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Thomas Friedrich Sänze - Gustl und Anneliese - von ThomaFriedrichSaenze, 20.03.2018
Thomas Friedrich Sänze
Gustl und Anneliese

Die Sonne stieg den klaren, blauen Himmel hinauf. Ein gelber, glühender Ball von wunderbarer Schönheit. Der Sonnenschein überflutete scheinbar die Berge ringsum und nahm ihnen etwas von ihrer gewaltigen und einschüchternden Größe. Ihre schneebedeckten Gipfel gleißten im Licht als wären sie mit Gold bedeckt. Mit einem letzten Aufblitzen verschwand der Tau langsam von den Hängen und Wiesen.
Der Dunst der über dem Tal schwebte, setzte sich und verschwand. Es würde ein wunderschöner Tag werden.
Für einen Moment, verharrte Gustl auf dem Bergpfad um dieses Bild in sich aufzunehmen. Er begrüßte die Sonne mit einem breiten Grinsen, was seine riesigen Zahnlücken im neuen Tageslicht hervorragend zur Geltung brachte.
Gustl sog voller Genuss die klare Gebirgsluft in seine Lungen ein. Er liebte die Berge über alles und der heutige Tag war für sein Vorhaben geradezu Perfekt. Der Zeitpunkt, an dem er nach dem Winter zum ersten Mal die Ziegen in die Berge führte, war schon immer etwas Besonderes für ihn gewesen.
Heute, gab es aber nichts Gemeinsames mit all jenen anderen Tagen.
Schon seit der Schneeschmelze hatte Gustl diesen Tag herbeigesehnt und sich gleichzeitig davor gefürchtet, denn heute würde es passieren. In vielen der langen Winterabenden hatte er darüber nachdachte, wie es wohl am besten anzufangen wäre, sich Pläne ausgedacht um sie hinterher zu verwerfen. Viele Ratschläge geholt, und sie verwirrt versucht wieder zu vergessen.
Jetzt, wusste Gustl wie er es machen würde! Er hatte einen Plan. Die Hoffnung die er in ihn setzte war gewaltig. Entweder funktionierte es, oder endete in einer Katastrophe. Dieses Unternehmen würde ihn allen Mut kosten den er aufbringen konnte. Selbst damals als er über den Felsspalt gesprungen war um die
Ziege zurückzuholen, war seine Angst nicht so groß gewesen wie heute.
Gustl hatte sich so gut wie möglich auf diesen Tag vorbereitet und alle Möglichkeiten in Betracht gezogen. Sogar letzten Sonntag nach der Messe eine Kerze angezündet und den himmlischen Vater um eine Segnung seines Vorhabens gebeten. Er glaubte eigentlich nicht, dass der liebe Gott ein Wunder zu seiner Unterstützung wirken würde, aber er konnte jede Hilfe brauchen welche nur zu bekommen war.
Dazu hatte er sich auch noch ganz groß in Schale geworfen. Normalerweise durfte er nämlich die schwarze Hirschlederhose mit den grünschwarzen Kniestrümpfen nur zur Sonntagsmesse in der Kirche anziehen. Aber Gustl fand, dass sie am besten zu seiner schlaksigen Gestalt passte. Genauso wie der grüne Hut mit der Adlerfeder, der seinen wirren, braunen Haarschopf und die etwas abstehenden Ohren im verborgenen beließ. Dazu trug er sein Lieblings-T-Shirt mit dem aufgedruckten Bild seines Dorfes, vor allem der Kirchturm war darauf besonders gut zu sehen. Gustl fand es genau richtig, weil es zeigte dass er ein Patriot war.
Seine alten, abgetragenen Bergschuhe waren so auf Hochglanz poliert, dass sie wie neu aussahen. Zusammen mit dem riesigen Hirtenstock der Größer als er selbst zu sein schien, gab ihm seine Aufmachung doch etwas ungeheuer Männliches fand Gustl. Sorgfältig überprüfte er den Sitz seines grauen Rucksacks, denn dessen Inhalt spielte bei seinem Plan eine gewichtige Rolle.
Dann setzte er seinen Weg mit einem selbstsicheren Grinsen fort.
