10 Minerva, 1084 Laurane; morgens
Manchmal ist es notwendig, inne zu halten und zurück zu blicken. Denn zur selben Zeit der eben berichteten Ereignisse, trug sich in Kyntos einiges zu, das der Erwähnung wert scheint. Da aber die Chronologie in ihrer Gesamtheit nicht gestört werden darf, soll das vergangene Kapitel noch einmal erzählt werden, nun aber schweift der Blick hinüber in die Hauptstadt der Baronie Smatis.
Als Khalid bereits durch unsanfte Träume geweckt wurde, schlief Alef noch. Er hatte Glück gehabt, Yasemina hatte am Vorabend bereits geschlafen. Doch lange sollte dieses Glück nicht währen.
Es war, als wäre ein Orkan über ihn hereingebrochen. Der Wind hieb mit Schlägen und Tritten auf ihn ein, das Heulen war ohrenbetäubend. Seltsamerweise schien es fast, als wären aus dem Geheule Worte zu vernehmen.
„Du hundsgemeiner Kerl! Verschwindest einfach und ich sitze hier und mache mir Sorgen und alles!“ Halb erwacht versuchte Alef, sich aufzurappeln, doch die überraschend realen Hiebe, die von der Seite kamen, hielten ihn davon ab. Blinzelnd versuchte der Junge, sich zu orientieren. „Du…du…böser Mensch, du!“ Im gleichen Moment, in dem Alef registrierte, dass es Yasemina war, die ihn mit Schlägen malträtierte, ließ das Mädchen von ihm ab und wandte sich von verschränkten Armen zur Seite. „Ich mag dich jetzt nicht mehr“, schmollte sie.
Errötend registrierte Alef, dass sie beobachtet wurden. Die meisten Flüchtlinge waren durch Yaseminas Geschrei wach geworden und beobachteten sie nun neugierig. Erschrocken sah der Junge, dass auch Rebecca das Schauspiel betrachtete, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
„Hör mal, Yasemina“, begann er vorsichtig, „können wir das nicht draußen besprechen? Einige von den Anderen möchten vielleicht noch schlafen.“
„Das ist mir doch gleich!“, kam als gebrüllte Antwort. Alef zuckte zusammen, in seinen Ohren klingelte es. „Nach allem, was passiert ist, lässt du mich einfach alleine! Und du hast gesagt, du würdest auf mich aufpassen, du gemeiner Kerl! Und sogar jetzt interessieren dich nur die Anderen. Wie es mir geht, ist dir wohl gleichgültig, was?“
Seufzend setzte sich der Junge nun endgültig auf und rieb sich die Augen. „Nein, das bist du mir nicht, Yasemina“, sagte er in dem Versuch, diplomatisch zu sein. „Ich habe bloß die Zeit vergessen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, wirklich nicht.“
„Nun, jetzt ist es jedenfalls zu spät für solche Einsichten“, rief das Mädchen ihren ganzen gekränkten Stolz hinaus, sprang auf und verließ fluchtartig die Schlafkammer. Die Tore flogen dabei mit einem derartigen Krachen in die Angeln, dass Alef noch einmal wie geschlagen zusammenzuckte. Als er aufblickte, stand die Äbtissin vor ihm.
„Mutter Rebecca, ich…“, begann er stammelnd, doch die ältere Frau unterbrach ihn sanft.
„Mach dir keine Sorgen, Alef. Sie trägt das heiße Blut des Südens in sich und gerät leicht in Zorn. In ein paar Stunden ist alles wieder in Ordnung, glaube mir. Komm, wir sollten frühstücken gehen und unser Handeln besprechen.“
Die Mahlzeit fand im gleichen Saal statt, in dem sie auch am Abend zuvor gespeist hatten. Auf dem Weg dorthin mussten sie über den Burghof, auf welchem bereits geschäftiges Treiben herrschte. Was zunächst als ein Wirrwarr von durcheinander laufenden Menschen erschien, erwies sich bald als wohlorganisiertes System, in dem jeder Burgbewohner eine bestimmte Aufgabe erfüllte. Es waren die typischen Pflichten, wie man sie auf einem Bauernhof ebenso zu erledigen hatte: Tiere mussten versorgt, Kühe gemolken, Eier gesammelt werden. Nur dass hier ein jeder schwer arbeitete, um die hohen Herrschaften zu versorgen. Es war noch früh am Morgen und vermutlich wurde alles bereitgestellt, damit es den adligen Bewohnern der Burg nach dem Erwachen an nichts fehlte.
