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Ausflug ins Netz - von Jurewa, 27.08.2013
"Ich bin jetzt hier und warte auf dich!"
So begann das Treffen.

Linda Albrecht gehörte zu den Frauen, die fast alles ausprobierten und Kommunikation mochten.
Innerlich beschäftigte sie sich seit geraumer Zeit mit den Versuchungen des Internets. Was versprach sie sich davon? Getrieben von ihrer chronischen Neugier ohne großen sexuellen Frust wäre sie für die meisten User uninteressant. Trotzdem, es hatte etwas Verführerisches.
Sie war eine Frau mittleren Alters, die sich Mühe mit sich selber gab und versuchte, ihren Jahren noch etwas Attraktives abzugewinnen, nicht groß, nicht dick, nicht dünn, mit einer der modernen Kurzhaarfrisuren, für die man ein Vermögen beim Friseur hinlegen musste. Sie hatte schöne Augen mit wachem Blick und einen Mund, der ständig zu lächeln schien.
Seit zwei Jahren lebte sie mit ihrer Tochter Melanie allein.

Sie loggte sich unter dem Nick 'AndieLeine', 44, verheiratet, Wohnsitz Wismar ein und setzte diesen Aphorismus dazu:
"...jeder mensch trägt einen kontinent unentdeckten wesens in sich. wohl dem, der sich zum kolumbus der eigenen seele machen kann...."
Schon am gleichen Tag klickten eine Menge Männer ihren Nick an, was sie völlig überraschte.
"Du kannst dir nicht vorstellen, was sich da alles tummelt und relativ schnell als chronisch untervögelt outet!" sagte sie zu einer Freundin.
Zwei Männer fand Linda nach mehreren Kontakten interessant, einen Architekten aus Osnabrück und einen Übersetzer aus Hamburg. Während der aus Osnabrück sehr offen war, sogar seine richtige Adresse der Firma gepostet hatte, hielt sich der Mann aus Hamburg eher bedeckt. Sie favorisierte beide und kommunizierte mit beiden gleichzeitig. Der Architekt musste wohl ähnlich veranlagt sein wie sie, denn er schrieb ihr nach knapp einer Woche, dass auch er mit mehreren Frauen korrespondiere und nun keine Lust mehr habe, ihr zu schreiben. Seine Wahl wäre auf eine Frau aus der Nähe von Köln gefallen.
"Das gibt's doch nicht! Da schreibt der einfach, dass er keine Lust mehr hat!" sagte sie laut vor sich hin und wunderte sich.

Der Übersetzer aus Hamburg, 48, verheiratet, nannte sich ElevenDark und verbreitete eine geheimnisvolle Aura um sich. Seine aktive Zeit wäre die Zeit um elf Uhr nachts, wenn es dunkel ist, die geheimnisvolle Stunde vor Mitternacht. Er begann jedes Mailing mit Zitaten von Schriftstellern, kannte viele Aphorismen und schickte selbstverfasste Kurzgeschichten, die oft voller Rätsel waren. Linda war begeistert! Sie selber hatte schon versucht, kleine Kurzgeschichten zu verfassen, es aber aus Mangel an Talent wieder aufgegeben. Und nun Dark! Morgens war ihr erster Gang zum PC und abends, bevor sie schlafen ging, war es der letzte.
Aber er war chronisch untervögelt, woraus er keinen Hehl machte. Beim Chatten tauchten regelmäßig Sätze auf, dass er Lust auf sie hätte, jetzt in diesem Moment gerade scharf auf sie sei, sie lecken wolle und ob sie nicht Lust auf Telefonsex hätte.
Linda hatte kein Foto eingestellt, aber als Dark nach einiger Zeit um eins bat, schickte sie ihm eins. Ja, meinte er, er könne sich durchaus vorstellen, mit ihr ein Verhältnis anzufangen. Sie sähe ganz gut aus.
Linda bat ebenfalls um ein Foto. Nichts. Er schickte keines, beschrieb sich nach mehreren Bitten als Mischung aus 'Tukur-Ochsenknecht-von der Lippe'! Und er wolle um seiner selbst geliebt werden, nicht wegen seines Äußeren, schrieb er.
