Es war dunkel und der Mond stand in einer schmalen, silbernen Sichel am Himmel. Wenige Passanten waren auf dieser Brücke unterwegs und gelegentlich fuhr ein Auto vorbei. Dieser Stadtteil gehörte nicht zu den Touristenattraktionen.
Die junge Frau zog ihre Strickjacke enger zusammen und senkte den Blick, als ein Pärchen an ihr vorüber ging. Melusina sah auf das dunkle Wasser hinunter.
Es wirkte einladend.
Wieso war sie hier?
Sie war von zu Hause geflohen. Hatte es dort nicht mehr ausgehalten, als ihre Zwillingsschwester gestorben war. Es hatte sie zerrisen. Ein Teil ihres Selbst fehlte. Alles um sie herum hatte sie an ihre Schwester erinnert. Sie wollte diese Erinnerung löschen, wollte den Schmerz vergessen und war entflohen.
Um welchen Preis?
Widerwillig löste sich ihr Blick vom Fluss, sah sich um und seufzte. Das war nicht ihre Welt. Sie gehörte hier nicht her. Melusina schlenderte am Brückengeländer entlang und ließ die Finger über die Eisenstange gleiten. Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet und fanden immer wieder zum Wasser zurück.
Plötzlich prallte sie gegen etwas Großes.
„Na, was ist mir denn da Hübsches in die Arme gelaufen?“, feixte ein blonder Kerl und fasste Melusina an den Schultern.
Genüsslich betrachtete er ihre Oberweite, die sie versucht hatte, unter der groben Strickjacke zu verbergen. Ihre schmale Taille und ihr rundes Becken ließen sich mit keiner Kleidung vereinbaren. Melusina wirkte in allen Sachen anziehend. Sie hasste es, auf ihr Äußeres reduziert zu werden. Nicht viele Mädchen hatten so eine blasse Haut, so große, dunkelblaue Augen und so hellblondes Haar, das ihr bis über den Po hinab reichte. Allein dieses Aussehen brachte ihr begierige Blicke ein. Dazu kam ihr Wesen, die Aura, die sie ausstrahlte. Es war keine Absicht, aber sie konnte es nicht verhindern. Es lag ihr im Blut, dass sich die Männer nach ihr verzehrten.
Wie sie es hasste.
„Lass mich los“, fauchte sie und schüttelte sie die Hände des blonden Kerls ab.
„Hab dich nicht so“, erwiderte einer seiner Freunde hinter ihm.
Jetzt erst erkannte Melusina, dass sie zu viert waren. Sie hatten sie eingekreist und grinsten sie an.
„Ein hübsches Mädchen wie du, wird sich doch nicht verstecken wollen?“, fragte der Blonde und zerrte an ihrer Strickjacke.
„Hör auf!“
„Dein Haar ist wie Seide“, meinte ein anderer, während er seine Finger hindurch gleiten ließ.
Melusina durchliefen unbehagliche Schauer. Das war ein weiterer Grund, nicht mehr hier sein zu wollen. Sie hasste diese Menschen. Konnten sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? Wut brodelte in ihr. Eindringlich starrte sie den blonden Kerl vor sich an. Ihr Blick bohrte sich durch seine Stirn, suchte.
„Nimm deine dreckigen Finger von mir, Philippe", flüsterte sie.
Der Blonde zuckte zusammen und wich zurück.
„Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt“, scherzte einer seiner Freunde.
„Tun wir nicht“, meinte Philippe verwirrt.
„Vielleicht warst du besoffen“, sagte ein anderer und lachte.
Philippe sagte nichts und schaute Melusina eingehend an. Er versank in ihren dunklen Augen und sah darin Wut und Verzweiflung.
Und dann entdeckte er etwas anders.
Ihn verschlang eine kalte Dunkelheit, eine Stille mit verzerrten Gesichtern hinter wabernden Schleiern. Ein Fauchen, Krallen, ein Maul voller spitzer Zähne. Philippe trat zwei weitere Schritte zurück und fand das Mädchen plötzlich gar nicht mehr hübsch. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, die Augenbrauen zusammen gezogen und ihre Schultern bebten. Jeden einzelnen Mann schaute sie auf die gleiche intensive Weise an.
Schwebten ihre Haare nicht einen Moment um ihren Körper?
Seine Freunde taten es Philippe gleich. Angst breitet sich in ihnen aus. Sie stolperten auf die Straße, die Augen auf das unheimliche Mädchen gerichtet und wurden beinahe überfahren. Der Wagen hupte lautstark und schlug einen Bogen um sie.
Bremsen quietschten.
Der Fahrer brüllte wütend aus dem Fenster.
„Passt auf, wo ihr hin lauft, ihr Verrückten!“
Phillipes Freunde wandten die Augen von Melusina. Verunsichert merkten sie die gaffenden Gesichter der anderen Spaziergänger. Hatten sie sich alles eingebildet? Sie warfen dem Mädchen einen letzten flüchtigen Blick zu, dann grinsten sie sich an.
„Ist doch nichts passiert", riefen sie und lachten den Fahrer aus.
Die Jungs klopften auf seine Kühlerhaube und eilten mit Phillipe die Straße hinunter.
Melusina dröhnte der Kopf. Es war ihr alles zu laut, zu hart und zu grell. Wollte, dass es ein Ende hatte. Sie drehte sich zum Geländer herum und schaute in den Fluss hinab.
Wenn sie es tat, gab es kein zurück mehr.
Aber was hielt sie schon?
Geschmeidig schwang sie sich über das Geländer und beugte sich weit nach vorn.
Eine Passantin schrie auf.
Melusina musste sich beeilen, wenn sie nicht von einem der Menschen aufgehalten werden wollte. Ihre schmalen, blassen Finger ließen das Geländer los und sie stürzte hinab. Die Leute über ihr, mit ihren lauten Ausrufen, ließ sie hinter sich. Sie tauchte ein in das kalte Wasser, dass alle Geräusche abdämpfte. Melusina glitt durch den Fluss und streifte ihre Kleider ab. Sie brauchte sie nicht mehr. Ihre langen, blonden Haare bildeten einen Schleier um sie. Ihr Oberkörper wurde in fließenden Bewegungen eingehüllt und ließen nur den Fischschwanz erkennen, der sich zurück verwandelt hatte, wo vor kurzem ihre Beine waren. Melusina schwamm befreit um die mit Algen bewachsenen Felsen, weiter auf das Meer zu.
Nichts würde sie zu den Menschen zurück bringen.
Sie war zu Hause.
I laugh in the face of danger - then I hide till it goes away.
Von Gaehn
Am 10.03.2009 um 10:47 Uhr
Von Jason-Potter
Am 10.01.2009 um 20:33 Uhr
LG Ralf
Von Aabatyron
Am 20.12.2008 um 21:00 Uhr
Gefällt mir wirklich gut!