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JOKER-MISSION − Kapitel II - von Karmanjaka, 27.02.2005
DIE JOKER-MISSION − Kapitel II


"... und ich komme an dieser Boutique vorbei, und da hängt es einfach im Schaufenster ... ein Traum aus moosgrünem Samt, und du weißt ja, wie gut mir Grün steht. Natürlich sündhaft teuer, das Ding, aber einfach hinreißend ... Und da habe ich zu mir gesagt, na ja, Herzchen, das Leben ist kurz ... und man gönnt sich ja sonst nichts ... Und dann habe ich es mir gekauft!" zwitscherte Marcia und holte ungefähr zum hundertstenmal einen kleinen Taschenspiegel aus ihrer Schreibtischschublade, um ihre gelgestylte kurzlockige Sturmwindfrisur, die seit ihrem gestrigen Friseurbesuch in einem atemberaubend exotischen - und ziemlich auffälligen - Kupferrotgoldton schimmerte, noch einmal einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. (Die offenbar poetisch angehauchte Werbeabteilung der Herstellerfirma bezeichnete die Farbe voller Enthusiasmus als 'Magisches Herbstfeuer'.)

Gwynn unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Ihre Lider waren schwer wie Blei - ganz zu schweigen vom Rest ihres Körpers -, und ihre Augen brannten vor Übermüdung, als sie von ihrem Computerbildschirm wegsah und geistesabwesend auf die kränklich aussehenden Hydrokultur-Topfpflanzen starrte, die dem tristen, fensterlosen, ganz in Grau gehaltenen Großraumbüro angeblich eine freundlichere Note verleihen sollten. Der Tag lag vor ihr wie ein endloser Marathonlauf durch einen glutheißen Großstadtdschungel, ein verdächtiges Pochen in ihren Schläfen drohte ihr mit hämmernden Kopfschmerzen - und es gab nichts, was sie im Augenblick weniger interessierte als Marcia Fandorins neues Kleid.

Aber es gab jemanden, der sich brennend dafür interessierte - und schon lugte Finn Tintagels schmales, kluges Windhundgesicht über die niedrige transparente Trennwand, die seine Computerkonsole von Gwynns und Marcias Plätzen separierte.

"Guten Morgen, guten Morgen ... und herzlich willkommen zu einem neuen ausgefüllten und erfüllenden Arbeitstag in diesen heiligen Hallen", trompetete er, und sein fröhliches Grinsen, in dem eine gesunde Portion Selbstironie lag, brachte Gwynn zum Lächeln und ließ sie ihre Kopfschmerzen und alles andere beinahe vergessen. Aber Marcia zog nur indigniert eine sorgfältig gezupfte Augenbraue in die Höhe, und Finns Grinsen verlor sofort neun Zehntel von seiner Fröhlichkeit.

Vor kurzem hatte Finn zu seinem Unglück entdeckt, dass er bis über beide Ohren in Marcia verliebt war, die ihm energisch die kalte Schulter zeigte. Er warb um sie mit dem ganzen Einfallsreichtum seines jungenhaften Charmes, hatte aber nicht die leiseste Chance, bei ihr zu landen, denn Marcia, die nur auf Männer mit Macht stand und sich zu höheren Dingen berufen fühlte, ignorierte ihn vollständig. Worin genau diese höheren Dinge eigentlich bestanden, wußte Marcia wahrscheinlich selbst nicht genau, aber der Mann mit Macht wurde im Augenblick überaus erfolgreich durch Colonel Sirakin, den leitenden Offizier ihrer Dienststelle, verkörpert, in dessen schnelle und totale Eroberung sie ihre Zeit, ihre Kraft und ihr ganzes unbestreitbar reizvolles Persönchen investierte. Aber obwohl Marcia sämtliche Register zog und ihre Beute mit der Raffinesse und Entschlossenheit einer erfahrenen Jägerin belauerte und in die Enge zu treiben versuchte, legte Colonel Sirakin ihr gegenüber eine beklagenswerte und völlig unerklärliche Zurückhaltung an den Tag. Das war der aktuelle Stand der Dinge - und Marcia und Finn litten beide schrecklich darunter.