Ein Standpunkt, den Linda nicht so recht nachvollziehen konnte, da sie nie von Liebe gesprochen hatte. Inzwischen begann sie sich zu fragen, wohin das führen sollte, was sie eigentlich wollte. Aber dieser Adrenalinstoß, wenn eine neue E-mail kam oder die Aufforderung zum Chatten, ließen sie solche Gedanken gleich wieder vergessen. Diese schnelle Kommunikation fesselte sie ungemein.
Irgendwann kamen sie beim Chatten auf Hamburg zu sprechen und dass Wismar nicht weit entfernt lag. Der Gedanke eines Treffens tauchte auf. Linda beschloss, die nächste Dienstreise nach Hamburg mit einem Treffen zu verbinden, dachte, 'den Vogel' guckst du dir bei dieser Gelegenheit aus der Nähe an. Es muss ja ein ganz besonders interessanter Mann sein, wenn er sich so bedeckt hält.
Inzwischen schrieb er ihr, dass er sie liebt!
Auf irgendwelche Anzüglichkeiten oder Liebesbekundungen ging sie nie ein, sondern sagte immer nur, dass sie glücklich verheiratet sei. Das machte ihn noch mehr an. Er wurde immer fanatischer und Linda war manchmal am Überlegen, ganz aufzuhören. Aber nicht ernsthaft genug.
Seine Ausdrucksweise auf literarischem Gebiet faszinierten sie zunehmend, während sie gleichzeitig von seinen Aufdringlichkeiten abgestoßen wurde. Ein ganz eigenartiger, ambivalenter Zustand.
Auf der Fahrt nach Hamburg fragte Linda sich wiederholt, was das Treffen brachte. Aber ihre Überlegungen führten zu keinem Ergebnis.
Der Treffpunkt war auf dem Hauptbahnhof.
Drei Minuten vor Zugeinfahrt rief er an und sagte: "Ich bin jetzt hier und warte auf dich!"
Sie stieg aus, sah sich um und versuchte, ihn auszumachen. Nichts. Keiner reagierte auf ihre suchenden Blicke.
In ihrem Inneren wurde sie wieder unschlüssig, ob sie nicht weitergehen sollte, aber da war diese riesengroße Neugier.
Hin- und hergerissen überlegte sie, anzurufen, tat es aber nicht. Nach zehn Minuten beschloss sie, loszugehen.
Auf dem Weg aus dem Bahnhofsgebäude klingelte er, fragte, wo sie bleibe und nannte seinen Standpunkt, genau gegenüber auf der anderen Seite der Gleise und bat um eine Info, wo sie denn gerade sei. Dann kam er.
Oder anders, sie nahm an, das sei er, da sich die Neuankömmlinge aus den Zügen bereits verlaufen hatten. Es kam ein eher kleiner, etwas älterer Mann, dünnes, strähniges Haar, schmale Schultern, Fliespulli, dazu eine zu kurze Trevira-Schurwoll-Hose mit Bundfalten, Turnschuhe, von denen einer nicht zugebunden war und ein Rucksack auf dem Rücken.
Das kann er nicht sein, dachte Linda, weder Tukur noch Ochsenknecht waren an der Optik dieses Mannes im entferntesten zu erkennen! Soviel Fantasie besaß kein Mensch! Jemand, der sich so ausdrücken kann, kann nicht so aussehen.
Sie hatte sich hinter einer Anschlagtafel halb versteckt gestellt und blickte geschockt in Richtung dieses Mannes. Wenn er jetzt das Telefon rausnimmt und anruft, dann ist er es wirklich, dachte sie.
Er blickte sich suchend um, nahm das Telefon, wählte und bei ihr klingelte es.
