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Der Trip - Kapitel 1 - von astronom, 13.12.2007
1. Kapitel
Donnerstagabend

Billy schaute aus dem Fenster, während er telefonierte. Nicht nur das, er war auch in Gedanken nicht bei seinem Gesprächspartner. Die Sonne schien überdimensional durch das alte breite Fenster. Sie hatte den Horizont fast erreicht und nahm nun eine fast orange Färbung an. Die extrem heiße Zeit war vorbei, das Klima wurde angenehmer. Bald würden die Tage kommen, wo man die wärmenden Sonnenstrahlen als eine Entschädigung für die langen und kalten Winternächte empfand. Gegenüber seinem Büro befand sich ein Gebrauchtwagenhändler. Auf dem Stellplatz vor dem kleinen rechteckigen Bürogebäude standen ungefähr dreißig Wagen unterschiedlichster Fabrikate, auch einige europäische waren dabei. Der Inhaber von Millers Garage Inc. war ein gewisser Miller. Klein, untersetzt in einem geschmacklosen Anzug gekleidet, tänzelte er um eine junge Frau herum, die offensichtliches Interesse an einem älteren Volkswagen hatte. Tja das Geschäft schien gut zu laufen, trotz des komischen Anzugs des kleinen Männchens.
„Billy, bist du noch dran?“ , gab der Telefonhörer von sich.
„Ja!“.
Was insoweit auch stimmte, denn er hielt den Hörer ja tatsächlich an sein Ohr. Allerdings hielt sich seine Aufmerksamkeit doch in Grenzen. In den letzten zwei Jahren gab es für ihn ziemlich viel Arbeit. Wenn man selbstständig ist scheint das normal. Die Leute erwarteten so was. Immer in Gedanken bei der Arbeit, nie wirklich abschalten. Er hasste es und hielt sich auch nicht immer an dieses Motto, aber irgendwie stimmte es schon. Zumindest ließ es sich nicht wirklich umgehen.
„Ist die Sache dringend?“, fragte er Greg.
„Nun ja sagen wir mal so, der Typ will Tagessätze zahlen, verspricht aber ein kräftiges Erfolgshonorar wenn du ihm die Beweise innerhalb zweier Wochen liefern kannst.“
„Er kennt meine Preise?“
„Ich habe ihn ins Bilde gerückt.“
Billy sah wie Miller der jungen Frau hinterher dienerte. Er presste sich in den Wagen, wohl um die Motorhaube zu öffnen. Umständlich kam er wieder herausgekrochen und öffnete die Haube. Mit einer einladenden Handbewegung präsentierte er den Motor. Schwerlich vorstellbar, das sich die Frau für die technischen Details des Wagens interessierte. Trotzdem warf sie einen Blick hinein. Miller blickte Sie erwartungsvoll an. Wahrscheinlich eines seiner unwiderstehlichsten Angebote, von denen er täglich welche zu fabrizieren schien.
„O.k. Greg, fax mir die Unterlagen, ich ruf den Mann morgen an. Alles weitere bespreche ich mit ihm.“, Billy hatte keine Lust mehr auf telefonieren.