Finn, abgeblitzt und für den Moment geschlagen, schnitt eine kleine Grimasse. "Na ja ... ich mach mich dann mal wieder an die Arbeit", murmelte er und trollte sich lustlos an seinen Computer zurück. Sogar von hinten sah er enttäuscht aus.

"Der arme Junge", sagte Gwynn kopfschüttelnd. "Also wirklich, Marcia ... du bist grausam!"

Marcia nahm das mit einem Achselzucken hin. "Das Leben ist grausam, Herzchen." Und diese weise Erkenntnis brachte sie automatisch auf ihr Lieblingsthema zurück - Colonel Sirakin. "Der Mann ist ein Gletscher, Herzchen", seufzte sie. "Sowas von reserviert und zugeknöpft bis oben hin. Aber ich werde ihn schon noch auftauen!"

"Lass lieber die Finger von ihm", warnte Gwynn. "Glaub mir, es bringt nur Ärger, wenn man sich mit einem Vorgesetzten einlässt."
"Ach was", sagte Marcia leichthin. Und damit ging sie dazu über, Gwynn über ihre neueste Taktik im Feldzug Fandorin gegen Sirakin zu informieren, wobei sie tatsächlich einen gewissen Sinn für Strategie unter Beweis stellte.

Deine Sorgen möchte ich haben, dachte Gwynn mit einer Mischung aus Belustigung und Bitterkeit. Ihr Blick schweifte durch das Büro, und ihre Kopfschmerzen gewannen an Intensität, als sie ihre Kollegen beobachtete, die an ihren Computerkonsolen arbeiteten, Komgespräche führten, Befehle empfingen und weitergaben und überhaupt sehr, sehr beschäftigt waren, während sie selbst gar nichts tat und Marcia sich in erfreulichen Zukunftsplänen erging. Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, erregte ihre Aufmerksamkeit, sie sah genauer hin ... und plötzlich war sie hellwach und ganz da.

"Sag mal, Herzchen, hörst du mir überhaupt zu?" erkundigte sich Marcia leicht gekränkt.

"Die ganze Zeit. Jedes Wort!" schwor Gwynn, was eine glatte Lüge war, und starrte mit wachsender Faszination auf das vertraute asymmetrische Muster, das gerade langsam über den Monitor von Marcias Terminal wanderte. Ihr Herz begann hart und unregelmäßig gegen ihre Rippen zu schlagen. Hochsicherheitscode. Absolute Priorität. Das musste es sein. Das war es! "Marcia? Ich glaube, da kommt gerade was für dich rein."

Marcia warf einen flüchtigen Blick auf ihren Bildschirm. "Ach nein, das geht mich nichts an ... das ist nur für Nummer zwei", sagte sie geringschätzig, womit Captain Thoran, Colonel Sirakins Stellvertreter, gemeint war. Thoran rangierte auf Marcias Beliebtheitsskala ganz weit unten, und sie machte nicht gerade ein Geheimnis daraus. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Marcia bezeichnete Thoran gerne als größenwahnsinnigen Papiertiger mit dem unterentwickelten Humor einer an Blutarmut leidenden Dendria-Waldzecke, und sie war, was ihr Temperament anging, durchaus dazu fähig, ihm das eines Tages auch ins Gesicht zu sagen - koste es, was es wolle.

"Bist du sicher?" fragte Gwynn und schaffte es dabei irgendwie, völlig gleichgültig zu klingen, obwohl sie alles andere als gleichgültig war.