Offensichtlich hatten man mehr als genug zu tun, dennoch hielten viele kurz inne, als sie die Flüchtlinge den Stall verlassen sahen. Manche blickten nur kurz neugierig zu ihnen hinüber, aber Alef sah auch kaum verhohlene Verachtung und gar echten Hass in einigen Augen aufblitzen. Nun, er wusste jetzt, warum die Menschen sie nicht hier haben wollten, vermutlich hatten sie von klein auf gelernt, was von den verräterischen Klosterbewohnern und deren Verbündeten aus dem Dorf Eibenbach zu halten war. Dennoch kam ihm die Reaktion fürchterlich übertrieben vor und so kam es, dass er wie die meisten Flüchtlinge seinen Schritt unmerklich beschleunigte, um schnell in die große Halle zu gelangen.
Das Frühstück bestand aus dunklem Brot, harter Wurst und ein wenig Käse. Dazu gab es Haferschleim und Bier. Eier, Braten und Ähnliches waren offensichtlich für bedeutendere Herrschaften reserviert worden. Dem Jungen war es gleich, er erfreute sich des kräftigenden Mahls und griff begeistert zu. Von Yasemina war nichts zu sehen.
„Sobald der Baron bereit ist, uns zu empfangen“, begann Rebecca schließlich, als sie sah, dass der gröbste Hunger des jungen Novizen gestillt war, „werden wir ihn zu zweit aufsuchen. Es wird ihm nicht gefallen, dass ich dich als Begleitung mit mir bringe, aber schließlich wird er es als unwichtig abtun. Außerdem ist es nur gerecht, denn er konnte sich auf dieses Gespräch vorbereiten und wird gewiss einige Minister an seiner Seite haben.“
„Minifter, Mutter?“, fragte Alef mit vollem Mund. „Waf ift daf?“
Ein strafender Blick traf den Jungen. „Achte auf dein Benehmen, Alef. Wir dürfen Torwin nichts liefern, das er gegen uns verwenden könnte“, tadelte sie. Doch sogleich kehrte ein nachsichtiges Lächeln auf ihr Gesicht zurück. „Die Minister sind die Berater des Herrschers“, fuhr sie fort. „Ich vermute, dein Vater besitzt auch welche. Ein guter Herrscher hört sich an, was seine Berater zu sagen haben und wägt dann seine Entscheidung ab. Bei Torwin wird es nicht anders sein. Und seine Minister werden kaum eine bessere Meinung von uns haben als er.“
Sie könnte als Wahrsprecherin auf dem Jahrmarkt arbeiten, überlegte sich Alef. Zumindest hatte sie mit jedem Wort Recht behalten. Gleich nach dem Frühstück hatte der große Adolfo Adriano Sorin von Blautann gemeldet, dass Baron Torwin von Smatis nun gewillt wäre, sie zu empfangen.
So standen sie nun im Eingang des Audienzzimmers und machten sich einen Eindruck von dem, was sie erwartete. Tags zuvor hatte Alef den Baron nur gehört und nicht gesehen, doch die Gestalt, die mit Blick auf die Tür am Kopfende des langen, schweren Holztisches saß, entsprach in jedem Detail dem, was der Junge sich vorgestellt hatte. Der Baron war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern, der sich auf der Grenze zwischen muskulösem und fettleibigem Körperbau bewegte. Sein Haare trug er streng aus dem Gesicht gekämmt und auch die Miene des Barons war die eines Kämpfers: Entschlossen, wild, aggressiv, kompromisslos. Das Kinn zeigte bereits Bestrebungen, sich zu verdoppeln, doch das breite Kreuz und die dicken Arme wiesen darauf hin, dass dieser Mann alles andere als harmlos war.
Er hat früher als Soldat gearbeitet, überlegte sich Alef. Dann, vermutlich als sein Vater starb, hat er hier die Amtsgeschäfte übernommen. Aber er gehört nicht hierher, er gehört auf ein Schlachtfeld.
Er sollte nicht dazu kommen, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn in diesem Moment wurden sie angekündigt.
„Die ehrwürdige Mutter Rebecca, Äbtissin des Lauranerklosters Eibenbach, sowie Alef von Akitaos, jüngster Sohn des Grafen Galuf von Akitaos, Novize des Lauranerklosters Eibenbach!“, rief Adolfo und entfernte sich daraufhin mit einer Verbeugung.
