Ausflüge beim Ehepaar W. beginnen mit bestimmtem Ritual, dem morgendlichen Schmieren von Brötchen der Sorte "Rogger". Diese werden mit ungarischer Salami belegt. Auch wenn eine Bahnfahrt ansteht oder eine Fahrt zur Verwandtschaft, ein Salamibrötchen lässt jede Reise zu einem Ereignis werden.
Radausflüge bedeuten, dass der Herr W. auf sein sportliches Trekkingrad steigt, das für jedwedes Gepäck ungeeignet ist. Ein Rucksack mit seinen ganz persönlichen Dingen schnallt er sich auf den Rücken, nicht zu groß.
Das restliche Gepäck übernimmt Frau W., wohlwissend, dass ihr die Arme abfallen, wenn sie ihr Rad die Treppen im Bahnhofstunnel runter- und hochschieben muss.
"Wozu gehst du zum Sport?", tönt die Stimme des Herrn W., als er Gemurmel beim Packen hört.
Ja, wozu?, denkt Frau W. und wirft ihm einen bösen Blick zu. Der Tag ist aber zu schön, die Aussichten zu gut, als sich jetzt zu ärgern, beschließt sie und zwingt sich zu einem Lächeln.
An der Fähre angekommen, die sie auf die andere Seite der Warnow übersetzen soll, hat sie immer noch das Lächeln im Gesicht. Der Gatte bietet spontan an, am Tunnel die Räder zu tauschen und schleppt das schwere Rad die Steigung hoch. Der Gute, der.
Herr W. gehört zur Spezies Mann und muss deshalb immer Erster sein, was heißt, er fährt stets einen halben Kilometer vorneweg, bleibt ab und an zurück, um dann wie ein Bekloppter zu überholen! Mann eben.
Noch ist es bedeckt, aber inzwischen warm und Ehepaar W. erreicht den Waldweg hinter Markgrafenheide.
An einer Weggabelung werden sie von einem ausländisch (schwäbisch-bayrisch) sprechenden Paar aufgehalten, das nach einem Aussichtsturm fragt. Sofort steigt Ehepaar W. vom Rad und ergeht sich in Erklärungen und Beschreibungen. Mehr eigentlich Herr W., da sein Orientierungssinn Klassen besser ist als der seiner Frau.
Der ausländische Mann hat ein Auge, das halbverdeckt vom Lid ist. Über dem anderen befindet sich eine Augenbinde. Am Shirt trägt er ein Blindenabzeichen. Er gestikuliert und fragt immer wieder nach, bis seine hochgewachsene, stämmige Frau sagt, er soll endlich ruhig sein, sie weiß jetzt, wo der Weg zum Turm entlangführt.
Die Paare trennen sich. Ehepaar W. biegt rechts ab. Frau W. grübelt nach, ob es sein könnte, dass sich der Gatte bei der Beschreibung geirrt hat. Leise bringt sie ihre Bedenken vor.
"Was? Was sagst du da? Ich mich geirrt?", ruft Herr W. neben ihr. Aber- er beginnt tatsächlich zu grübeln und meint dann ganz spontan zu ihr:"Könntest Recht haben!"
Ein warmes Gefühl durchflutet Frau W. und sie meint, dass er zurückfahren und den Irrtum aufklären soll.
Gesagt, getan.
Frau W. fährt weiter, da er sie ja schnell einholen wird. Sie hängt ihren Gedanken nach, schaut auf die üppige Landschaft, die schon vereinzelt Anzeichen des Herbstes zeigt. Der Farn wächst hoch und ist noch sattgrün, der Waldweg leicht feucht vom Tau der Nacht. Die Sonne kommt durch und bricht sich zwischen den Bäumen. Frau W. fühlt sich wohl, ist völlig im Reinen mit sich.
Ungefähr fünfzig Meter vor ihr taucht eine Lichtung auf. Angekommen, sieht sie, dass es eine Kreuzung ist. Wo entlang? Einfach geradeaus weiter? Wäre die einfachste Lösung. Frau W. ist selten für einfache Lösungen. Sie biegt rechts ab und fährt weiter. Gleiche Landschaft, ähnlicher Weg. Frau W. driftet wieder in ihre Gedankenwelt ab.
Irgendwann fällt ihr auf, dass ihr schon ewig keiner entgegengekommen ist bzw.sie überholt hat. Und wo bleibt der Gatte?