„Ist schon unterwegs. Grüß deine Frau und die Kinder.“, rief Greg noch in das Telefon aber Billy hatte den Hörer schon von seinem Ohr entfernt und als er das leise Tuten vernahm welches ihm mitteilte, des das sein Gegenüber aus der Leitung verschwunden war, legte auch er auf. Miller saß jetzt mit der Frau in dem Wagen und ließ geräuschvoll den Motor an. Er pumpte ein paar mal das Gaspedal und stellte dann den Motor wieder ab. Die junge Frau schien von der Demonstration beeindruckt, denn beide verschwanden in dem kleinen Verkaufsbüro um den Deal wohl dingfest zu machen. Billy ärgerte sich ein wenig, dass die Frau aus seinem Blickfeld verschwand. Er ertappte sich, dass er eigentlich mehr oder weniger ihr hinterhergeschaut hatte, auch wenn Millers Verkaufsvorstellungen nicht unkomisch waren. Allerdings bekam er diese seit nunmehr fast fünf Jahren täglich serviert. Billy setzte sich in seinem bequemen Lehnstuhl auf und fuhr sich gedankenverloren über das Gesicht. Eigentlich konnte er ganz zufrieden sein. Greg hatte ihm den dritten Auftrag dieser Woche vermittelt und morgen war Freitag. Am Wochenende wollte er mit seiner Familie einen Kurzausflug machen. Ein Geburtstagsgeschenk, was er sich selber machte. Mit dem neuen Auftrag würde er erst Anfang der nächsten Woche beginnen. Er wollte jetzt nicht daran denken. Mr. Glenford ruf ich morgen an, dachte er sich und machte eine Notiz in sein Arbeitsbuch.
„Tammy, kommen sie doch bitte noch mal.“, rief er in die Gegensprechanlage.
„Sofort Mr. Fisher.“ , ertönte es aus dem kleinen Lautsprecher auf seinem Schreibtisch gleich neben dem Telefon. Tammy war ein Überbleibsel aus seiner alten Versicherungsagentur, welcher er bis vor fünf Jahren betrieben hat. Als das Geschäft damals anfing lau zu werden erfasste Billy den unglaublichen Entschluss eine Privatdetektei zu gründen. Mit einem alten Schulfreund, der bis dahin mehr schlecht als recht in einer örtlichen Schuhfabrik gearbeitet hatte, kaufte er dieses kleine Büro am Ende der Parkerstreet. Drei einfach möblierte Zimmer und ein kleiner Warteraum der so gut wie gar nicht genutzt wurde, reichten aus um seine Familie finanziell abzusichern. Sein Schulfreund Angus arbeitete ein Jahr mit ihm zusammen, entschloss sich aber nach einem Jahr das Handtuch zu werfen und arbeitete seitdem als Koch in einem kleinen Restaurant nur drei Blocks weiter. Gelegentlich pflegte er dort zu essen oder einen Feierabenddrink zu nehmen. Wenn Angus Zeit hatte, setzte er sich an seinen Tisch und sie plauderten über alte Zeiten. Nicht nur einmal half ihm Angus auch mit Informationen oder Recherchen für seine Fälle. Trotz der geschäftlichen Trennung hatten sie stets das freundschaftliche Verhältnis beibehalten, was wohl auch daran lag, dass sich ihre Familien ebenfalls recht nah standen. Angus hatte wie er zwei Kinder und eine bezaubernde kleine Frau. Oft fuhren die Familien gemeinsam an den Eriesee und Janice, Angus Frau sorgte meistens für das leibliche Wohl. Auch nachdem Billies Partner ausgestiegen war behielt er den Agenturnahmen „Fisher und Lockwell“ bei. Das große Messingschild neben dem Eingang war einfach zu schön als es zu entfernen. Außerdem machte ein Doppelnahmen mehr her und wer weiss vielleicht wollte Angus ja irgendwann zurückkommen. Billy versicherte ihm, dass die Tür für ihn immer offen Stand. Was nun Tammy betraf, so war sie auch schon früher, als er noch Versicherungen verkaufte seine Sekretärin. Sie waren ein gut eingespieltes Team und als Billy bei Lloyd American kündigte und ihr offenbarte das er sich als Privatdetektiv selbstständig machen werde, schien es für sie selbstverständlich zu sein ihm zu folgen. Sie hatte schon für seinen Onkel gearbeitet, der ihn damals nach einem abgebrochenen Literaturstudium unter seine Fittiche nahm und ihn in die Versicherungsbranche einführte. Auch als Billy ihr eröffnete es sei ein unsicheres Geschäft und sie würde bestimmt weniger verdienen, wiegelte sie ab und meinte sie hätte eh nie für Lloyd gearbeitet sondern immer nur für die Fishers. Dem war nichts entgegen zu setzten und so gründeten sie zu dritt vor fünf Jahren „Fisher und Lockwell“ und hatten es auch bis heute nicht bereut. Entgegen jeglicher Befürchtung war die Auftragslage ziemlich gut und er konnte Tammy jeden Monat pünktlich ihren Gehaltsscheck überreichen. Tammy trat wie immer ohne zu klopfen in sein Büro und schaute ihn fragend die Augenbrauen nach oben gezogen an.