Für einen kurzen Moment verschwand das Lächeln von seinem Gesicht. Er dachte daran, dass bei seiner Heimkehr seinem Hosenboden ein heißer Empfang bevorstand. Seine Mutter würde bestimmt nicht sehr erfreut darüber sein, dass er und die Sonntagshose mit den Ziegen verschwunden waren. Noch einmal blickte er sich um atmete tief ein und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Es würde ein herrlicher Tag werden.
Was konnte an einem solchen Tag schon schiefgehen? Eben, nichts!
Mit einem Schlag war sein Grinsen wieder da und er trieb mit lauten Rufen die Ziegen weiter an.
Es war keine sehr große Ziegenherde für die Gustl die Verantwortung trug, aber immerhin galt er, trotz seiner zwölf Jahre mittlerweile als fünft-bester Ziegenhirt im ganzen Dorf. Damit hatte Gustl im letzten Sommer den Herrn Meier aus der Stadt, der in den Bergen Urlaub machte, schwer beeindruckt.
Wobei er ihm wohlweislich verschwieg, dass es nur fünf Ziegenhirten im ganzen Dorf gab.
Die Ziegen waren unwillig, es ging ihnen zu schnell. Normalerweise hätte Gustl die Tiere auch niemals gehetzt, aber seine innere Erregung trieb ihn voran. Dieselbe Aufregung hatte ihn in der letzten Nacht kaum schlafen lassen und heute früh dazu gebracht sich mit der Herde noch vor Sonnenaufgang auf den Weg zu machen.
Noch einmal feuerte Gustl die Tiere an, denn endlich lag sein Ziel vor ihm. Er hatte es geschafft!
Als die kleine Berghütte in Sichtweite kam, erkannte er schon von weitem die Gestalt welche geschickt mit der Axt Holz schlug. Es war Herr Brauschnitzl, welcher als bester Holzschnitzer in der ganzen Umgebung bekannt war. Jedermann der seine Arbeiten kannte lobte die große Geschicklichkeit und hohe Kunstfertigkeit seiner Werke.
Die Leute im Dorf redeten oft über ihn und darüber warum er hier oben in den Bergen alleine mit seiner kleinen Tochter Anneliese lebte. Einige behaupteten es wäre um den ständigen Predigten des Pfarrers zu entgehen, denn im Gegensatz zu allen anderen Leuten im Dorf und der Umgebung kam weder Herr Brauschnitzl, noch seine Tochter je zum Sonntagsgottesdienst. Der Herr Pfarrer regte sich immer ganz fürchterlich über solch Gottlosigkeit auf.
Andere wiederum sagten es wäre wegen dem Tod seiner Frau. Frau Brauschnitzl war nämlich nach der Geburt ihrer Tochter gestorben. Ihr Mann war darüber nie hinweggekommen und lebte von da ab mit seiner Tochter in der kleinen Almhütte.
Nur sehr wenige Menschen kamen hierher. Einmal der Herr Pfarrer, um die Heiden zu bekehren wie er sich ausdrückte. Sein christliches Missionswerk schien ihm sehr viel Spaß zu machen, so glaubte Gustl. Jedes mal wenn der Herr Pfarrer bei Anneliese und ihrem Vater war, kam er danach am Abend singend und schwankend ins Dorf zurück.
Dann mühte auch noch einmal im Monat Annelieses Tante Herta ihre gewaltige Leibesfülle auf die Alm hinauf. Sie war recht nett und lustig, schimpfte aber meist mit Herrn Brauschnitzl und nannte ihn einen alten Spinner. Tante Herta regte sich immer darüber auf, dass Anneliese mit ihrem Vater hier oben auf dem Berg zusammen mit den Ziegen hockte, und dann gab es natürlich noch ihn, Gustl. Er kam im Sommer jeden Tag, um bei den Brauschnitzls vorbeizuschauen auf seinen Weg zur Alm.
Gustl seufzte und sah dem Mann kurz beim Holzhacken zu. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Noch zögerte der Junge was er tun sollte, aber da war es bereits zu spät. Herr Brauschnitzl drehte sich um und entdeckte ihn. Fröhlich winkte er ihm zu.
"Grüzi, Gustl!" rief er.
Herr Brauschnitzl war ein großer und sehniger Mann. Er trug eine grüne Lederhose die von einem breiten Gürtel gehalten wurde. Barfuß stand er da und schüttelte den Schweiß aus seinem braunen, verschwitzten Haaren. Die Schweißschicht auf seinem schlanken Oberkörper glänzte im Sonnenlicht. Hellblaue Augen blickten Gustl verschmitzt an. Scherz und Heiterkeit konnten trotzdem nicht über eine gewisse Traurigkeit in Herrn Brauschnitzels Augen hinwegtäuschen.
