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Herzblut - Kap. 4 - von Paglim, 19.02.2008
Das heiße Wasser war ein Segen.
Khalid würde Gilla nicht oft genug dafür danken können, dass sie ihm dieses Bad bereitet hatte. Er hatte nicht geahnt, wie verspannt er gewesen war. Die Wirtstochter hatte dem Wasser Kräuter beigemischt, die nun einen betörenden Duft freisetzten, seine Muskeln entkrampften und ihn sanft eindösen ließen.
Der Verbannte und vom Wetter Verfluchte lehnte sich an die Innenwand des schweren Holzzubers und war seit langer Zeit zum ersten Mal mit sich und der Welt vollauf zufrieden.
Doch keine Idylle ist jemals perfekt.
In diesem Halbschlaf glitten seine haltlosen Gedanken unbewusst hinüber zu seinem Bruder und der in den letzten Stunden verdrängte Schmerz kehrte mit neuer Intensität wieder und verursachte ein Stechen wie von heißen Nadeln in seinem Herzen.
Plötzlich war das Wasser nicht mehr so angenehm.
Eine klamme Müdigkeit, verursacht durch den harten Tag, unterstützt von der großen Portion Bohnen mit Speck, die unfassbar gut geschmeckt und Khalid einen Eindruck sowohl von Gillas Kochkünsten als auch von der Wirkung der Trüffel vermittelt hatte, übermannte ihn.
Die Matrone schien wirklich einen Narren an ihm gefressen zu haben, denn sie hatte ihm eines der am besten ausgestatteten Zimmer in der “Klosterkreuzung” überlassen. Auch hier waren die Wände mit schweren Vorhängen, die den Raum in ein mysteriöses Licht tauchten, das von unzähligen Kerzen an Wandhalterungen und auf dem schweren Eichentisch, der einen Großteil des Raumes ausmachte, gespendet wurde.
Der größte Luxus des Zimmers war das geräumige Kastenbett mit einer weichen Matratze aus Stroh. Sogar ein mit Federn gefülltes Kissen und eine ebensolche Decke gab es.
Zitternd zog Khalid das weite Trockentuch fest um sich, als er aus der Wanne auf den weichen Schafsfellteppich trat.
Er wusste, er sollte erleichtert sein, in einem warmen Bett schlafen zu können. Diese Möglichkeit würde sich im kommenden Jahr nicht mehr häufig bieten. Doch die Gedanken an seinen Bruder und an das Geschehene, sowie das nervtötende Prickeln in der linken Hand verdarben ihm den Genuss. Um sich abzulenken dachte der Pilger über die weitere Reise nach.
Es war eine Erleichterung, dass er warme Kleidung von Gilla bekommen hatte. In seinem Ärger, der Verwirrung und der Trauer hatte er nicht bedacht, dass es in Ragar selbst im Sommer nicht sehr warm war, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er auch den gesamten Winter dort im eisigen Norden würde verbringen müssen.
Dennoch bot sich ihm nun ein neues, nicht zu unterschätzendes Problem. Die Nachricht, dass die Barbaren Kriegsvorbereitungen trafen, hatte ihn mehr erschreckt, als er sich hatte anmerken lassen. Es würde wohl am sichersten sein, ihnen so weit möglich aus dem Weg zu gehen. Doch er wusste nicht, wo sich die Meditationsstätten befanden und hatte gehofft, die Ragar hätten ihm den Weg zeigen können. Außerdem konnte er nicht ein ganzes Jahr in der Wildnis überleben.
Solche Grübeleien brachten ihn nicht weiter. Barbaren oder nicht, die Bewohner dieses lebensfeindlichen Landes waren immer noch Menschen und sie würden erkennen können, dass er keine Gefahr darstellte.
Wie ein störendes Insekt wischte Khalid seine Zweifel beiseite. Es blieb ihm so oder so nur eine Richtung, in die er gehen konnte: weiter, immer weiter nach Norden.
Sich selbst Ruhe und Zuversicht vorspielend ging der junge Mann in Richtung des Bettes, dann stutzte er.
Ohne es in irgendeiner Weise realisiert zu haben, hatte der Grübelnde sich, ganz verloren in seinen Gedankengängen, vollständig angekleidet, selbst die Stiefel trug er.