Die beiden Angekündigten betraten den Raum und nun hatte Alef auch Gelegenheit, die anderen Anwesenden zu betrachten. Es war zum Glück keine Armee von Beratern, es waren derer nur zwei. Zur Linken des Barons saß ein alter, hagerer Mann mit ausgemergeltem Gesicht, dessen wertvolle, mit Gold und Brokat verzierte, Kleidung schlaff an ihm herabhing. Er blickte sie forschend, mit kaum verhohlener Missgunst, an. Ihm gegenüber auf der rechten Seite Torwins saß ein ebenfalls älterer Mann, der sich jedoch in allen anderen Punkten von seinem Gegenüber unterschied. Er war, um es kurz zu sagen, fett und das in jeder Hinsicht. Auch seine weite Kleidung und der hohe Kragen konnten nicht alle Körpermassen verbergen. Er fuhr sich immer wieder mit den fleischigen Fingern über die Stirn, anscheinend schwitzte er stark. Alles an ihm drückte aus, dass er sich hier unwohl fühlte und die ganze Angelegenheit für unnötig erachtete.
„Willkommen Rebecca und willkommen auch eurer Begleitung!“, ertönte nun Torwins durchdringende Stimme. „Ich hoffe, ihr habt wohl geruht?“
Die Äbtissin nickte und machte eine ungeduldige Handbewegung. Noch immer standen sie an der Eingangstür, man hatte sie nicht aufgefordert, Platz zu nehmen und Torwin gedachte offensichtlich auch nicht, dies zu tun. Er genoss es, dass Rebecca den Formen der Etikette gehorchen musste. Mit leichter Handbewegung fuhr er fort:
„Wenn ich nun ebenfalls vorstellen darf: Dies ist mein Berater in Sachen Suons: der Schatzmeister Boris Scodzi.“ Der hagere Alte nickte unmerklich und unwillig. „Und dies ist mein geschätzter Berater in allen Dingen des Volkes: der Bürgerminister Rudolf von Winterberg.“ Ungeduldig nickte auch der Fette Alte und versuchte, sich mit der Hand Luft zuzufächern. Der süßliche Geruch von Schweiß erfüllte die Luft.
„Nun denn.“ Torwin lehnte sich nach vorne auf den Tisch und faltete die Hände. „Ehrwürdige Mutter, denkt ihr nicht, dass wir euren Leibnovizen, oder um was es sich bei dem Jungen handeln mag, hinauszuschicken?“
Rebecca ignorierte die Spitze dieser Bemerkung und schüttelte nur den Kopf. „Alef ist mein persönlicher Gehilfe“, antwortete sie mit sanfter Stimme. „Er hat das gleiche Recht, dieser Unterredung beizuwohnen wie eure Berater.“
Zornesröte stieg in das Gesicht des Barons und er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass es krachte. Alef zuckte zusammen. „Schluss mit den Spielen, Rebecca. Ein Kind hat in einer Beratung solchen Ausmaßes nichts verloren, das wisst ihr so gut wie ich!“, brüllte er. Die Äbtissin blieb gelassen und wollte gerade ihre Entgegnung formulieren, als die Tür sich öffnete und ein Bediensteter hereinstürmte, der fast mit ihnen kollidierte.
Torwins Miene nahm eine noch tiefere Färbung an und sein Zorn richtete sich gegen den Untergebenen.
„Was soll diese Unterbrechung?“
„Herr…es tut mir leid…euch zu stören“, stammelte der Junge, „doch vor den Toren…es sind Barbaren vor den Toren…“
Es war, als beherrschte ein einziger Gedanke den Raum: Wie hatten sie nur so schnell sein können? Selbst Rebecca wurde angesichts dieser Nachricht bleich.
„Das…das ist noch nicht alles“, fuhr der Bote fort. „Sie, die Raggar…sie wollen die Mutter Rebecca sprechen.“
Die Stadt war in Aufruhr. Von allen Seiten war der Tross, bestehend aus dem Baron Torwin, seinen Ministern, Rebecca, Alef und einigen Soldaten, mit Fragen bestürmt worden, jedoch hatte der Baron sie alle unwirsch abgewehrt. Auf dem Weg zum südlichen Tor schlossen sich ihnen immer mehr Menschen an, die, zwischen Furcht und Neugier schwankend, alle denkbaren Spekulationen über die Gründe der Anwesenheit der Raggar diskutierten.