„Greg hat vorhin angerufen, wir haben einen neuen Klienten. Bitte legen sie eine neue Akte unter dem Namen Edward Glenford an und erinnern sie mich morgen ihn anzurufen. Greg hat alles nötige gefaxt.“, sagte er zu ihr.
„Gut, das war’s?“, fragte Tammy.
„Ja, Schluss für heute. Bitte nehmen sie für morgen Nachmittag keine Termine mehr an, ich fahre mit meiner Frau und den Kindern nach Duncan Springs. Ich bin dann am Montag wieder da. Machen sie auch mal ein längeres Wochenende.“
„Das werde ich Mr. Fisher. Falls sie mich doch brauchen, ich bin bei meiner Schwester in Cleveland, die Nummer haben sie ja.“
„Ach Tammy sie meinen ohne sie geht nichts, was?“
„Ich weiss das es so ist, Mr. Fisher!“, bedachte Billy mit einem mütterlichen Blick und verließ sein Büro. Inzwischen schienen sich Miller und die hübsche junge Frau einig geworden zu sein. Sie saß in ihrem neuen alten Volkswagen und Miller redete von der Beifahrerseite auf sie ein. Gelangweilt und doch höflich lauschte sie seinen Ausführungen. Einmal blickte sie aus ihrer Windschutzscheibe genau in Richtung Billies Bürofenster und es schien als ob ihre Blicke sich begegneten was angesichts der sich im Glas reflektierenden untergehenden Sonne eigentlich unmöglich war. Trotzdem senkte Billy kurz den Blick. Als er wieder aufschaute bog der Wagen gerade von Millers Parkplatz auf die Parkerstreet ab und verschwand aus seinen Augen. Miller winkte zufrieden hinter ihr her und stiefelte dann in sein kleines Büro zurück. Billy nahm seine Tasche, die neben seinem Stuhl stand und blickte sich noch einmal prüfend um als ob er irgendetwas wichtiges vergessen könnte. Er stellte den Anrufbeantworter an, nahm sein Handy und verließ das Büro nicht ohne es vorher sorgfältig abzuschließen. Die Sonne schaute noch halb über dem Horizont, als Billy mit seinem BMW nach Hause fuhr.
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Freitagfrüh

Die Anstalt in Buffalo galt als relativ sicher. Das musste sie auch, weil hier einige ziemlich üble und gefährliche Individuen der Gattung Mensch untergebracht waren. Das bedeutete beispielsweise, dass die Schwerstpatienten einen eigenen Pfleger oder besser gesagt Wärter hatten. Gegen acht Uhr morgens erschienen zwei Männer im Verwaltungstrakt der Anstalt. Ein junger uniformierter Polizist und ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug und einem weisen Hemd. Frank Hudson von der Ohio State Police und Mike Carson vom FBI trafen sich vor dem Aufzug in der großen Halle des Verwaltungsgebäude der staatlichen Nervenanstalt von Buffalo. Carson erkannte Hudson an seiner Uniform und Hudson erkannte Carson an seinem dunklem Anzug und der Sonnenbrille. Sie traten schweigen in den Aufzug. Carson drückte auf die elfte Etage und schaute Hudson fragend an. Dieser signalisierte mit einem Kopfnicken, dass es o.k. wäre. Er wollte auch in elften Stock.