Verärgert blickte Khalid an sich herab. Er würde besser darauf achten müssen, was er tat, sagte er sich und wollte sich gerade wieder entkleiden, als sich die Tür öffnete und Gilla sein Zimmer betrat.
Nun, so hatte ihn seine Gedankenverlorenheit zumindest vor einer peinlichen Situation bewahrt. Der Pilger hatte keine Interesse daran, der Wirtstochter erneut einen Blick auf seinen entblößten Körper zu gewähren.
“Ich habe dir noch etwas mitgebracht!” schmetterte ihm die Gigantin entgegen. In den Händen trug sie einen langen pelzbesetzten Mantel und einen ledernen Umhängebeutel.
“Ich brauche diese Sachen nicht mehr und ich will, dass du gut ausgerüstet bist, mein Süßer. In der Tasche ist frischer Proviant, den wirst du da oben besser gebrauchen können als Geld, die Barbaren handeln so oder so nicht mit Menschen aus dem Süden. Du willst noch weggehen? Ich dachte, du würdest direkt schlafen wollen.”
Sie deutete auf seine Kleidung, doch ehe Khalid ihr antworten konnte, hörte er von unten, wie jemand den Schankraum betrat. Im gleichen Moment spürte er eine rapide wachsende Unruhe in sich. Von einem Augenblick auf den Anderen begann sein Herz zu rasen.
Der junge Mann wusste, was ihm nun bevorstand. Hilflos musste er feststellen, wie eine andere Macht von ihm Besitz ergriff, seine Worte, sein Handeln, selbst sein Denken übernahm und ihn in die Rolle des Beobachters drängte. So stark wie diesmal waren seine Anfälle jedoch noch nicht gewesen.
Hastig nahm er Gilla Mantel und Tasche aus der Hand, wobei sie ihm nur einen verwirrten Blicken entgegenwarf. Mit einer harschen Geste schnitt er ihr jedes mögliche Wort ab.
“Ich muss hier fort! Habt ihr hier eine Hintertür? Kannst du mich rausbringen?”
Als ihm nicht mehr als ein gestottertes “W-was?” antwortete, wurde Khalid eindringlicher und nahm die Frau beim Arm.
“Bitte Gilla! Ich weiß nicht, wieso, aber ich muss von hier verschwinden, sonst passiert etwas Schlimmes.”
Es wusste nicht, was die gute Frau vor ihm dachte, aber er hoffte inständig, sie würde ihm vertrauen.
Und sie tat es.
Ohne ein weiteres Wort nahm die Schankfrau den kleineren Mann an der Schulter und zog ihn mit einer Gewalt hinter sich her, dass dieser um sein Gleichgewicht kämpfen musste.
Die breite Frau legte eine unerwartete Schnelligkeit an den Tag und verursachte dabei überraschend wenig Lärm.
Khalid atmete erleichtert auf, als sie sich von der Treppe zum Schankraum abwandte und ihn weiter den Korridor hinunter führte. Nebenher hörte er Bruchstücke des Gesprächs, das unten geführt wurde und ihm stockte der Atem, als er seinen Namen vernahm.
“Kah-lied? Kennichnich. Noch nie nich von so nem Namen gehört, ne!”
Trotz allem musste der junge Mann grinsen. Das Schicksal schien ihm wohlgesonnen zu sein. Der alte Samuel hatte ihn nicht nach seinem Namen gefragt und er selbst hatte vergessen, ihn zu nennen.
In diesem Moment wäre er fast mit Gillas Hüfte kollidiert, als diese urplötzlich stehen blieb.
Die Tür vor ihnen schien willkürlich ausgewählt, sie unterschied sich in keiner Weise von den Anderen.
Verwirrt die Panik niederkämpfend fand sich Khalid beim Eintreten in einem Zimmer wieder, das seinem recht ähnlich war, jedoch kleiner und weniger gut ausgestattet.
Was wollten sie hier? Das war eine Sackgasse!
Doch unbeirrt zog ihn die große Frau weiter, hin zu dem kleinen Fenster und öffnete leise die schweren Läden.