"Sicher bin ich sicher", erwiderte Marcia ein wenig spitz. "Das ist mein Job, oder nicht?" Sie musterte Gwynn nachdenklich. "Weißt du, Herzchen, du siehst zur Zeit wirklich ein bisschen mitgenommen aus. Du hast ja einen Teint wie ein marinierter Klippfisch, ganz weiß und fahl. Ein kleiner Solariumbesuch ab und zu würde dir ganz gut tun. Und ein ganz kleines bisschen Make-up wirkt nicht nur wahre Wunder, sondern stärkt auch noch dein ..."

In diesem Augenblick öffneten sich die Lifttüren mit einem bedrohlich klingenden Zischen und gaben den Blick auf eine hochgewachsene schlanke Gestalt in einer hellgrauen Uniform frei - ein Anblick, der alle, die in den letzten zehn Minuten tollkühn genug gewesen waren, ihre Plätze zu verlassen, um sich eine Kaffeepause zu gönnen oder mit ihren Kollegen zu schwatzen, mit derselben panischen Entschlossenheit an ihre Schreibtische zurückjagen ließ, mit der auch die Bewohner eines Korallenriffs in ihre Schlupflöcher flüchteten, sobald sie die tödlich elegante stromlinienförmige Silhouette eines Hais sichteten.

Marcia griff geistesgegenwärtig nach ihrem Taschenspiegel und warf einen letzten schnellen, kritischen Blick hinein, bevor sie ihn achtlos in ihre halboffene Schreibtischschublade hineinwarf, die sie sofort zuknallte. Als Sirakin langsam und gemessen auf sie zukam und schließlich vor ihrem Schreibtisch stehenblieb, war sie bereit - bereit, den größten Fisch ihres Lebens zu fangen. Alle Schleppnetze, Angeln und Köder waren ausgelegt, und sie stand im Bug, die Harpune in der Hand. Gwynn konnte sich ein Schmunzeln nicht ganz verkneifen.
Sirakin räusperte sich. Er sah aus wie die Reinkarnation eines Fürsten aus der seit Jahrhunderten ausgestorbenen Tiol'Stoi-Dynastie - und wenn er wirklich schlechte Laune hatte, was zum Glück nur selten vorkam, dann benahm er sich auch so. "Irgendwelche Nachrichten für mich, Lieutenant Fandorin?" sagte er knapp.

Marcia beugte sich ein wenig vor, um ihre weiblichen Attribute, die durch die enganliegende Uniformjacke eher betont als verborgen wurden, möglichst vorteilhaft zur Geltung zu bringen, und sah großäugig zu ihm auf. Ihr Blick hätte Durastahl zum Schmelzen gebracht. "Nein, Sir. Soll ich Ihnen jetzt ein Tässchen Tee bringen, Sir?" säuselte sie.

"Nein danke, Lieutenant", sagte Sirakin. Seine Stimme war völlig ausdruckslos, aber seine Augen, die eisgrün und durchdringend wie TIE-Jäger-Laserstrahlen waren, ruhten einen Augenblick lang ungläubig auf Marcias 'Magischem Herbstfeuer', als könnte er es nicht fassen, dass so eine Farbe überhaupt existierte. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging mit raumgreifenden Schritten auf und davon, um in seinem riesigen Büro zu verschwinden, das immer seltsam kahl wirkte, obwohl es mit gigantischen, aggressiv-modernen Acrylglasmöbeln vollgepfercht war.

"Dann eben nicht", murmelte Marcia schmollend.

Sie wandte sich trostsuchend an Gwynn, um die zerzausten Flügel ihres angeknacksten Selbstbewusstseins wieder glattstreichen zu lassen, aber bevor sie dazu kam, auch nur ein Wort zu sagen, tauchte plötzlich Captain Thoran wie ein Schachtelteufelchen vor ihnen auf. Seine rosige Frettchennase zuckte vor Erregung, und seine Fistelstimme überschlug sich fast, als er schrillte: "Und das nennen Sie einen Bericht, Lieutenant Fandorin?!" Er knallte einen Datenblock auf Marcias Tisch und erging sich in einer langen, wortgewaltigen Strafpredigt. Als er endlich fertig war - aber nur, weil ihm langsam der Atem ausging -, wirbelte er herum und schoss davon wie ein zu klein geratener Protonentorpedo, um auch den Rest der Abteilung mit seiner tyrannischen Zwergpinscherpräsenz in Angst und Schrecken zu versetzen.