„Sind sie auch hier wegen der Sache von heute Nacht?“, fragte der FBI Agent. Der Aufzug war leer und sie konnten offen sprechen.
„Wenn sie den Flüchtigen meinen, ja.“, Hudson trat etwas nervös von dem einen Fuß auf den anderen. Wenn die Bundespolizei herangezogen wurde, bedeutete das in der Regel nichts Gutes. Kompetenzschwierigkeiten waren vorprogrammiert. Hudson wusste nicht so recht was ihn erwartete und das verunsicherte ihn leicht. Er mochte keine Krankenhäuser und Nervenanstalten erst recht nicht. Daran änderte auch nichts die Tatsache, dass es sich lediglich um das Verwaltungsgebäude der Anstalt handelte. Hudson spürte wohl wie der Agent ihn musterte und seine Aufregung bemerkte.
„Ich mag keine medizinischen Einrichtungen. Schon bei dem Geruch von Desinfektionsmittel wird mir übel. Und Ärzte sind mir auch etwas ungeheuer.“, sagte Hudson.
„Nichts Ungewöhnliches.“, bemerkte Carson und grinste.
Sanft hielt der Aufzug in der elften Etage. Schweigend schritten sie den langen Flur entlang. Es war früh am morgen und sie begegneten nur zwei Mitarbeitern die mit wehenden Kitteln an ihnen vorbei huschten. Am Ende des Flures befand sich das kleine Konferenzzimmer. Carson klopfte an und trat ohne ein Herein abzuwarten ein. Hudson folgte ihm. Die aufgehende Herbstsonne tauchte den Raum in helles Licht. Ein großer ovaler Eichentisch befand sich in der Mitte. An der Stirnseite saßen zwei Männer in ihren Akten vertieft. Als die beiden eintraten erhoben sie sich. Die vier Männer stellten sich gegenseitig vor und einer der beiden Ärzte, Doktor Snyder, bat sie Platz zu nehmen.
„Kaffee?“, fragte er.
Die beiden Männer nickten. Auf einer kleinen Anrichte an der Wand gegenüber der Fensterfront gurgelte eine Kaffeemaschine. Snyder füllte drei große Becher und reichte jedem einen. Milch und Zucker standen schon auf dem Tisch ebenso einige Flaschen Mineralwasser und Fruchtsäfte. Snyder nahm wieder an der Stirnseite platz und schaute beide Männer eindringlich an. Der andere der beiden war der Anstaltsleiter Doktor Anderson. Er holte tief Luft blickte versonnen in seine Kaffeetasse und begann mit tiefer Baritonstimme zu sprechen.
„Meine Herren die Sache ist wirklich delikat. Noch ist vorläufig äußerste Diskretion und Vorsicht geboten. Es herrscht ein absolutes Presseverbot. Eine Großfahndung können wir immer noch jederzeit auslösen. Lassen sie mich bitte vorab ein paar Erklärungen geben. Wie sie wissen gibt es vom Standpunkt der psychiatrischen Wissenschaft aus gesehen, einige höchst interessante Exemplare, so das auch jedes Jahr etliche Gastmediziner von internationalen Ruf an unserem Institut arbeiten und ihre Studien zu betreiben. Es mag Ansichtssache sein ob es wirklich Wissenschaft ist oder nicht die fleischgewordenen Hannibal Lecters oder Michael Myers dieser Welt zu untersuchen und in ihre schwarzen Seelen vorzustoßen, aber im Endeffekt bauen die Menschen auch Atomwaffen und das erscheint auch nicht sinnvoller.“, Anderson nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen.