“Direkt unter diesem Fenster ist das Dach der Scheune.” raunte sie ihm zu. In dem wenigen Licht, das vom Flur hereinkam, konnte er Angst und Sorge in ihren Augen sehen.
“Keine Panik, es ist nicht tief. Da draußen ist es stockfinster, es wird dich niemand sehen. Du musst nur leise sein. Und pass um der Heiligen willen auf, dass du nicht ausrutschst! Zur linken Seite hängt das Dach tief, es dürften keine zwei Schritt bis zum Boden sein. Da kannst du dich herunterlassen.”
Sie hielt inne, dann trat die gewaltige Dame auf ihn zu und schloss ihn nach ihren Maßstäben sanft in die Arme. Zum Glück ließ sie von dem Novizen ab, bevor dieser fürchten musste, einem tragischen Erstickungstod zum Opfer zu fallen.
“Ich weiß nicht, was hier los ist,” fuhr Gilla fort, “aber ich weiß, dass du ein guter Junge bist. Pass auf dich auf, mein Kleiner!”
Dieser nickte, verstaute den Mantel im Beutel, warf sich Letzteren über die Schulter und machte sich daran, aus dem Fenster zu steigen.
“Danke für alles!” warf er noch zurück, bevor er sich ohne eine Reaktion abzuwarten auf das Dach fallen ließ.
Das mit Stroh bedeckte und stellenweise mit Gras und Moos bewachsene Holz dämpfte seinen Aufprall, war allerdings im nassen Zustand auch tückisch glatt.
Der Regen hatte nachgelassen, doch die geschlossene Wolkendecke verbarg Mond und Sterne und tauchte die Welt in undurchdringliche Finsternis.
Einen Moment musste Khalid verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfen. Er stand breitbeinig auf dem Giebel des Daches, das steil zu beiden Seiten abfiel, und seine Füße konnten kaum Halt finden.
Erst als er in die Hocke ging und mit den Händen nachhalf, bekam er festen Stand.
Die Panik in dem jungen Mann wurde immer zudringlicher, es kostete ihn mehr und mehr Mühe, sie zu unterdrücken. Das Herz hämmerte ihm so laut, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Ruhig, ganz ruhig, sagte er sich. Du bist schon auf dem Dach, du musst dich nur langsam herunterlassen, dann hast du es geschafft.
Vorsichtig hob Khalid das rechte Bein über den Giebel, doch bevor er es sicher aufsetzen konnte, gab der Boden unter dem linken Fuß nach.
Einen Augenblick hatte der Flüchtende das irritierende Gefühl, in der Luft zu schweben, bevor sein Kiefer hart auf dem Giebel aufschlug.
Der Schmerz machte ihn so benommen, dass er völlig die Orientierung verlor.
Hilflos scharrten seine Arme haltsuchend über das Dach, während er immer tiefer rutschte und nur einen Moment später war der Boden urplötzlich fort.
Und genauso plötzlich war er wieder da, als Khalid rücklings in einer schlammigen Pfütze landete.
In einer entfernten Ecke seines Geistes dankte der Gestürzte den Heiligen dafür, dass es geregnet hatte, bevor er sich unsicher auf die Beine kämpfte.
Er schmeckte Blut und kleine harte Stücke, die er ausspuckte, ohne weiter darüber nachzudenken. Der Schmerz pochte in seinen Händen, in jedem einzelnen Finger und vor allem in seinem Kiefer, doch Khalid achtete nicht darauf.
Denn in diesem Moment hörte er von der anderen Seite des Gebäudes aufgeregte Stimmen durch die Nacht schallen.
Nur kurz hatte er Gelegenheit, daran zu denken, dass er Samuel und Gilla in Schwierigkeiten gebracht hatte, bevor sein Verstand sich endgültig verabschiedete.
Khalid floh.
Und es war ihm gleich, in welche Richtung er lief, sehen konnte er so oder so nichts, er musste seinen Füßen vertrauen, dass sie den Weg von alleine fanden.
Zeit spielte keine Rolle mehr.
Irgendwann musste er in einen Wald geraten sein, denn Äste schlugen ihm ins Gesicht und Dornen zerkratzten seine Haut.
Immer wieder stolperte der Flüchtende über Wurzeln und Gestrüpp, doch jedes Mal war er nur Momente später wieder auf den Beinen und rannte weiter.