Oh Gott, wie kann man sich beschreiben und dann so daherkommen? Und dann sie selber! Stundenlang hatte sie am Abend vorher vor ihrem Schrank gestanden. Was anziehen? Wichtig war, dass sie gut aussah! Sie wollte ihn durch ihr Äußeres beeindrucken, wollte mit ihm mithalten. Literarisch schaffte sie es nicht, wenigstens die Optik sollte stimmen. Nach mehrmaligem Umziehen entschied sie sich für die schwarze Lederjacke, helle Jeans und darüber einen orangefarbenen Trench. Noch nie hatte sie sich so overdresst gefühlt wie in diesem Moment!
Blitzschnell drehte sie sich um und lief langsam aus dem Bahnhofsgebäude hinaus.
Sie verschwand in der Fußgängerzone.
Das Handy klingelte noch sechsmal. Dann kam eine sms, dass sie eine Mailbox-Nachricht habe. Sie hörte sie ab und grübelte.
Irgendwie tat er ihr Leid. Er konnte ja nichts dafür, dass er so aussah, Aussehen war ja nicht alles. Sie rief zurück und vereinbarte mit ihm, dass sie sich im Alsterpavillon im Centrum der Stadt treffen.

Als er dazu kam, saß sie schon an einem der Außentische. Linkisch versuchte er, sie zu umarmen, was sie sofort abwehrte.
"Du bist einfach weggerannt, weil ich so hässlich bin, stimmt's?", begann er die Unterhaltung.
Linda merkte, wie ihr Blut nach unten sackte und antwortete spontan, etwas heiser:"Ja!"
Von Nahem sah er nicht unbedingt besser aus, Froschaugen, Hautekzeme und schlimme, ungepflegte Zähne, zwischen denen noch die Speisereste der letzten Mahlzeit klebten. Irgendetwas muss doch schön oder angenehm an ihm sein, dachte sie, wurde aber nicht fündig.
Er musterte sie mit stechendem Blick und Linda fühlte sich noch unwohler.
"Du kannst dir nicht vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man so aussieht wie ich, oder?", führte er die Unterhaltung fort, nachdem sie etwas zu Trinken bestellt hatten.
"Das ist dir völlig fremd, so wie du aussiehst. Du kannst jeden haben. Du brauchst dich doch nur irgendwo hinzusetzen und alle liegen dir zu Füßen. Solche Frauen wie du wissen doch überhaupt nicht, wie das Leben wirklich ist!", fuhr er fort.
Jeden haben? Und wessen Leben kenne ich nicht? Seines? dachte sie und wünschte sich an einen anderen Ort. Sie rührte den dritten Löffel Zucker in ihren Kaffee, den sie grundsätzlich schwarz, ohne alles, trank.
"Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, ständig Männer zu sehen, die älter sind als ich und alle eine Frau und Sex haben. Und daneben ich! Seit sieben Jahren schläft meine Frau nicht mehr mit mir. Kannst du dir das vorstellen?", fragte er und rückte dichter an sie heran.
Sie roch, dass die Zahnbeläge und die Speisereste schon länger ein Paar waren und ihr eigenes Aroma entwickelt hatten, das sie zurückzucken ließ.
Es war Mittagszeit, der Pavillon gut besucht. Seine Stimme wurde lauter und die Umsitzenden aufmerksam.
Linda hatte noch gar nichts gesagt, weder zustimmend noch ablehnend reagiert. Was sollte sie auch gegen diese Selbstanklagen vorbringen?
Die Situation wurde zunehmend grotesker.
Er erzählte Einzelheiten aus seiner Ehe, ununterbrochen.
"Warum hast du dich dann nicht von deiner Frau getrennt?", fragte sie schließlich.
"Weil ich so sensibel bin und mich nicht durchsetzen kann. Ich möchte endlich Sex! Aber von dir bekomme ich nichts, so wie du aussiehst. Und du kannst jeden haben!"
Sie schwieg.
"Das habe ich gleich gewusst, du bist wie alle anderen. Ihr wollt nur mein geistiges Gut, blöde Gedichte, Geschichten und Aphorismen. Glaubst du eigentlich im Ernst, dass ich diese Scheißdinger selber verfasst habe? Ihr Weiber wollt immerzu reden oder schreiben! Ich will aber vögeln!"
