Schneewittchen Teil IV
Jetzt gab es kein Halten mehr. Alle drängten sich die Treppe hinauf,
umringten das Bett und bestaunten das fremde Mädchen darin.
„Ich hätte auch nicht gewusst, das das ein Mädchen ist. Die hat doch Hosen
an" murmelte jetzt auch Gunther vor sich hin.
Johann Sebastian drehte nur die Augen nach oben und schlug sich an den Kopf.
Da stand ihm noch eine Menge Arbeit bevor, bis er seine Brüder groß
gezogen haben würde. Er hatte nicht geahnt, wie viel Arbeit das geben
würde, als sie damals dem Rattenfänger ausgerissen waren. Der hatte ihnen
eine Menge vorgegaukelt. Nur gut, das ihm das komisch vorgekommen war und er
kurzerhand des Nachts mit seinen Brüdern ausgerissen war. Nach längeren
Wanderungen hatten sie hier im Wald eine alte Hütte gefunden, die die
Älteren nach und nach zu diesem schönen Häuschen ausgebaut hatten. Das
waren jetzt sieben lange Jahre her.
„Das sieht man doch an den schönen langen Haaren"
warf Fridolin altklug ein, nachdem das Hütchen zur Seite gefallen war und
ihre schwarzen Locken sich geöffnet hatten.
„Lasst das Mädchen schlafen. Sie wird uns sicher nachher erzählen, wer sie
ist und wo sie herkommt. Seid vernünftig Männer und geht wieder nach unten. Und ihr, Gunther und Fridolin haltet endlich euer Plappermaul und verschwindet, das Essen muss auftragen werden."
Mit einem letzten Blick auf die schlafende Schöne wand sich Johann
Sebastian dann ab und ging als letzter behutsam die Treppe herunter.
Unten am Tisch herrschte helle Aufregung über den unerwarteten Besuch.
„Wir können hier keine Weiber brauchen. Weiber bringen nur Aufruhr und
Stress in unsere Gemeinschaft" brummte der dicke Zacharias und schniefte
genussvoll eine dicke Prise Schnupftabak ein.
„Sie könnte mich zu Bett bringen und mir Märchen vorlesen" schlug der
kleine Fridolin vor. Fridolin war der jüngste der sieben Brüder mit seinen
acht Jahren.
„Ich würde mich auch gern von ihr zu Bett bringen lassen" kicherte der
drittälteste, der siebzehnjährige Ludwig.
„Jetzt ist aber Schluss! Gegessen wird, sag ich. Johann Sebastian du
sprichst das Tischgebet" knurrte der dicke Zacharias.
Zacharias war mit seinen dreiundzwanzig Jahren der praktischste von ihnen.
Er dachte im Zweifelsfalle immer zuerst ans leibliche Wohl. So leicht konnte
ihn nichts erschüttern. Gunther und Fridolin nahmen die Teller in Empfang
die Wolfgang Amadeus mit der Suppenkelle schwungvoll gefüllt hatte und
trugen sie sorgfältig und behutsam, ohne etwas zu verschütten, zu Tisch.
Nachdem Johann Sebastian aus der Bibel vorgelesen hatte, widmete sich jeder
schweigend seiner Mahlzeit.
Während die jüngeren Brüder geräuschvoll den Abwasch machten, hockten
sich Johann Sebastian, Zacharias und Ludwig zusammen und beratschlagten was
zu tun sei.
Sie redeten hin und her, drehten und wendeten jedes Argument, bis zum Schluss
der praktische Zacharias meinte
„Ich hab’s mir überlegt. Sie wäre doch zu was nütze. Sie könnte uns den
Haushalt führen."
„Ja, wenn sogar du Weiberfeind einverstanden bist, wäre die Sache gar
geregelt. Wir werden sie fragen, wenn sie vom Schlaf erwacht ist. So soll es
sein."
„Ich bin kein Weiberfeind, ich mag es nur nicht, wenn sie Unruhe ins Haus
bringen" entgegnete der dicke Zacharias entrüstet.
Während die älteren Brüder sich leise unterhielten und die kleinen ihr
provisorisches Lager auf der Ofenbank gefunden hatten, wachte Schneewittchen auf. Sie räkelte sich genussvoll, streckte sich, bis ihr plötzlich
einfiel, wo sie war. Sie hörte die leisen Stimmen und das Gemurmel, das von
unten heraufdrang. Vorsichtig erhob sie sich, zog sich das Wams über,
versteckte ihr schönes langes Haar unter der Kappe und streifte sich die
Stiefel über. Dann fasste sie sich ein Herz und schlich die Treppe
hinunter. Drei paar Augen wandten sich ihr zu und musterten sie von Kopf bis
Fuß fragend.
Fortsetzung folgt