Alef wünschte sie sich fort. Er hatte befürchtet, dass die Raggar ihnen folgen würden, doch dass sie so bald da wären... Dunkle Erinnerungen an die blutigen Ereignisse in Eibenbach gingen ihm durch die Gedanken und wieder sah er die verkohlte Leiche vor sich, die direkt neben seinem Versteck von der Mauer gestürzt war. Nicht noch einmal, er konnte das nicht noch einmal ertragen.
Doch es war keine Armee, die sie erwartete. Vor dem Tor stand lediglich eine Gruppe von dreißig, vielleicht vierzig, Mann und sie waren bis auf einige Stäbe und Keulen unbewaffnet. Bei genauerem Hinsehen erkannte Alef sogar einige Frauen unter ihnen. Ausnahmslos waren sie in kostbare Felle gekleidet und ihre Haltung drückte Stolz und Autorität aus.
„Druiden“, flüsterte Rebecca neben ihm. Der Junge wusste nicht, was das bedeuten mochte, aber scheinbar hatten diese Männer und Frauen eine hohe Stellung bei den Raggar. Von dem Heer war weit und breit nichts zu sehen.
Nun baute sich Torwin auf der Mauer über dem Tor zu voller Größe auf, die Arme in die Seiten gestemmt. In seinem Gesicht brodelte der Zorn.
„Ich verlange, zu erfahren, warum ihr den Frieden meines Landes brecht“, rief er. „Erklärt euch!“
Einige Zeit geschah nichts, dann trat ein älterer Mann aus der Gruppe hervor und rief in gebrochenem sarêisch: „Wir haben unser Fordern gesagt. Wir wollen sprechen mit heilig Frau Rebecca.“
Es war kaum für möglich zu halten, doch die Zornesröte in Torwins Miene wurde noch tiefer. „Ihr dummen Primitiven wagt es, mir Forderungen zu stellen?“ Zornig schlug er mit der Faust auf die Stadtmauer. „Ihr seid auf meinem Land und ich verlange, dass ihr sofort wieder in eure dreckigen Löcher zurückkehrt, Haufen dreckigen Abschaums. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ich euch nicht gleich an Ort und Stelle hinrichten lasse!“
Von unten blickte ihm der Druide mit äußerster Gelassenheit entgegen.
„Wir reden mit heilig Frau Rebecca oder ihr alle sterben. Eure Wahl!“
Torwin schien zu einer neuen Tirade ansetzen zu wollen, doch wurde er von Rebecca unterbrochen, die ihn sanft am Arm nahm. „Lasst es, Hochwohlgeboren“, sagte sie leise. „Ich werde mit ihnen sprechen.“ Einige Mitglieder des Hofes sogen scharf die Luft ein und auch Alef war nicht sicher, ob es standesgemäß von der Äbtissin war, so mit dem Baron zu sprechen. Dennoch lenkte Torwin schließlich widerwillig ein.
„Gut“, brummte er, „aber ihr habt mir alles mitzuteilen, was dort unten besprochen wird.“
Lächelnd nickte die Äbtissin. „Aber selbstverständlich euer Hochwohlgeboren.“ Dann wandte sie sich Alef zu. „Komm, mein Junge. Und fürchte dich nicht, wir werden unter der Fahne der Diplomatie sprechen. Niemand wird uns etwas antun.“
Der Novize nickte zweifelnd. Vermutlich hatte Rebecca Recht. Dennoch war seine Angst noch äußerst präsent.
Nur einen Spalt breit wurde das Tor geöffnet, damit sie hindurch treten konnten. Unwillkürlich wurde sich Alef bewusst, dass sie von allen Seiten beobachtet wurden, doch er tat sein bestes, es sich nicht anmerken zu lassen, wie unwohl ihm dabei war.
Der alte Mann, der bereits zuvor gesprochen hatte, sagte nun etwas auf Raggaroth. Die Äbtissin antwortete in derselben Sprache und deutete dabei auf den Jungen, der neben ihr stand.