Nirgends konnte er ein Anzeichen anderer Menschen sehen oder hören. dennoch wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er verfolgt wurde. Und seine Jäger besaßen Pferde.
Khalid lief bis der Tag anbrach.
Und als die Wolken sich verzogen und die aufgehende Sonne am Himmel auftauchte, gelangte ein einziger bewusster Gedanke zu ihm:
Der Himmel ist rot von Blut.
Dann brach der Gehetzte dort zusammen, wo er stand.
Die Macht, die ihn stundenlang festgehalten hatte, ließ von ihm ab. Zurück blieben Angst, Verwirrung, Schmerz und Erschöpfung.
Er war allein, verfolgt von Menschen, die seinen Tod wollten, und er wusste noch nicht einmal, wieso.
Khalid weinte.
Er lag auf der Seite im nassen Moos und weinte all seinen Schmerz hinaus.
In diesem Moment erwachte Ludger.
Er hatte ein Geräusch gehört.

*

Sie mussten wohl eingeschlafen gewesen sein.
Maria schlummerte noch selig an seiner Brust. Der Rücken des Novizen schmerzte von der unbequemen Sitzposition und seine Haut juckte unangenehm an den Stellen, an denen das Stroh eingedrungen war.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, hob Ludger die hübsche Bauerntochter von sich herunter und ließ sie sanft ins Stroh gleiten.
Es schien ihm, als würde jeder einzelne Knochen protestierend ein hässliches Knacken von sich geben, als er sich erhob.
Von draußen fiel warmes rötliches Licht in die Scheune, die Sonne war offensichtlich gerade erst aufgegangen.
In diesem Moment fiel Ludger wieder ein, warum er aufgewacht war. Er hatte etwas seltsam wirres geträumt von einem düsteren Wald und dann kam von irgendwoher ein bedrohlicher Laut, ein Brummen oder Knurren.
Der junge Mann schüttelte den Kopf, wie um die Überreste des Traumes zu verscheuchen.
Ein Blick auf Maria, die friedlich und ruhig dalag, ließ ihn die düsteren Gedanken vergessen. Sie war im Schlaf noch schöner als sonst. Nur zu gern hätte er sich wieder an sie geschmiegt, an ihren blonden Locken gerochen, die immer nach Kräutern dufteten.
Doch zunächst sollte er sich selbst waschen, denn er bezweifelte, dass er im Augenblick einen ähnlich angenehmen Geruch verströmte.
Unwillig riss sich Ludger vom Anblick seiner Geliebten los und streckte die Hand nach der Tür aus, um sich einen Eimer Wasser vom Brunnen zu holen.
Diese Bewegung rettete ihm vermutlich das Leben, denn so brach die Holztür, die urplötzlich mit unglaublicher Gewalt aus den Angeln gerissen und ihm entgegen geworfen wurde, nur das Handgelenk und nicht das Rückgrat.

Als Alef an diesem Morgen wie immer vor allen anderen Novizen aufgestanden und zu seinem Morgenspaziergang aufgebrochen war, hatte er noch nicht ahnen können, dass er in wenigen Minuten den meisten Einwohnern des Dorfes Eibenbach das Leben retten würde.
Der Achtjährige war erst vor wenigen Wochen ins Kloster gekommen, als einer der Ersten der nächsten Generation von Mönchen. Im Herbst erst würden die meisten anderen Jungen dazukommen, denn dann würde der Unterricht beginnen. Als jüngstem Sohn des Grafen von Akitaos hatte man Alef schon früh vorhergesagt, dass er eines Tages traditionsgemäß ins Kloster geschickt würde. Der als ruhig und schüchtern bekannte Junge hatte dieses Schicksal gelassen entgegen genommen. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, er hätte in ein Rahlskloster gedurft, wo man den schönen Künsten frönte und sich die Zeit mit Spielen und Festen vertrieb. Doch der einzige Orden dieser Art, der zum heutigen Tage noch bestand, befand sich in Maza Glares, der Hauptstand von Maza´al.