Carson dachte darüber nach, dass nicht wenige Menschen und er schloss sich da auch nicht aus, Psychiater und Psychologen selbst für krank hielten und in der Verwirklichung ihrer Berufe eine Art von Selbsttherapie sahen. Das Bild des Doktors mit starker schwarzer Hornbrille, kantigem Gesicht und entweder wirrem oder streng anliegendem fettigen Haar kann nicht nur Hollywood entsprungen sein. Denn auch die großen Drehbuchvorlagen orientierten sich ja teilweise am wirklichen Leben um so den Geschmack der Leute besser treffen zu können. Snyder schien in dieses Klischee bestens zu passen. Anderson war eher der Verwaltungsmensch und weniger der Arzt. Die Last der Verantwortung mochte diese Prioritäten verschoben haben.
„Die Diskussionen um Triebtäter und sonstige Psychopathen sind ein andauerndes Thema der Öffentlichkeit und wahrscheinlich mittlerweile auch gesellschaftlich nicht mehr wegzudenken.“, Snyder schaltete sich nun auch in den Vortrag ein.
„Wir sind kein Privatinstitut sondern staatlich, was bedeutet, dass wir uns zu größten Teilen aus Steuergeldern und staatlichen Zuschüssen finanzieren müssen. Ob dem Staat der uns finanziert, eine Mitschuld an der Schaffung solcher Monster zu zuschreiben ist, mag niemand so recht zu beurteilen. Fakt ist nur eines. Wir können uns im Moment keine negative Publicity leisten. Das Budget was der Senat für uns bereithält wird immer enger und solange unsere Regierung demokratisch bleibt wird sich die Lage eher verschlimmern.“, Snyder hielt inne und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.
„Wir kennen dieses Problem, Doktor denn auch wir sind keine Privatvereine.“, sagte Carson.
„Dann wissen sie bestens wovon wir reden.“, nahm Anderson den Faden wieder auf.
„Auch öffentliche Einrichtungen stehen unter Druck. Bei Pannen erschienen als erste diejenigen auf der Anklagebank, die gern ganze Systeme und Regierungen für das Fehlverhalten ihrer Mitmenschen verantwortlich machten. Aber das trifft ganz sicher nicht auf diese Insassen hier in Buffalo zu. Gewiss kann man eine Kausalität zwischen verfehlter Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosigkeit, Kriminalität insbesondere Jugendkriminalität und die daraus erwachsende Perspektivlosigkeit immer herstellen. Das ließe sich in einem größeren Rahmen auch statistisch belegen. Allerdings kann keine Regierung oder ein Staat so schlecht sein um aus Menschen das zu machen, was unsere Insassen sind. Eher ziehe ich eine Besessenheit durch den Leibhaftigen in Erwägung.“, Anderson machte eine Pause stand auf und begann langsam hin und her zu laufen.
„Sie kennen die Geier von der Presse. Die riechen das Aas meilenweit gegen den Wind. Wenn detailliert bekannt wird, was vorgefallen war..... Ich mag gar nicht daran denken. Ich habe da einige Spezialfreunde der eher etwas linksgerichteten Presse. In unseren Pforten vermuten die schon lange den Eingang zum Hades. Oder denken sie nur an einige meiner Fachkollegen. Wenn man denen und ihren Gutachtern Glauben schenken darf, ist in den meisten Fällen einer missratenen Erziehung, prügelnden und missbrauchenden Eltern die Schuld für ihre kriminellen Kindern zu geben. Ein Tatbestand den ich schwer wiederlegen kann und der geschickten Strafverteidigern immer ein Möglichkeit gibt, sich in die Schuldunfähigkeit ihres Mandanten zu flüchten. Sie kennen das doch sicher auch von ihrer Arbeit?“
Hudson seufzte und erinnerte sich an einige Fälle, wo er Verbrecher hinter Gitter bringen wollte. Öfters wurde er dabei als Zeuge vor Gericht geladen und musste mit ansehen, wie der Angeklagte schuldunfähig freigesprochen oder lediglich Bewährungsstrafen erhielt. Pingelich suchten die Verteidiger Fehler in der Polizeiarbeit und sprengten damit die Beweiskette. Nicht nur einmal fühlte sich Hudson selbst als Angeklagter wenn er ins Verhör genommen wurde. Er wusste das eine entscheidende Rolle die wissenschaftliche Qualifikation und Reputation des Gutachters spielt. Täter und Opfer werden zu Nebendarstellern degradiert wenn der Professor Gutachter nur genug Publikationen in einschlägigen Fachzeitschriften vorweisen kann. Was konnte er da schon als kleiner Polizeibeamter vorweisen. Er hatte nicht studiert und auch kein College besucht. Sein Vater war Polizist also wurde er es auch. Es war ein ungleiches Spiel aber so war es nun einmal.