"Grüzi, Herr Brauschnitzel!"
Gustl trat nervös von einem Fuß auf den anderen und mied nach Möglichkeit den prüfenden Blick von Annelieses Vater. Erschrocken zuckte er zusammen als hinter ihm ein lauter Freudenschrei ausgestoßen wurde. Annie war gerade aus dem Haus gekommen und hatte ihn entdeckt. Sie war ein zierliches Geschöpf mit langen dunkelblonden Haaren, ungefähr im gleichen Alter wie er selbst. Anneliese trug ein schlichtes, blaues Kleid und war genau wie ihr Vater barfuß. Mit einem strahlenden Lächeln kam sie näher. Ihre blauen Augen musterten Gustl mit einem prüfenden Blick. Es waren ohne Zweifel die Augen ihres Vaters die sie geerbt hatte, denn in ihnen lag das gleiche humorvolle Funkeln.
"Grüzi Gustl, schön dass du auch wieder einmal kommst!" Sichtbar verlegen stotterte er eine Begrüßung daher, das heißt zumindest Versuchte er es. Aber es war wie immer wenn er ihr gegenüber stand, seine Kehle war staubtrocken, die Knie fühlten sich an als wären sie aus Pudding und egal wie oft Gustl es versuchte er bekam einfach kein zusammenhängendes Wort heraus.
Zum Glück schien Anneliese sein Gestammel gar nicht zu bemerken. "Bist du heute nicht etwas früh dran? Wir hatten eigentlich erst später mit dir gerechnet."
"Nun ich dachte ...", begann Gustl zu stottern.
"Ich meine ich könnte...".
"Also ich und Annie wir könnten...".
" Vielleicht Picknick", murmelte er kaum hörbar.
Freundlich sah ihn Anneliese an. "Du meinst wir zwei könnten ein Picknick machen"? vergewisserte sie sich. Alles was Gustl zustande brachte war ein etwas dümmliches Nicken.
Annie lächelte Gustl freundlich an und warf ihrem Vater eine fragenden Blick zu. Als dieser nickte entspannte er sich etwas, wurde sicherer und fand sogar seine Sprache wieder. "Wir können sofort los wenn du willst, ich habe alles was wir brauchen im Rucksack."
Mit einem Zwinkern lächelte sie Gustl an und fragte: "Worauf warten wir dann noch."
Die beiden waren bereits einige Schritte von der Berghütte entfernt als Herr Brauschnitzl ihnen nachrief: "Kommt nicht zu spät zurück." Danach wandte er sich wieder dem Holzstoß zu und setzte die Arbeit fort.
Gemeinsam trieben sie die Ziegen den Berg hinauf. Diesmal waren die Tiere williger, denn ihr Hüter wollte offenbar jetzt nicht mehr die Schallmauer durchbrechen. Im Gegenteil, Gustl legte großen Wert auf ein geringeres Tempo und zwar aus drei guten Gründen: Erstens aus Rücksichtnahme auf Anneliese, schließlich war er Kavalier. Zweitens sollte ihr auffallen wie Männlich und Würdevoll der gewaltige Hirtenstab von ihm gehandhabt wurde und drittens hatte er einfach Angst. Mit jedem Schritt dem sie sich der Ziegenalm näherten nahm seine Furcht zu.
Schließlich erreichten sie aber dennoch ihr Ziel. Vor ihnen leuchteten die Wiesen und Hänge der Alm in einem satten grün. Nach dem langen Winter schien die Natur in den unterschiedlichsten Farben förmlich zu explodieren. Eine herrliche Pracht erfüllte das Panorama der Berge.
Unter anderen Umständen hätte Gustl dieses Bild sicher genossen. Nicht aber heute, denn seine Gedanken kreisten nur um sein Vorhaben. Im Geiste ging er seinen Plan noch einmal Schritt für Schritt durch und machte sich bereit mit der Durchführung zu beginnen. Worauf es jetzt nur noch ankam war der richtige Zeitpunkt.