„Gut“, sagte der Druide, „wenn dein Wille, dann eben in deiner Sprache, heilig Frau.“ Er machte eine weit schweifende Handbewegung. „Wir Druiden aus Raggar und gekommen, um zu verlangen den Verräter Daved und das Buch. Ihr uns geben, wir gehen heim.“
Doch Rebecca schüttelte enttäuscht den Kopf. „Wir können euch nicht geben, was ihr verlangt. Daved ist nicht bei uns, er floh, nachdem er uns half, aus dem Kloster zu entkommen und wir wissen nicht, wo er ist. Auch das Buch ist nicht bei uns.“
Verwirrt sah Alef zu der Äbtissin auf. Von welchem Buch sprach sie? Und wieso war Daved ein Verräter? Der Druide sah zur Seite. Er schien verärgert, aber nicht überrascht.
„Ihr nicht wisst, welche Gefahr besteht“, sagte er grimmig. „Ihr nicht wisst von Macht des Pak. Wir müssen Daved finden, sonst dieses Land bald so unbewohnbar wie unseres. Unsere Väter, Brüder und Söhne kämpfen gegen euch, weil sie nicht verstehen. Sie nicht wissen, dass nicht nutzt, euer Land erobern, dass nur wenig Zeit, bis Daved mit Pak Natur hier stört. Er hat keine Kontrolle, nicht weiß, was tut. Er tötet Land.“
Rebeccas Miene wurde schlohweiß. Alef war kaum weniger schockiert, vor allem aus dem Grund, da er sich auf die ruhige Entschlossenheit der Äbtissin verlassen hatte. Nun schien es, als wisse auch sie nicht, was zu tun sei.
„Niemand von uns ahnte von der Macht dieses Buches“, antwortete sie und es schien, als wolle sie Daveds Verhalten entschuldigen. Dabei hatte der Druide den Angriff der Raggar bisher mit keinem Wort gerechtfertigt. „Daved teilte meinem Mann und mir mit, dass er es euch abnahm, weil damit Hunger und Armut in allen Teilen der Westlande der Vergangenheit angehören könnten. Er sagte, man könne damit selbst die rah’alebische Wüste fruchtbar machen. Es hieß, ihr Raggar wäret schlicht zu eigensinnig gewesen, euren Schatz mit der restlichen Welt zu teilen.“ Die Hand an ihrer Brust fing an, zu zittern. „Daveds Motive waren nobel, auch wenn seine Mittel schlecht waren. Wir wussten nichts von der Gefahr für euer und unser Land.“
„Deine Worte ohne Sinn, heilig Frau Rebecca“, gab der Mann hart zurück. „Niemand nützt zu wissen, wer schuldig und wer nicht. Wir gehen, verteilen über Land und suchen Daved und Pak. Ihr flieht, wenn ihr wollt leben. Wir nicht konnten verhindern unser Brüder erobern Land. Sie zornig und verzweifelt. Sie bald hier sind.“
Rebecca nickte schwer. „Ich wünsche euch viel Glück“, seufzte sie. „Und wenn ihr Daved findet, so habt bitte Nachsicht mit ihm. Er hatte keine bösen Absichten.“
Der Druide macht keine Erwiderung zu Rebeccas Bitte, er wandte sie schlicht um und ging zu den anderen Raggar zurück. Alef sah sie kurz miteinander reden, dann machten sie kehrt und wanderten Richtung Osten. Die Äbtissin sah ihnen noch eine Weile nach, dann nahm sie ihren Begleiter bei der Hand und ging zur Stadt zurück.
Im gleichen Moment, in dem das Tor geöffnet wurde, stürmte ein kleiner Schatten heraus, der sich direkt auf Alef warf.
„Oh, du Hund!“, rief Yasemina. „Warum machst du schon wieder so etwas Gefährliches? Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht, du gemeiner Kerl!“
Der Junge lächelte nachsichtig, sagte aber nichts. In seinem Kopf schwirrte es und eine kalte Hand lag auf seinem Herzen. Die Raggar würden kommen, früher oder später. Und selbst wenn sie es schafften, sich gegen deren Armee zu verteidigen, so blieb noch immer die Befürchtung, dass Daved aus Versehen das Land zerstörte. Warum also bemühten sie sich überhaupt noch?
Schweren Herzens schritt er wieder in die Stadt. Selbst Yasemina sagte nichts mehr.
Die Atmosphäre hatte sich grundlegend verändert. Das Auftauchen der Druiden schien den Baron Torwin davon überzeugt zu haben, dass die Raggar eine durchaus reelle Gefahr darstellten. Noch immer spürte Alef das Misstrauen, dass ihnen von den Kyntern entgegenschlug, jedoch versuchte der Landesherr nicht mehr, sich über sie zu amüsieren.