Es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen das es unabdingbar ist die Verwerflichkeit des eigenen Verbrechens einzusehen, kurzum zu wissen, dass man dem andern ein Unrecht zugefügt hat. Wer selbst in seiner Kindheit und Jugend viel Leiderfahren musste, für den kann die Grenze dessen was Recht und Unrecht ist leicht verwischen, da er in seinen prägenden Jahren des Heranwachsen keinen oder einen falschen Maßstab kennen gelernt hat. Eine andere Auffassung vertritt die Ansicht das jegliche Handlung selbstverantwortlich geschieht. Jeder ist seines Glückes Schmied in Guten wie in schlechten Dingen. Bedenkt man, dass während des Nationalsozialismus versucht wurde eine ganze Rasse auszurotten, was auch zu einem großen Teil gelang, wäre ja hier der ideale Nährboden für Probanten des ersten Lagers zu finden. Dem ist aber nicht so. Obwohl schreckliches unvorstellbares Leid erfahren, ist das jüdische Volk nach unseren Vorstellungen normal. Es gibt nicht mehr oder weniger Kriminalität prozentual auf die Bevölkerung verteilt. Ganz gleich ob man an die Schöpfung oder die Evolution glaubte, Einigkeit bestand darin das allen Menschen, sozusagen als letzte Kontrollinstitution ein Gewissen anhaftet. Um beispielsweise einen Menschen zu töten, ist eine gewisse Hemmschwelle zu überwinden. Eine Brücke kann Angst oder Wut sein. Allerdings wird ein normaler Mensch unter in einer normalen Situation nicht einfach seinen Nachbarn erschießen, eben wegen dieser Schwelle. Womit man schon bei dem nächsten Problem wäre, was überhaupt normal ist. Eine Definition zu finden, die sowohl objektiven als auch subjektiven Betrachtungsweisen genüge tun würde, ist unmöglich. Hier scheint sich der Kreis der beiden Lager zu schließen. Nur das objektive Umfeld also die Erziehung, die Gesellschaft und das subjektive innere Bild, nennen wir es Seele macht aus einem Menschen das was er ist. Die Normalität vermag sich ja auch nur hervorzuheben, wenn es das Gegenteil gab, das ewige Spiel von Gut und Böse im Spiegel der Gesellschaft, die nun einmal Regeln und Normen vorschreibt. Ein Teil diese Trennungsprinzips wurde hier in der staatlichen Psychiatrie von Buffalo verwirklicht. Die Bösen wurden vor den unbescholtenen Bürgern verwahrt und gleichzeitig wurde Ursachenforschung betrieben. Von Kannibalismus bis zum Schizophrenen, für alle Krankheiten oder Verhaltensstörungen gab es hier ein Exemplar. Eine nationale Sammelstelle, fast so gesichert wie Fort Knox. Im Regelfall sollte kein Insasse die Anstalt lebend verlassen und wenn doch, dann nur therapiert.
`Ein Handyklingeln ließ Doktor Anderson in seinen Ausführungen innehalten. Regungslos nahm er das Gespräch an. Seine Miene verriet nicht die Spur von Gefühlen. Er entschuldigte sich kurz, verabschiedete sich und verließ unvermittelt den Raum.`
Allerdings war die bei den meisten erfolglos und so beschränkte sich die Funktion im Wesentlichen auf ein sicheres Gewahrsam der Patienten. Es war höchst selten, dass es einem Patienten gelang zu fliehen aber es ist in den letzten dreißig Jahren doch schon mehr als einmal vorgekommen und so auch an diesem Freitag im Oktober.