Wie auch zuhause in Akitaos hatte sich Alef es hier zur Gewohntheit gemacht, mit dem ersten Licht des Morgens aufzustehen, auf die Mauer des Klosters zu klettern und die aufgehende Sonne zu begrüßen.
Zu dieser Zeit des Tages war es hier draußen herrlich still. Der Junge genoss diese Momente in vollen Zügen, denn nur wenig später würde das Kloster erwachen und von neuer Hektik erfüllt sein, die jeder Tag nun einmal mit sich brachte.
Auch an diesem Morgen beobachtete Alef fasziniert, wie der Teppich aus orange-rotem Licht sich von Osten her über den Boden schob und die Finsternis vertrieb, die nur widerwillig dem neuen Tag Platz zu machen schien.
Doch etwas war anders. Sonst hatte er nie bemerkt, dass jemand um diese Zeit schon auf den Beinen war, außer gestern, als er zwei andere Novizen am Tor gesehen hatte. Einen von ihnen hatte er als den Verbannten erkannt, auch wenn er noch immer nicht sicher wusste, was das bedeutete.
Und heute sah der junge Adlige gleich mehrere Schatten, die, da sie gegen die Sonne standen, kaum zu erkennen waren.
Neugierig geworden sah Alef genauer hin, doch für den Moment waren es nur große schwarze Schemen, die sich dort bewegten.
Erst als die Gestalten die äußeren Höfe Eibenbachs schon erreicht hatten, konnte er ausmachen, um was es sich handelte.
Im selben Moment wandelte sich seine Neugier schlagartig in Furcht. Er hatte diese Tiere noch nie selbst gesehen, doch in Akitaos gab es einen Wandteppich, der einen Mann im Kampf mit solch einem zotteligen Ungetüm zeigte. Schon diese Abbildung und die damit verbundenen Geschichten hatten ihn in Angst und Schrecken versetzt. Doch der Anblick eines lebendigen Bären war noch weitaus grausiger, noch dazu war es fast ein Dutzend dieser Bestien.
Ein neues Gefühl stieg in Alef auf, eines von dem er in seinem bisherigen Leben verschont gewesen war: die Furcht um das eigene Leben.
Dennoch legte der Junge eine Tapferkeit an den Tag, die manchem Erwachsenen gefehlt hätte. Denn er dachte nicht daran, sich zu verstecken, um sein Leben zu schützen, seine Sorge galt vielmehr den Anderen, den Dorfbewohnern, die nun allesamt in Lebensgefahr schwebten.
Er musste sie wecken.
Alef erinnerte sich daran, dass es in der heimatlichen Burg für einen solchen Fall eine Glocke in einem hohen Turm gab. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass, sollte der Grafschaft jemals ein Angriff oder Ähnliches drohen, diese Glocke geläutet würde. Alle Bauern der umliegenden Ländereien würden den Klang hören und sich in die Burg und damit in Sicherheit flüchten.
Auch hier gab es ein solches Instrument, Alef hatte es entdeckt, als er zum ersten Mal die Kapelle besucht hatte. Sie befand sich hoch oben im Turm direkt in der Mitte des dreizackigen Sterns.
Der Junge kletterte hastig von der Mauer herunter, wobei er ein gutes Stück in Sprung nahm, was ihm schließlich einen übel umgeknickten Fuß einbrachte.
Humpelnd bewegte er sich so schnell er konnte zu dem seltsam geformten Gebäude in der Mitte des großen Platzes.
Es schien Alef, als würde es Jahre brauchen, bis er schließlich an der großen verzierten Pforte zu der Kapelle, die den Gläubigen zu jeder Zeit geöffnet war, ankam.
Er ließ den Gebets- und Meditationsraum unbeachtet und wandte sich direkt nach links. Hinter einem weiteren großen Tor befand sich die hohe dreieckige Halle, die alle Gebäude des Sterns miteinander verband.
Atemlos blieb der Junge stehen und blickte nach oben. Er musste sich zurückhalten, nicht lauthals zu fluchen. Das Seil, mit dem die Glocke zu läuten war, war nur von einem Podest hoch über ihm zu erreichen, zu welchem wiederum nur eine brüchige, offenbar seit Jahren nicht mehr benutzte Holzleiter führte.