„Nun erzählt, Mutter, was hatten die Raggar mit Euch zu besprechen?“, forderte Torwin Rebecca auf. Alef blickte neugierig zu ihr hoch. Er wusste, sie konnten dem Grafen nicht alles erzählen, da er sonst dem Kloster die Schuld an dem Unglück geben würde, stellvertretend für Daved, der nun einmal über alle Berge war. Doch auch die Äbtissin schien sich darüber Gedanken gemacht zu haben.
„Sie suchen ein bestimmtes Buch“, antwortete sie und ihrem Tonfall war keinerlei Unsicherheit zu entnehmen. „Es ist ihnen ein Heiligtum und wurde geraubt. Wir wissen nicht, wo es sich befindet. Dies sagte ich ihnen auch und nun gehen sie, um im ganzen Land danach zu suchen. Jedoch warnten sie uns vor ihren Brüdern. Die Raggar sind aus ihrem Land gezogen, da es anscheinend unbewohnbar geworden ist.“ Für einen kurzen Augenblick legte die Schuld ein Zittern in Rebeccas rechte Hand, wie Alef bemerkte. Jedoch fasste sich die Äbtissin schnell wieder, so dass der Junge hoffte, niemand anders hätte etwas bemerkt. „Sie suchen hier ein neues Land, daher ziehen sie plündernd und mordend durch Eure Baronie und werden auch an dessen Grenzen nicht Halt machen. Die Raggar sind zornig und verzweifelt und das macht sie so gefährlich. Jedoch stehen sie, anders als bei dem Angriff auf unser Kloster, nun ohne die Rückendeckung durch die Druiden da.“
Torwin schlug verärgert mit der Faust auf den schweren Holztisch. „Nun gut, wenn sie es so haben wollen...“, knurrte er, dann lag plötzlich ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen. Alef bestätigte sich innerlich die Vermutung, dass der Baron eher für das Schlachtfeld als den Thron geschaffen war. Torwin bewegte sich nun in Gebieten, in denen er sich bestens auskannte. Mit einer seiner riesigen Hände winkte er einen Bediensteten herbei, von denen einige am Eingang des Besprechungszimmers warteten. „Schickt Boten in die ganze Baronie“, befahl er. „Lasst sie berichten, dass wir von den Barbaren des Nordens bedroht werden. Alle Untertanen haben sich in die nächsten befestigten Städte zu begeben. Die Ernte soll nach Möglichkeit eingefahren, der Rest vernichtet werden. Schickt außerdem Boten nach Aeimos, Amitia, Thracios, Kynos und Sayeuis. Ich will, dass die Herrscher dort an das sarêische Großbündnis erinnert werden. Außerdem soll die Stadt auf eine längere Belagerung eingestellt werden. Und nun verschwindet!“
Die Bediensteten überschlugen sich bald dabei, die Befehle des Barons auszuführen. Bald war niemand außer dem Baron, Rebecca, Alef und den beiden Ministern im Besprechungsraum.
„Hochwohlgeboren, wäre es nun nicht Zeit, euren Kriegsminister zu Rate zu ziehen?“, fragte Rebecca höflich, was ihr ein verächtliches Lachen einbrachte.
„Verehrte Mutter“, antwortete Torwin, „ich brauche keinen Kriegsminister, um solche Belande kümmere ich mich persönlich.“ Er wandte sich nach links. „Boris, wie sieht unsere Kriegskasse aus?“
Der hagere Schatzmeister verzog die ohnehin schon ständig nach unten liegenden Mundwinkel noch weiter. Er sprach mit stark maza´alischem Akzent. „Nun, es fließt natürlich weiterhin Geld in die Truhen, doch das meiste davon wurde bereits für den Winter zurückgelegt. Dazu steht unsere jährliche Spende für das Darrelkloster bald an und...“
„Langweile mich nicht mit deinen Details!“, unterbrach ihn der Baron rüde. „Wenn wir diese Belagerung nicht überstehen, dann ist es uns auch gleich, wenn wir uns im Winter den Arsch abfrieren würden. Alle Kriegsausgaben haben ab sofort höchste Priorität!“
Der Minister nickte ausdruckslos. „Wenn das so ist, dann reichen unsere Suons, um die Armee mehrere Monate zu finanzieren.“
Ohne eine Weitere Reaktion wandte sich Torwin zur Linken. „Rudolf, wie sehen unsere Vorräte aus.“
Der Bürgerminister seufzte und wischte sich mit einem Stofftuch den Schweiß von der Stirn. „Schlecht, Herr. Die Ernte steht nun einmal noch an und wir erwarten sie erst in einigen Wochen. Wir können nur hoffen, dass das schlechte Wetter der letzten Zeit“, er hielt einen Moment erschöpft inne, bis er wieder zu Luft gekommen war, „dass das schlechte Wetter der letzten Zeit nicht allzu viel vernichtet hat. Ich kann euch diese Frage erst in einigen Wochen beantworten.“
Erneut sauste die Faust des Barons auf den Tisch. „Wir haben keine Wochen, Rudolf!“, brüllte er. „Ich will, dass du bis morgen einen Überblick hast, wie viele Vorräte eingelagert werden können.“ Der Minister wurde bleich und nickte hastig. Das Taschentuch in seiner Hand war bereits tief durchtränkt von Schweiß.