„Es war der erste Ausbruch seit zwölf Jahren. Rudolf Cordes, dreiundvierzig Jahre, geboren in Berlin, Deutschland. Nach dem Mauerbau Flucht nach Köln – Westdeutschland. Seine Eltern wurden bei dem Fluchtversuch getötet. Soweit wir wissen hat man auf sie geschossen. Cordes konnte als einziger entkommen. Er war damals fünf Jahre alt. Bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr wurde er psychiatrisch betreut und zwar in einer staatlichen Nervenheilanstalt in Köln von Doktor Rosmayr. Mit zehn Jahren erste Anzeichen von Deprivation. Aus dem Mutter – Kind Trennungsproblem folgte eine teilweise Desensibilisierung.“
„Entschuldigen sie Doktor Snyder, aber könnten sie sich vielleicht etwas umgangssprachlicher ausdrücken?!“, Frank Hudson blickte von seinem Notizblock auf und richtete seinen Blick fragend auf Doktor Snyder. FBI Agent Mike Carson musste etwas in sich hinein lächeln als sein junger Kollege von der New York State Police den Doktor in seinen Ausführungen unterbrach. Solche Fälle gehörten sicher nicht zum Alltag eines Polizisten. Wer hauptsächlich mit Parksündern, Überfällen und der sonstigen üblichen Kriminalität beschäftigt ist, hat keine Erfahrung mit solchen Typen. Aber dafür wurde schließlich auch das FBI dazugerufen. Carson hatte immerhin ein Diplom in Psychologie und war mit den Grundbegriffen vertraut.
„O.k.“, Snyder machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, wie er sich am einfachsten ausdrücken könnte.
„Sagen wir es mal so, Cordes fehlt die Verbindung zwischen einem durch eine Phobie ausgelösten Reiz und seiner drauf folgenden Angstreaktion.“
„Mit anderen Worten er ist angstfrei. Sollte er dennoch so etwas wie Angst empfinden kann er nicht darauf reagieren.“, warf Carson ein.
„Ganz genau. Das erstaunliche ist, dass er auch relativ schmerzfrei zu seien scheint. Reize wie Angst oder Schmerz lösen keine Reaktionen bei ihm aus. Umso ungewöhnlicher seine starken Neigungen zu Perversitäten wie Pädophilie oder Sadismus. Bei Sadismus handelt es sich um ein sexuelles Fehlverhalten bei dem sexuelle Erregung und Befriedigung durch körperliches Quälen des Opfers erreicht werden. Durch seine pädophile Neigung ist er besonders auf Kinder fixiert.“, fuhr Snyder fort.
„Halt, halt nicht so schnell. Sie sagten Cordes war in Deutschland untergebracht. Wie kam er in die Vereinigten Staaten?“, fragte Hudson.
„Tja sagen wir mal es war eine Art Verkettung unglücklicher Umstände. Rosmayr konnte keine rechten Therapieerfolge bei Cordes erzielen. Dennoch nahm er nach Rosmayrs Angaben fast seine gesamte Arbeitszeit in Anspruch. Wohl kein Arzt hat sich so intensiv mit ihm beschäftigt wie er.“, Snyder öffnete einen Aktenschrank und reichte Hudson und Carson Kopien der Krankenakte von Rosmayr.