Eine neue Weggabelung erscheint. Blau-gelber Weg? Oder doch der grün-rot gekennzeichnete? Frau W. ist unsicher und entscheidet sich für blau-gelb.
Dieser Weg ist sehr naturbelassen, tiefe Löcher, fast keine Wegbegrenzung. Es ist nicht das erste Mal, dass sie diesen Weg nach Rosenort nehmen und, glaubt sie der Erinnerung, ist sie definitiv auf falschem Wege!
In der Ferne vor ihr taucht ein Radfahrer auf. Ein Mann, wie sie beim Näherkommen feststellt.
Ihr Kopf fängt an zu rattern.Was wäre, wenn er jetzt anhält, sie vom Rad schubst und vielleicht vergewaltigt? Sie ist schon mindestens vierzig Minuten keinem Menschen begegnet! War das nicht in diesem Waldstück, wo vor vier Jahren ein junges Mädchen vergewaltigt und umgebracht wurde? Bis heute nicht aufgeklärt!
Gut, sie ist nicht mehr jung, definitiv nicht. Und wer will schon altes Fleisch?
Der Mann ist kurz vor ihr und sie beschließt, ihn nach dem Weg zu fragen. Wenn schon Vergewaltigung, dann bitte in freundlicher Atmosphäre!
"Sagen Sie, ich wollte nach Rosenort und muss mich völlig verfahren haben. Können Sie mir weiterhelfen?"
"Rosenort?", lacht er laut, "welches Rosenort meinen Sie denn? Wenn es das gleiche ist, das ich meine, sind Sie völlig falsch unterwegs!"
Okay, muss man dann so laut lachen? Also, mit der Vergewaltigung wird nun nichts, sinniert Frau W. und guckt ihn weiterhin fragend an.
"Rosenort liegt genau entgegengesetzt. Ich will auch dahin, wir können gemeinsam fahren. Ich beiße nicht!"
"Wieso?"
"Na, Sie gucken so skeptisch", lacht er schon wieder.
Sie stimmt nun in sein Lachen ein und mustert ihn ungeniert. Schönes Rad, gepflegt, VAUDE-Tasche an Hinterradseite und er? Ja, eine nette, sportliche Erscheinung, schlank, graumeliertes volles Haar und Grübchen beim Lachen. Seine Augen blitzen und sie schauen sich einige Sekunden zu lange in die Augen.
Frau W. ertappt sich, dass sie das "Was wäre, wenn..."- Spiel in Gedanken spielt.
Was wäre, wenn sie jetzt einfach mit ihm davonfahren würde? Ein neues Leben, eine neues Glück? Nicht mehr im Geschäft stehen? Hm, hat was, der Gedanke, wer zweideutig denkt, hat eindeutig mehr vom Leben. Oder so ähnlich. Tue nichts in Euphorie und nichts aus Verzweiflung...
"Los geht's!", sagt Frau W., dreht um und fährt los.
Sie unterhalten sich darüber, wo sie wohnen und warum sie gern nach Rosenort an den Strand fahren. Er wolle sich mit einem Freund treffen und sie sagt, dass sie ihren Mann verloren habe.
"Passiert Ihnen das des Öfteren?", fragt er und lacht schon wieder. Die Grübchen bilden tiefe Löcher in den Wangen.
"Nö", lacht sie zurück "nur ab und zu!"
In der Ferne taucht ein Holzunterstand auf und Frau W. erinnert sich, dass es links herum zum Strand geht. Inzwischen ist der Weg besser, ausgefahrener.
"Nun weiß ich wieder, wo es zum Strand geht."
"Ja, einfach immer geradeaus. War nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich nehme den nächsten Strandaufgang und wünsche Ihnen einen schönen Tag!"
Schade, nun ist er weg mit seinem schmeichelwarmen Tonfall.
Frau W. fragt sich, warum ihr Gatte nicht an diesem Unterstand gewartet hat. Ist es ihm egal, wie sie zum Strand findet? Er weiß doch, dass ihr Orientierungssinn gegen Null tendiert.
Am Strand angekommen, sieht sie, er liegt auf seinem Handtuch und blickt aufs Meer.
"Auch schon da?", lacht er sie an. Es ist ein anderes Lachen. Für einen Moment überrollt sie Sehnsucht.
Sie beugt sich hinab, gibt ihm einen Kuss und fragt:
"Und? Schon Appetit? Ich freue mich schon die ganze Zeit auf die Brötchen!"
Sie kniet sich hin und beginnt die Tasche auszupacken.
Und das Meer glänzt wie immer silbern.