neue veranstaltete.
„Ach. Plötzlich findet sich doch jemand, der die Irre kennt.“ Sophie spottete, aber Spott machte Claire nichts aus. Sie war es gewohnt, als Sonderling behandelt zu werden. „Wie kommt es, das ausgerechnet du diese Fremde kennst? Ach ja, wahrscheinlich seid ihr beide aus dem selben Land „Komischstan“ oder „Hässlichstan“ oder „Blödistan“?“
Claire blieb völlig unbeeindruckt und beachtete Sophie nicht. Schon seltsam, dachte sich Sophie, sie hat immer die gleichen Fummel an. Eigentlich müsste sie zum Himmel stinken. Aber ich rieche an ihr nur Rosenduft. Sogar sehr schönen und betörenden Rosenduft.
Während die Fremde nun, ebenso wie ihre Vorgängerinnen, damit begann, das Haus mit Steinen zu bewerfen, war Sophie fasziniert abgelenkt von der seltsamen Claire. Sie ging in die selbe Klasse wie Sophie, aber im Gegenteil zu ihr war Claire ein wahrhafter Sonderling und Außenseiter. Sie trug immer diese Zöpfe, die ihr langes, blond-gelbliches Haar gezähmt hielten und ihre Mutter wusste offenbar nichts von trendiger Mode a la „Gap“ oder „Mary-kateandashley“. Angezogen war sie mit einem kleinkarierten weiß-grauem Hemd, über den sie einen grünen Polunder trug, dazu einen grauen, knielangen Rock und weiße Strümpfe mit schwarzen Halbschuhen. Das Erscheinungsbild Claires war, abgerundet mit der Brille und einer Zahnspange, mindestens so gruselig wie die Verrückte drei Häuser weiter. Aber am seltsamsten war dieser Duft von Rosen. Man erwartete es oder noch besser: Solche Menschen wie Claire waren geradezu verpflichtet, nach Mottenkugeln und Moder, gepaart mit Schweiß, zu riechen. Aber Claire hatte immer diesen betörend süßlichen Geruch an sich. Das machte sie aber nicht beliebter, im Gegenteil: Je sonderbarer sich solche Kids benahmen, und sei es auch der Duft, der einfach nicht zu ihr passte, desto unangenehmer wurde es für sie in der Wildnis der Jugend. Sie wurde gehänselt mit Namen wie „Dornengestrüpp“ oder „Stinker“ anstelle von „Monsterfresse“ oder „Vierauge“. Wenn Kids wollten, fanden sie immer etwas, um Sonderlinge treffend zu umschreiben.
Das Claire es überhaupt wagen durfte, sich hier neben Sophie auf ihre Veranda zu stellen, konnte nur daran legen, dass alle Aufmerksamkeit momentan der Fremden die Straße rauf galt.
„Wie nennt sie sich.“ Claire setzte sich neben Sophie, die sofort für den richtigen Abstand sorgte, indem sie selbst aufstand und sich in den Schaukelstuhl ihres Vaters verzog.
„Lisa.“ Sophie stellte zufrieden fest, das Claire ihre Position akzeptierte. „Lisa Wright. Mrs. Wright wäre beinahe mit einem Besen auf das Mädchen losgegangen. Die ist kurz vor dem Durchdrehen.“
„Die Arme. Sie hat bestimmt eine Riesenangst.“ Claire untersuchte ihre Fingernägel nach schwarzen Klümpchen.
„Meinst du jetzt die Verrückte oder Mrs. Wright?“
„Ich meine Lisa,“ sagte sie ganz in ihre Finger vertieft, „wenn sie denn so heißt.“
„Weißt du, was mich das interessiert?“ Sophie konnte sich nicht erklären, wieso Claire Mitgefühl mit dem Mädchen hatte. Sie beugte sich vor. „Einen Sack voll Pfurze interessiert mich das“ sagte sie herablassend. „Die hat das Irrenhaus genau so verdient wie die anderen auch. Wo kommen wir dahin, wenn jeder frei rumlaufen und irgendwelches irres Zeug von sich geben könnte?“ Sophie blitzte auf den grünen Rücken des Polunders und fügte leise hinzu „Es laufen sowieso schon genug Irre frei rum.“
„Was?“ Claire schreckte hoch, als wäre sie aus einem Gedanken gerissen worden, der ihr schwer auf der Seele lag.