Marcia, tödlich beleidigt, was das einzige war, was sie für eine Weile zum Schweigen bringen konnte, machte sich daran, den unglückseligen Bericht zu ergänzen. Gwynn schloss die Augen und dachte an das, was ihr heute noch bevorstand. Es würde ein sehr, sehr langer Tag werden ...

*

"Na, noch kein Feierabend in Sicht?"

Gwynn drehte sich um, versuchte es mit einem Lächeln und hatte sogar Erfolg damit. "Verdammte Gleitzeit!" sagte sie mit soviel Überzeugungskraft, wie sie nur aufbringen konnte. "Verführt mich doch immer wieder dazu, ein bisschen früher nach Hause zu gehen ... und am Monatsende kann ich dann sehen, wie ich meine Minusstunden wieder los werde."

"Ja, man hat's nicht leicht", seufzte einer der beiden Wachposten, die auf ihrem abendlichen Routinerundgang durch die Abteilung waren, während sein Kollege durch den jetzt menschenleeren Raum ging und überprüfte, ob auch wirklich bei allen Computerkonsolen ordnungsgemäß der Energiesparmodus aktiviert worden war. "Also dann, viel Spaß noch, Lieutenant. Überarbeiten Sie sich bloß nicht ... und dass Sie uns hier ja nichts anstellen!" Er drohte Gwynn scherzhaft mit dem Zeigefinger und lachte noch über seinen eigenen Witz, als er schon wieder draußen auf dem Korridor war.

Sein Kollege, der jetzt mit seiner Kontrolle fertig war, fragte mürrisch: "Und wie lange bleiben Sie noch, Lieutenant?" "Sie brauchen meinetwegen nicht extra noch einmal hierherzukommen, Sergeant", sagte Gwynn rasch. "Ich vergesse bestimmt nicht, meinen Terminal und das Licht abzuschalten."

Der Mann verzog ein wenig das Gesicht. "Kann schon sein, Lieutenant, aber ich muss trotzdem nachsehen. Vorschrift ist Vorschrift", brummte er. "Ich schaue nachher noch mal bei Ihnen rein."

Auch das noch! stöhnte Gwynn innerlich, als er hinausging. Unter Zeitdruck zu stehen, war genau das, was sie jetzt am allerwenigsten brauchen konnte. Sie dachte fieberhaft nach. Sollte sie es riskieren? Es kam so gut wie nie vor, dass jemand nach Dienstschluss freiwillig hier blieb, um Überstunden zu machen. Auch der Abbau von Minusstunden war eine eher flaue Ausrede und alles andere als ein perfektes Alibi. Wenn sie allzu lange hier herumsaß, würden die Wachen wahrscheinlich misstrauisch werden und versuchen herauszufinden, was sie eigentlich trieb. Sollte sie es auf morgen verschieben? Aber sie stand ja jetzt schon unter Zeitdruck! Cel hatte ihr ausdrücklich gesagt, wie wichtig es war, dass die Allianz so schnell wie möglich an diese Information herankam. Wenn die chiffrierte Order, die heute morgen über Marcias Terminal hereingekommen war, wirklich diesen geplanten Angriff betraf, dann konnten wenige Stunden über Leben und Tod entscheiden.

Verdammt! Verdammt! Verdammt noch mal! dachte Gwynn. Hätte ich es doch nur heute mittag versucht!