Sie schaute ihn an und schauderte. Der Zucker auf dem Tisch war inzwischen alle.
"Was ich dir jetzt sage", begann er erneut, "wirst du mir nicht glauben. Ich habe im letzten Jahr eine Frau kennengelernt, mit der ich gleich auf einer Wellenlänge war. Sie sah ein bisschen aus wie du, nur lange Haare, nein, nicht so wie du, besser sah sie aus. Wir verabredeten uns auf dem Parkplatz vor einem Hotel, in dem ich schon ein Zimmer bestellt hatte. Ich stand oben auf dem Flur, als ihr Auto in die Einfahrt bog, ging ganz langsam hinunter. Als sie mich sah, fiel sie sofort über mich her!"
"Hä.............?"
"Das kannst du dir nicht vorstellen, was? Das glaubst du nicht, dass Frauen über mich herfallen? Das ist außerhalb deiner Fantasie!"
"Ja, stimmt, außerhalb meiner Fantasie, völlig außerhalb, wenn du mich so fragst. Und warum bist du nicht mit ihr zusammengeblieben? Sie gab dir doch das, was du am meisten in deinem Leben vermisst: Sex!"
"Sie war verheiratet."
"Du doch auch."
"Sie hat sich dann scheiden lassen und einen anderen genommen."
"Und du? Warum hast du dich nicht von deiner Frau getrennt, die dich sowieso nicht ranlässt?"
""Weil ich so sensibel und ohne Selbstvertrauen bin."
"Was machst du eigentlich beruflich?"
Ihr fiel in dem Moment auf, dass er zwar gesagt hatte, dass er Übersetzer sei, aber wo und was er genau machte, darauf hatte sie nie eine Antwort bekommen.
"Das sage ich dir nicht! Ich sehe keinen Sinn, dir so etwas Intimes über mein Leben mitzuteilen. Du willst mich doch gar nicht wiedersehen, stimmt's? Du doch nicht!"
Er konnte also nicht über die Intimität der Arbeit sprechen, aber breitete detailliert die Intimitäten seiner Ehe aus. Linda spürte, dass sie etwas tun musste, handeln, die Situation ändern. Doch sie war wie gelähmt. Das, was hier ablief, passierte nicht ihr. Das konnte nicht sein. Das sollte 'ihr' Dark sein, ihr Poet aus dem Netz?
Es ging weiter, ständige Anschuldigungen, dann Sätze, die sie geschrieben und schon vergessen hatte, legte er ihr als Notizen vor und zeigte auf, wo sie sich falsch ausgedrückt und Fehler gemacht hatte. Linda starrte ihn an und fragte sich, wie sie sich so irren konnte.
Die Situation war inzwischen nicht nur grotesk sondern fast schon pervers!
Er war noch dichter an sie rangerückt und sprach ganz laut, so dass einige Leute schon ständig hinüberschauten.
"Siehst du, die können sich nicht vorstellen, dass wir zusammen sind. Und dabei......"
"Gut jetzt," unterbrach sie ihn "Es reicht! Wir müssen uns hier nicht die Zeit vertrödeln, wo alles geklärt ist. Du hast Recht, ich will dich nicht. Ich wünsche dir alles Gute. Deinen Kaffee bezahle ich! Tschüss!"
Abrupt stand sie auf und reichte ihm die Hand.
Verdutzt ergriff er die Hand und lief sofort los. Die Gespräche an den umliegenden Tischen verstummten ganz und die Leute schauten nun offen zu ihr hinüber.
Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte, ob sie noch einen Wunsch habe.
"Einen Wunsch? Ja, ich brauch etwas Starkes. Bringen Sie mir bitte einen Gin Tonic und die Speisekarte!", antwortete sie nach kurzem Überlegen.
Als sie aufschaute und die Gesichter der Leute sah, musste sie lachen. Es war ein Lachen, das tief aus ihrem Inneren kam.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so erleichtert war.



©2013 by Jurewa. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

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