„Was hast du gesagt?“
„Ach, nichts.“ Sophie winkte ab und lächelte in sich hinein. Wenn sie Lisa ins Irrenhaus fahren, könnten sie Claire doch am besten auch gleich mitnehmen, dachte sie sich, als der weiß-blaue Einsatzwagen des Cornwall-Police-Departments an ihnen vorbei zog und die Menge auseinander hupte.
„Wie kommt es eigentlich, dass du nie zu meinen Teepartys kommst?“
Völlig ernsten Blickes musterte Claire die beliebteste Schülerin der Jahrgangsstufe. Sophie war entsetzt. Sie konnte es nicht fassen, was sie da gerade gehört hatte. Alleine der Gedanke, mit Claire und womöglich ihrer Mutter sowie ein paar seltsamen Freunden oder Verwandten eine „Teeparty“ zu veranstalten, brachte ihre schlimmsten Alpträume zum Verstummen. Die einzige Antwort, die ihr einfiel, war ein schockierter Blick.
„Du brauchst mir nicht zu antworten. Ich habe mich nur gefragt, warum du und die anderen es nicht ausstehen können, mit mir zu spielen.“
Jetzt ging sie zu weit.
„Niemals hat irgendjemand von uns gesagt, er würde mit dir nicht spielen wollen. Aber hey, wir sind mittlerweile etwas aus dem Puppen und Teeparty – Alter rausgewachsen, meinst du nicht?“
Sophie erntete auf diesen Spruch eine weinende, schluchzende Antwort. Claire versuchte, gefasst zu klingen, es gelang ihr aber nur bedingt. „Jedes mal, egal wen ich frage, immer wieder, bekomme ich die selbe Antwort.“
Sie drehte sich zu ihr und Sophie konnte diesen Augen, diesen hellblauen Augen nicht ausweichen.
„Immer wieder sagt ihr dasselbe: Wir sind zu alt, wir spielen nicht mehr.“
Claire wischte sich die Tränen ab und stand auf. Ihre Stimme klang gereizter, wütender. Die Augen bannten Sophie.
„Wir können heute nicht, morgen nicht, niemals nicht. Und alles nur Ausreden.“
Sie machte einen Schritt auf Sophie zu.
„Claire. He.“ Sie konnte einfach nicht von diesen Augen ablassen. „Was willst du? Bleib cool. Ich habe doch nur gesagt..."
„DU.“ Claire hob ihre linke Hand. „Du hast das gesagt, was alle sagen. Nur ausgesprochen hast du es nicht.“
Im Garten der Wrights mit der Verrückten spielten sich tumultartige Szenen ab, als die Polizisten versuchten, das Mädchen einzufangen. Mit Verstärkung seitens der Anwohner brauchten sie nicht zu rechnen. Keiner wollte diesem Mädchen zu nahe kommen.
„Du sagst“ - Claire hob ihre Stimme - „du möchtest nicht mit mir spielen? Aber ich weiß, was du, was alle, wirklich sagen. Mit Claire spielen, o Gott, neiiiin. Doch nicht mit der. Die ist doch völlig abartig, unreif und bestimmt total einfältig, mh?“
Sie baute sich vor ihr auf und hielt immer noch ihren Arm ausgestreckt vor sich, deutete mit dem Finger auf Sophie, die sich immer tiefer in den Schaukelstuhl vergrub.