Aber das hatte sie einfach nicht gewagt. Nicht während eine von Liebeskummer gebeutelte Marcia die ganze Zeit um sie herumschwirrte und einen Frontalangriff auf Colonel Sirakin, diese Festung an männlicher Tugend, plante. Nicht während Finn, der sich im selben Zustand befand, jede Minute, in der er sich von Captain Thoran unbeobachtet glaubte, ausnutzte und sich zu Gwynn setzte, um ihr sein Leid zu klagen und sie um Rat zu fragen, wie er doch noch Marcias Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte. Ähnlich wie seine desinteressierte Angebetete war Finn inzwischen mit seiner Weisheit am Ende und stand kurz vor einer Verzweiflungstat - er erwog bereits, vor Marcia auf die Knie zu fallen (wenn es sein musste, auch vor den Augen der ganzen Abteilung) und sie mit Schwüren ewiger Liebe und Treue und ganzen Regenschauern von karmesinroten Baccarai-Rosen zu überschütten.


Es gab Augenblicke, in denen Gwynn die hormonell bedingten Gefühlswallungen ihrer Kollegen und die daraus resultierende Ablenkung ziemlich anstrengend fand. Aber die Ablenkung war nicht das Problem. Das Problem bestand darin, dass sowohl bei Finn als auch bei Marcia - obwohl sie momentan geistig stark von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen waren - im Fall der Fälle ein einziger zufälliger Blick auf den Bildschirm von Gwynns Computerkonsole genügt hätte, um sie erkennen zu lassen, dass Gwynn mitten in einem Programm steckte, zu dem sie offiziell ganz bestimmt keine Zugangsberechtigung hatte. Nein, auf so ein Vabanquespiel konnte Gwynn sich unmöglich einlassen.

Und deshalb saß sie jetzt hier und wünschte sich weit weg. Sie hatte es noch nie auf diese Tour durchgezogen ... ganz allein und unter den Argusaugen von Wachposten, die jederzeit hereinschneien und ihr über die Schulter sehen konnten. Es hörte sich verrückt an, aber es war tatsächlich viel sicherer, wenn das ganze Büro voller Menschen war, ob sie nun auf ihren Plätzen saßen und ihrer Arbeit nachgingen, oder ob sie durch die Gegend liefen und den neuesten Klatsch austauschten - egal was, Hauptsache, sie waren da und brachten Leben in die Bude. Es war sicherer, weil es unauffälliger war. Es war sicherer, weil niemand damit rechnete, dass ein Spion der Allianz die Frechheit besaß, am helllichten Tag in Aktion zu treten und direkt vor den Nasen von fast siebzig Leuten eine Information aus dem Computer zu holen wie ein Varietézauberer ein weißes Kaninchen aus seinem Zylinder. Aber heute hatte Gwynn ihren kleinen Zaubertrick nicht vorführen können - wegen Marcia und Finn. Und ob es ihr nun gefiel oder nicht - sie musste es jetzt tun!

Gwynn atmete tief durch, beugte sich über die Tastatur ihres Terminals und begann langsam und unendlich vorsichtig die erforderlichen Perimeter einzugeben. Nur kein Fehler jetzt! Feine Schweißperlen erschienen auf ihrer Stirn und sickerten an ihren Schläfen und ihrem Jochbein hinunter. Ihre Finger waren eisig, fühlten sich ganz steif und ungelenk an. Wenn sie sich jetzt nur einmal vertippte, nur ein einziges Mal ... nein, daran durfte sie nicht einmal denken.

Als das Eingangsmenü des Programms, zu dem sie sich gerade unerlaubterweise Zutritt verschafft hatte, vielfarbig auf dem Monitor aufflammte, legte Gwynn eine Pause ein, massierte ihre kalten Hände und versuchte sich zu entspannen. Ruhig, ganz ruhig ... Sie glaubte hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen, sprang auf und wirbelte herum - aber da war nichts. Gar nichts. Sie sank in ihren Schalensessel zurück und lauschte auf ihren hämmernden Herzschlag. Ich kann nicht mehr, dachte sie. Ich bin fertig ... fix und fertig. Das ist das letzte Mal, dass ich mich darauf einlasse ... das allerletztemal, das schwöre ich ...