Annie hatte inzwischen bereits die Decke auf dem Gras ausgebreitet und damit begonnen all die guten Sachen aus dem Rucksack zu holen. Als sie sich schließlich setzte und ihn mit einer Handbewegung ebenfalls einlud Platz zu nehmen, wäre er am liebsten weggelaufen und hätte sich in die nächste Schlucht gestürzt. Statt dessen setzte er sich hin und begann zu essen. Die frische Bergluft machte ihn immer hungrig. Mit Belustigung beobachte Annie wie er den ganzen Rucksack fast allein leeraß.
Gustl stopfte in sich hinein was er konnte. Einmal hatte der Herr Meier aus der Stadt zu seinem Vater gesagt, dass er sich immer erst Mut an saufen müsse bevor er nach Hause zu seiner Frau ginge. Wenn so etwas funktionierte dann müsste es eigentlich auch Möglich sein sich Mut an zu essen. Oder?
Schließlich verdrückte er die letzte Wurst ließ sich auf die Decke zurückfallen und schloss die Augen. Nun war es also so weit. Der entscheidende Moment. Ein Augenblick auf den sich Gustl wochenlang vorbereitet hatte. Für eine Sekunde, nur eine Sekunde erwog er die ganze Sache zu vergessen. Aber das erschien ihm undenkbar. Es musste hier und heute passieren, jetzt oder nie. Noch einmal sammelte Gustl all seinen Mut und bemerkte dabei nicht wie er langsam ins Land der Träume hin überglitt.
Ein rütteln an seiner Schulter weckte ihn aus seinem Schlaf. Am Anfang war ihm gar nicht bewusst wo er überhaupt war. Allerdings dauerte es nur einen Moment bis ihm alles wieder einfiel. Als Gustl sah, dass die Sonne bereits am Untergehen war stöhnte er laut auf. Der Nachmittag neigte sich bereits dem Ende entgegen. Was sollte er jetzt machen? Eigentlich hätten sie beide sich längst auf den Rückweg machen müssen. Dass warf sein ganzes Vorhaben über den Haufen.
Vorwurfsvoll wandte er sich an Anneliese. "Warum hast du mich nicht früher geweckt?" Diese schaute ihn leicht verwundert an. "Du schienst mir sehr müde zu sein," sagte sie lächelnd als würde dass alles erklären. Dann richtete Annie ihren Blick zum Himmel und begann damit die Sachen wieder in den Rucksack zu packen.
"Wollen wir nicht gehen. Es ist recht spät," fragte sie. Er nickte: "Aber erst muss ich dir etwas sagen." Daraufhin setzte sie sich wieder zurück und sah ihn erwartungsvoll an.
Gustl würgte er fühlte sich verlegen, aber nun gab es kein zurück mehr. In seinem Bauch schienen zwei Ameisenarmeen eine gewaltige Schlacht zu schlagen. Annie bemerkte davon offenbar nichts. Ruhig und gelassen schaute sie ihn an. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, nahm all seinen Mut zusammen und platzte heraus: "Ich mag dich." Anneliese lächelte ihr wunderbares, offenes Lächeln. "Ich weiß", sagte sie schlicht. Gustl sah sie entgeistert an und stammelte: "Du weißt es!" Wieder nickte sie ihm freundlich zu, so als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
Gustl blieb der Mund offen stehen. Sie weiß es! All diese Aufregung und Panik umsonst, er kam sich vor wie ein Trottel und dennoch machte sich Erleichterung und Verlegenheit zu gleichen Teilen in ihm bemerkbar. Verstört fragte er: "Und was passiert jetzt." Annie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. "Ich mag dich auch!" sagte sie und stand auf. Jetzt kam sich Gustl erst recht wie ein Trottel vor. Er seufzte stand ebenfalls auf und zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich gehörte dass zum verliebt sein! Inzwischen hatte Annie die Decke im Rucksack verstaut. Gustl nahm ihn auf den Rücken, dann trieben sie die Ziegen zusammen und machten sich auf den Rückweg.
Gustl fühlte sich eigenartig beschwingt und es dauerte ein Weilchen bis er Begriff was eben passiert war. Als er es endlich verstanden zu haben glaubte, fühlte er sich wie der glücklichste Mensch auf der Welt. Der Nachmittag ging zu Ende und die Sonne verschwand langsam als rotglühender Ball hinter dem Horizont.
Hand in Hand verließen Gustl und Anneliese die Alm.
ENDE

Hinweis auf mein Werk: Fulcher von Fabeln - TOD IN ELBING ISBN: 9783737514521



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