„Nun zu Euch, Mutter“, fuhr Torwin fort und wandte sich dabei Rebecca zu. „Ihr habt die Barbaren hierher geführt und Ihr erwartet den Schutz meiner Mauern. Im Gegenzug verlange ich, dass Eure Gefolgsleute für mich arbeiten und kämpfen. Ich will kein Murren und keine Beschwerden von Euren Männern hören und wenn sich nur einer etwas zu Schulden kommen lässt, setze ich euch alle an die Luft. Seid Ihr einverstanden?“
Rebecca lachte kurz freudlos auf. „Ihr werdet von ‚meinen Gefolgsleuten’, wie Ihr sie nennt, nicht enttäuscht sein. Sie kennen die Raggar bereits und unter ihnen ist nicht einer, der nicht etwas bei dem Angriff auf das Kloster verloren hätte. Sie werden kämpfen, glaubt mir.“
„Nun, wir werden sehen“, antwortete Torwin misstrauisch. „Diese Besprechung ist beendet!“
Die Minister verließen fluchtartig das Zimmer und auch Rebecca erhob sich, verbeugte sich kurz und ging, Alef hinter ihr. Der Baron reagierte nicht. Er saß weiter auf seinem Platz und hatte die Stirn in Falten gezogen. Vermutlich war er bereits in die Planung der Verteidigung seiner Stadt vertieft.
„Nun, Alef, was denkst du über diese Besprechung?“, fragte Rebecca, als sie durch die verwinkelten Flure der Burg zurück zum Stall gingen.
Der Junge überlegte. „Torwin macht sich Sorgen, auch wenn er das nicht zeigt“, sagte er schließlich. „Die Ernte kann vermutlich größtenteils noch nicht eingefahren werden, da es einfach zu früh ist. Und das Wetter der letzten Wochen hat das Seinige dazu getan. Er sucht verzweifelt nach Verbündeten und lässt daher in allen umliegenden Ländereien anfragen. Dabei bezieht das sarêische Großbündnis überhaupt keine Angriffe von außen mit ein. Es sieht lediglich vor, dass sich alle sarêischen Kleinstaaten verbünden, falls einer von ihnen grundlos einen anderen angreift. Er wird nicht viel Hilfe bekommen.“
Die Äbtissin nickte zufrieden. „Gut, und weiter?“
„Ausgehend von seinen Ministern würde ich sagen, dass die Menschen hier ihn nicht sonderlich mögen. Sie gehorchen ihm, weil sie müssen und weil er Furcht einflößend ist, aber er ist kein Mensch, dem man gerne dient. Wenn es hart auf hart kommt, werden sie ihm den Rücken kehren.“
Nun sah Rebecca überrascht aus. „Oh, tatsächlich? Nun, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Was meinst du, können wir einen Vorteil daraus gewinnen?“
Alef schüttelte vehement den Kopf. „Torwin duldet uns hier, was er nicht muss. Wir sind vorläufig von ihm abhängig. Jedoch kann er bei den bevorstehenden Kämpfen auch einen Nutzen aus uns ziehen, obwohl sein Stolz ihm verbieten wird, sich das einzugestehen. Das Volk von Kyntos ist eine größere Gefahr für uns. Sie hassen uns und sie werden weniger Bedenken haben, dies offen zu zeigen.“
Er nickte, wie um sich diesen Gedanken selbst zu bestätigen. „Es sieht düster für uns aus, ehrwürdige Mutter.“
Von Jason-Potter
Am 02.02.2010 um 12:03 Uhr
LG Ralf