Schicksalsergeben machte sich Alef an den Aufstieg. Die Leiter war an die Wand genagelt, dennoch schien sie gefährlich zu schwanken.
Er war kein furchtsames Kind, unter Höhenangst litt er erst recht nicht. Dennoch schlug ihm das Herz bis zum Halse, als er sich vorsichtig Sprosse für Sprosse hinaufzog. Das Holz ächzte trotz seines Leichtgewichts, einen größeren Menschen hätte die Leiter sicher nicht gehalten.
Dann, als er die halbe Strecke der gut zwanzig Schritt hinter sich gebracht hatte, gab das uralte Holz schließlich nach und die Sprosse, auf die Alef gerade seinen Fuß gesetzt hatte, brach plötzlich unter ihm weg.
Der Junge keuchte vor Schreck auf, Panik drohte ihn zu übermannen, als er sah, wie weit er über dem Boden hing.
Der Sturz würde ihn umbringen, das wusste Alef.
Doch obwohl er nur noch hinunter wollte, hangelte der Junge sich mit aus Angst geborenen Kräften weiter nach oben, bis er die Füße wieder aufsetzen konnte.
Einen Augenblick blieb der Novize wo er war und versuchte, seinen Atem und Herzschlag zu beruhigen, sah aber bald die Sinnlosigkeit seines Unterfangens ein.
Die Panik war ihm nun ein ständiger Begleiter auf dem Weg nach oben, doch keine weiteren Sprossen gaben nach und schließlich zog sich Alef auf die hölzerne Plattform, wo er nur kurz keuchend liegen blieb.
Der Schweiß floss dem Jungen in Strömen von der Stirn und brannte in seinen Augen, dennoch sah er deutlich das dicke Tau das nur wenige Handbreit über ihm hing.
Alef betete zu den Heiligen, das Seil möge halten und warf sich mit seinem ganzen Gewicht daran.

Ludger kämpfte sich unter der schweren Tür hervor, bevor das Ungetüm darauf steigen konnte.
Er konnte nicht sehen, was dort durch die Tür gesprengt war, aber er wusste, er würde von diesem Biest einfach niedergewalzt werden. Seine linke Hand war ein einziger Herd des Schmerzes. Jede Bewegung brannte ihm wie gleißendes Feuer.
Aus den Augenwinkeln sah der Novize, wie Maria sich regte, verwirrt umsah und dann einen spitzen Schrei ausstieß. Nur einen Herzschlag später erkannte Ludger den Grund dafür.
Ein Koloss von einem Schwarzbären versuchte, sich durch den Eingang zu quetschen. Das Tier war viel zu groß für den Durchgang, doch es rammte immer wieder gegen den Rahmen, das Holz gab bereits beunruhigende Geräusche von sich.
Ludger wich zurück. Die Augen des Bären waren blutunterlaufen, die Pupillen geweitet, Schaum und Speichel troffen aus Schnauze und Maul.
Das Tier war völlig von Sinnen.
“Klettre auf den Heuschober!” rief er Maria zu und griff nach einer Forke, die in einem der Heuballen steckte. “Ich versuche, es aufzuhalten.”
Die junge Frau reagierte schnell und besonnen, sie stellte keine Fragen, sondern stürmte umgehend die Leiter hinauf.
Doch im selben Moment brach der Bär durch den Eingang. Ein unbändiger Lärm entstand, als der Türrahmen auseinanderbrach.
Ludger versuchte verzweifelt, mit der Mistgabel nach dem Tier zu schlagen, doch seine gebrochene Linke behinderte ihn und er wagte es nicht, zu nah heranzugehen.
Die wirren Augen des Ungetüms waren nun allein auf ihn gerichtet. Eine seltsame Nüchternheit nahm von dem Novizen Besitz. Er wusste, er hatte Maria in Sicherheit gebracht, doch für ihn ging es in diesem Kampf um Leben und Tod. Seltsamerweise trug diese Tatsache dazu bei, dass sein Herzschlag sich beruhigte, seine Angst wich.
So gelang es dem jungen Mann, jeden Gedanken an Flucht zu unterdrücken, als der Bär sich auf die Hinterbeine stellte und zu seiner furchterregenden Größe von fast zwei Männern aufrichtete. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, als das Biest ihm sein ohrenbetäubendes Brüllen entgegen warf und die fingerlangen Zähne zeigte, ohne zu zögern und machte einen gewagten Ausfall vorwärts.
