Mit dem Gefühl des italienischen Sommers entstieg ich dem Flugzeug in die Berliner Kälte. Fetzenhaft verblassten vor meinen Augen Sonnenschirme, blaues Meer und weißer Sand.
Die S-Bahn nahm mich auf und ich erwartete die altbekannte Unfreundlichkeit, als ich das erste Schweinsgesicht in Uniform mit roter Mütze erblickte. Meinen Ärger verdrängend, gab ich mich der Fantasie einer Einstellungsquote für sehr vorbelastete Gesichter in diesem Beruf hin. Ich lächelte ihn an, wandte mich ab und ihr zu. Eine junge Frau. Mitte zwanzig, schätzte ich. Ihr Gesicht war verzerrt. Das Kinn zog sich zusammen und bildete unzählige Hautkrater. Ihre Lippen bebten, ihre Nase spannte sich, als müsste sie gleich niesen. Lider schlugen verklebte Wimpern. Es war mir unangenehm sie anzusehen. Ich hatte Angst in ihre Intimsphäre zu drängen. Sie war traurig. Ich sah es. Hilflos blickte ich zu dem Schweinskopf. Doch der war tausendmal hässlicher. Ich sah wieder zu ihr. Konnte ich ihr helfen? Ihre Trauer mindern? Sie ablenken? Es blieb die Angst ungeschriebene Regeln zu verletzen. Durfte ich die Anonymität brechen? Wäre ich unhöflich? Würde ich die Frau verärgern? Ihr Leid verschlimmern? Die Fragen quälten mich. Sie hinderten mich meinem Gefühl zu folgen. Die S-Bahn hielt. Die Spannung in ihrer Nase löste sich, schnell griff sie ein Taschentuch, und schneuzte feucht hinein.
Mein innerer Kampf tobte. Kurzzeitig. Die vom Leid zerfräste Schönheit gewann mein Herz. Jetzt war ich bereit ihr Leid zu lindern. Ich suchte die richtigen Worte. Noch war ich unsicher. Als ihre Trauer sich zum Zorn zu wandeln schien und ihr Blick leer an Schönefeld hing, handelte ich. Ohne Reflexion. Ich sprudelte gedankenlos heraus:
„Weinst Du wegen Deinem Freund?“
Sie sah mich an. Und während ihre Augen in meinen lagen schwanden Trauer und Zorn und in den Braunen erwachte ein warmes, kleines Feuer. Ihr Blick erleichterte mich, rechtfertigte mein unüberlegtes, aber wohlgemeintes Geplapper.
„Ja.“, antwortet sie.
„Habt ihr Probleme?“
„Nein.“
„Das ist gut.“
Sie sah mich fragend an.
„Wenn Du wegen ihm weinst, ohne das ihr Probleme habt, sind Deine Tränen schöne Tränen. Sie sind ein Grund zur Freude.“
Sie verstand und strahlte mich an. Ihre Schönheit war zurückgekehrt.
„Ja, du hast recht.“, sagte sie mit schwerem italienischen Akzent. Ich sprach weiter auf italienisch. Mit meinem viel schwereren, kaum verständlichen deutschen Akzent.
„Dein Freund ist noch in Italien?“, fragte ich an Abschiedstränen denkend.
„Nein, in Berlin.“
Hatte sie mich falsch verstanden? Oder ich sie?
„Und warum macht Dich das traurig?“
Sie erklärte mir ihre Situation:
Vor fünf Monaten war sie nach Deutschland gekommen, sie kannte nur Giuseppe und der hatte ihr zur Arbeit in einem Restaurant als Kellnerin verholfen. Sie nahm Deutschunterricht an der Abendschule und lernte im „Trafo“ ihren Freund kennen. Erst war es Liebelei, ein Verhältnis, später nach betörender Verliebtheit Liebe. Doch Deutschland missfiel ihr. Die Menschen waren kalt und oft sehr unfreundlich, die Arbeit schwer und schlecht bezahlt. Sie wäre gerne wieder zurückgegangen, waren doch in Italien ihre Familie und ihre Freunde. Doch hier war ihr Freund und den liebte sie von Herzen. Und jetzt, da sie eine Woche bei ihrer Familie verbracht hatte, wollte sie nicht hier sein. Und deshalb war sie so traurig. Ich verstand sie sehr gut. Ihre Geschichte war eine Geschichte, die sich an mein Leben band. Die Geschichte vom „Glück meiner Liebe“, die ebenfalls italienisch ist. Lange quälte sie ein ähnliches Problem, und das erzählte ich der jungen Schönheit. Sie hörte mir zu. Und als ich erwähnte, das sie mittlerweile gern in Berlin ist, erhellte sich das Gesicht der jungen Frau. Jetzt gab es nur noch die Tränen des Himmels, die unermüdlich gegen die Fenster prassten. Wir unterhielten uns bis der Zug an der Station Warschauer Strasse hielt, über Italien und Deutschland, über Pizza und Kohl. Zum Abschied küssten wir einander die Wangen und ich war glücklich wieder zu Hause zu sein.
von Martin Teuschel
- ENDE -
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