„Die Details können sie selbst nachlesen. Die Zeit läuft meine Herren.“, fuhr er fort. „Wie gesagt Rosmayr kam nicht so recht voran. Er publizierte dennoch einen Teil seiner Ergebnisse auch hier in den Staaten in psychiatrischen und neurologischen Fachmagazinen. Doktor Gondorf Eigentümer des gleichnamigen Institutes und Verfechter von abstrusen Angsttherapien holte beide vor dreizehn Jahren nach Cleveland. Bereits nach einem Jahr konnte er von dort entkommen. Cordes wurde völlig unterschätzt, seine pathologischen Neigungen verkannt. Es kam was kommen musste. In den Jahren vor seinem Aufenthalt hier in unserer Anstalt verging er sich an fünf Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren. Vier der fünf überlebten seine Misshandlungen nicht, wobei nicht nachgewissen werden konnte ob jemals eine einzige post mortem zugefügt wurde. Das fünfte Mädchen ist nur noch eine menschliche Hülle ohne jegliche Reaktion. Sie ist so stark autistisch geworden, dass wir bis heute noch keine Chance hatten, an sie heranzukommen. Sie können also davon ausgehen, dass seine Zielgruppe oder besser gesagt eine seiner Zielgruppen Mädchen im Alter von acht bis vierzehn Jahren ist.“
Hudson dachte an seine eigene Tochter und musste einen großen Kloß schlucken. Wut kroch in ihm hoch und motivierte ihn noch mehr das Schwein möglichst bald zu fassen. Snyder machte indessen mit seinen Ausführungen ungerührt weiter.
„Wenn ich von einer möglichen Zielgruppe spreche sind wir schon bei dem nächsten Problem. Seine pädophile Neigung ließ sich bisher nur empirisch herleiten, das heißt nur der Umstand allein, das die meisten seiner Opfer in die Gruppe von minderjährigen Mädchen gehörten legte diese Ansicht nahe. Er wird ebenso mit dem Verschwinden einiger anderer Opfer assoziiert. Hierbei handelte es sich ausschließlich um Erwachsene. Aber da sind sie sicherlich besser informiert, denn das liegt ja eher im Bereich der Ermittlung und Fahndung der Polizei. Cordes muss als Gefahr für jegliches menschliches Leben gesehen werden, bedingt durch seine Unberechenbarkeit und eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit. Wir wissen nicht welche Ziele er genau verfolgt, wir wissen nur das er jedes Hindernis beseitigen wird, welches ihn in irgend einer Weise daran zu hindern versucht. Sein Krankheitsbild ist relativ ungewöhnlichen Schwankungen unterworfen, für die wir bis heute noch keine plausible Erklärung gefunden haben. Cordes ist intelligent und körperlich völlig gesund. Seine Abnormalität ist ihm äußerlich nicht anzumerken. Er spricht akzentfrei englisch, ein weiteres Zeichen für seinen brillanten Verstand und seine schnelle Auffassungsgabe. Wie sie sehen, kommt ein gewaltiges Problem auf uns zu.“, mit diesen Worten gab Snyder seinem Assistent ein Zeichen. Dieser ließ Vorhänge and der breiten Fensterfront herab, an der freien Wand des kleinen Konferenzraumes von Doktor Snyder eine Leinwand herunter und machte sich dann an einem Diaprojektor zu schaffen. Snyder wischte sich den Mund mit einem schneeweißen Tuch und bediente mit einer kleinen Fernbedienung den Projektor. Auf der Leinwand erschien das Bild eines Mannes. Auf den ersten Blick könnte man ihn als durchschnittlich einstufen. Ein Mann mit lichtem Haar, weiße Anstaltskleidung, Bartstoppeln. Die Statur schien kräftig zu sein, zirka 1,80 m groß. Auffallend waren die Augen: wässrig bläulich wirkten sie konturlos. Kein irrer oder gehetzter Blick sondern kalt und ausdruckslos, irgendwie teilnahmslos blickten sie in die Kamera. Seine Hände, die auf den Schenkeln ruhten waren fein, ja sogar fast filigran. Perfekt um auf den Tasten eines Flügels zu tanzen.

ENDE KAPITEL 1



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