Mit der Forke in der Rechten über die Schulter gehoben stützte Ludger die provisorische Waffe schräg auf dem Boden wie ein Fußsoldat, der versucht, einen anstürmenden Kavalleristen aufzuhalten.
Doch die Kraft eines Armes und der dünne Schaft konnte der gewaltigen Masse des Tieres nicht standhalten, als dieses sich wieder auf alle Viere fallen ließ.
Wie ein Streichholz brach die Mistgabel in der Mitte durch. Die Haut des Bären war kaum angeritzt. Entsetzt keuchte der Novize auf und rollte sich zur Seite unter dem Bauch des Bären weg. Die Reste der Waffe ließ er zurück.
Beiläufig hörte Ludger Maria von oben etwas schreien, doch er konnte sie nicht verstehen. In seinen Ohren rauschte das Blut so laut, als wolle es noch einmal mit ungebändigter Intensität fließen. So lange es noch konnte.
Stolpernd kam der Schweratmende wieder auf die Beine. Er setzte dazu an, hinter den Bären zu gelangen, um nach einem anderen Werkzeug zu suchen, das er als Waffe nutzen konnte, doch er hatte nicht mit der Schnelligkeit des Tieres gerechnet.
Bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, hatte sich das Ungetüm bereits ein Stück umgedreht und mit der gewaltigen Pranke nach ihm geschlagen.
Ludger sah den Schlag nicht kommen und so wurde völlig unvorbereitet getroffen. Ein heißer Schmerz explodierte in seinem Rücken, dort, wo die Krallen in sein Fleisch drangen. Die Wucht des Hiebes warf den Novizen durch die Luft und ließen ihn schwer gegen die Überreste des Türrahmens prallen, wo er benommen zu Boden sank.
Sein Blick verschleierte sich, doch der Verletzte hielt an seinem Bewusstsein fest. Dennoch lasteten Schmerz und Schwäche mit solch einem Gewicht auf ihm, dass er sich nicht mehr rühren konnte.
Hilflos beobachtete Ludger, wie der Bär sich langsam, fast bedächtig zu ihm drehte.
Resigniert erflehte er von den Heiligen einen schnellen, schmerzlosen Tod.
Später wünschte er sich oft, sein Gebet wäre erhört worden.
Doch es sollte anders kommen.
Denn bevor das gigantische Tier ihn hatte erreichen können, stürzte sich Maria mit einem Kampfschrei, der einem Barbaren imponiert hätte, eine Forke in beiden Händen mit einem Fuß auf der Gabel, vom Heuboden direkt auf den Rücken des Bären. Die Wucht des Sprunges, ihres Gewichts und ihrer Wut trieben die Spitzen tief in den Nacken des Tieres, welches erneut sein furchterregendes Brüllen ausstieß, doch diesmal klang es eindeutig gequält.
Von Wut und Schmerz gepeitscht stieg der Riese wieder auf die Hinterbeine, so dass Maria sich nicht mehr halten konnte und aus über zwei Schritt Höhe rücklings zu Boden geworfen wurde.
Ludgers Herz wurde von einer eisigen Kralle gepackt, als er hörte, mit welchem Geräusch der Schädel des Mädchens auf den Steinboden aufschlug.
Doch der Bär starb zuerst.
Nur Sekunden währte der Todeskampf des Tieres, bevor es zur Seite wegkippte wie ein sinkendes Schiff. Es schien fast, als würde bei seinem Aufprall die Erde beben.
Maria, schon nicht mehr bei Bewusstsein, wurde unter ihm begraben.
Ihr Geliebter indes kroch über den steinigen Boden zu ihr, fast blind von Schweiß und Tränen.
Er konnte nur noch ihren Kopf sehen, der Rest ihres Körpers lag zerschmettert unter dem Koloss.
Eine hässliche Blutlache breitete sich aus, färbte ihre goldenen Haare rot.
Ihr Blick war bereits gebrochen.
In diesem Moment fing die Glocke des Lauraneklosters Eibenbach an, zu läuten.



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