„Sag was!“
„Was willst du von mir, Claire? Ja, du hast Recht. Keiner will mit dir spielen. Du bist nichts. Du bist ein Außenseiter, ein Niemand, eine Null, eine Verliererin.“
Claire hielt inne und Sophie verspürte eine Chance, die bedrohende Situation mit Klugheit und Charme zu meistern. Die Polizisten hielten die völlig hysterische Lisa am Boden. Ihre Schreie waren im ganzen Viertel zu hören.
„Jetzt beruhige dich wieder. Ich könnte ja mal in meinem Planer nachschauen, ob ich nicht doch mal Zeit hätte, zu einer deiner Teepartys zu kommen.“
Die Augen! Sophie konnte einfach nicht von diesen Augen lassen. Claires Stimme erschien ihr jetzt wie von der anderen Straßenseite. Was war das? Wieso wurde ihr so schummrig? Immer noch deutete der Finger auf sie. Claire tat einen Schritt vorwärts und Sophie lies es zu, dass der Finger sie an der Stirn berührte.
Völlig ruhig und freundlich sagte Claire „Ohh, du wirst kommen. Letztendlich kommen doch alle zu meiner Teeparty. Und weißt du was?“
Sophie brachte sich nicht mehr unter Kontrolle. Sie stand völlig im Bann des Mädchens. Monoton brachte sie heraus „was, Claire?“
„Die anderen freuen sich auch schon auf dich. Dorothy, Mandy und Carla. Die sind schon da und, Ach ja.“ Sie ließ mit dem Finger von ihrer Stirn ab und deutete die Straße rauf. Sophies Blick folgte der ausgestreckten Hand. „Lisa. Die wird auch kommen. Vielleicht schon morgen. Vielleicht erst in ein paar Tagen. Aber letztendlich kommen sie alle zu meiner Teeparty. Und du?“
Sie lächelte Sophie gütig ins Gesicht, drehte auf dem Absatz und hüpfte vergnügt die Treppe von der Veranda hinab. Im selben Augenblick fuhr der Dienstwagen der Polizei mit Lisa auf dem Rücksitz hinter ihr vorbei. Lisa starrte Sophie lächelnd an und winkte!
„Du wirst auch kommen! Bis dann!“ Claire blieb kurz stehen, warf Sophie einen Handkuss zu, blinzelte mit ihren wunderschönen, hellblauen Augen und trottete summend die Straße hinauf.
Sophie schüttelte sich am ganzen Leib, riss ihren Blick von der, nein, von den zwei Verrückten. Die eine auf der Straße und die andere im Wagen. Sie versuchte sich zu sammeln, wurde aber das merkwürdige Gefühl nicht los, das gerade eben etwas Magisches geschehen war.
Was war das, dachte sie sich. Wieso hat sie mich an der Stirn berührt. Die ist doch verrückt. Sie versuchte zu lachen, aber ein mulmiges Gefühl blieb zurück.
„Das wird noch ein Nachspiel haben, du Irre“ rief sie Claire hinterher, aber war sich nicht sicher, ob sie noch gehört wurde. „Das wird noch ein Nachspiel haben. Ich werde es allen erzählen, wie verrückt du wirklich bist.“
Sophie öffnete die Tür ins Haus und ging zum Telefon. Sie würde alle anrufen, sogar die Typen, mit denen sie sonst nie reden würde. Allen würde sie erzählen, dass sie sich ja von Claire fern halten sollten. Die ist doch nicht mehr bei Trost. Jetzt wird sie auch noch handgreiflich. Sie hat sie eindeutig angegriffen. Noch während sie überlegte, ob es ausreichen würde, die Irre wegen Belästigung dran zu kriegen, kam ihr Vater die Treppe hinab.
„Hey, Dad. Du wirst nicht glauben, was mir gerade passiert ist!“
Mr. Collins hielt auf halber Strecke die Treppe hinab entsetzt inne, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
„Wer bist du?“
„Dad? Was meinst du?“
„Raus aus meinem Haus.“
Christian Ertl
christianertl@gmx.de