Aber hier und jetzt musste sie weitermachen. Schritt für Schritt tastete sie sich vorwärts. Zuerst brauchte sie Thorans aktuelles Passwort, um überhaupt an die Information heranzukommen, hinter der sie her war. Es hatte Monate gedauert und alle Beteiligten viel Geduld und Nerven gekostet, bis Satchel, der völlig durchgeknallte, aber geniale Hacker von Cels kämpfender Truppe, es endlich geschafft hatte, den Zugangscode zum Passwortkontrollprogramm zu knacken. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Alles, was Gwynn zu tun hatte, wenn eine mit Hochsicherheitscode verschlüsselte Datenübertragung hereinkam, war, sich mit Hilfe von Satchels Hackercode das aktuelle, beinahe stündlich wechselnde Passwort eines hochrangigen Stabsoffiziers ihrer Dienststelle zu holen, damit in das System einzusteigen, in dem Datenwirrwarr ein bisschen herumzukramen ... und sich zu nehmen, was sie haben wollte. Und wenn sie sogar wußte, an wen genau die codierte Übertragung adressiert war, wie es heute dank Marcia, der unbezahlbaren Plaudertasche, und ihrem Rochus auf Nummer zwei der Fall war ... na, dann umso besser.

Ja, das war alles, was Gwynn zu tun hatte. So wenig ... und doch so viel. Die Sicherheitsabteilung konnte das Computersystem jederzeit überprüfen und dabei Satchels kleinen Schleichpfad entdecken ... und den Terminal, der von diesem Hintereingang Gebrauch machte.

Gwynn rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, bis das gesuchte Passwort endlich über ihren Monitor flimmerte und sie das Programm verlassen konnte. Sie rief das nächste Menü auf und gab das benötigte Passwort ein. Dieses Mal fand sie die gesuchte Datei fast sofort, und das war auch gut so. Je schneller sie hier wieder rauskam, desto besser. Mit fliegenden Fingern tippte sie erneut das Passwort ein und drückte auf die Taste, die die Daten freigab. Und jetzt kam das Schlimmste von allem - die endlose Warterei, bis sich die unverständlichen alphanumerischen Reihen und abstrakten Zeichenfolgen auf dem Bildschirm durch die große und doch so alltägliche Magie elektronischer Datenverarbeitung selbständig in einen sinnvollen Text auflösten. Kleine Leuchtdioden blinkten auf und erloschen wieder, der Prozessor surrte und klackte.

Gwynn, inzwischen so angespannt, dass sie überall und nirgendwo Geräusche zu hören glaubte, warf immer wieder einen schnellen, nervösen Blick über ihre Schulter, dann starrte sie mit gerunzelter Stirn wieder auf den Monitor, der immer noch mit grellgrünem chiffrierten Durcheinander bedeckt war. Das dauerte und dauerte ...

"Mach schon, verdammt noch mal!" schimpfte sie leise vor sich hin. Wie auf Stichwort kam plötzlich Bewegung auf den Bildschirm. Gwynn beugte sich vor und las mit, während sich der Text entschlüsselte, Zeile für Zeile. Da stand es, grün auf schwarz, genau das, was Cel befürchtet hatte. Es ging tatsächlich um einen Angriff imperialer Einheiten auf Demeter, einen fruchtbaren kleinen M-Klasse-Planeten im Lahir-System, dessen Bewohner sich mit bewundernswerter Hartnäckigkeit weigerten, die großmütig angebotene Freundschaft des Imperiums in Anspruch zu nehmen, wofür ihnen eine Lektion erteilt werden sollte, die sie ganz bestimmt nie wieder vergessen würden - und das bald. Die ganze Aktion lief unter einem Codewort, dessen Zynismus kaum noch zu überbieten war. Aktion Butterblume ... ist das zu glauben? dachte Gwynn. Irgendjemand in der Chefetage der imperialen Flotte schien über einen ziemlich finsteren Sinn für Humor zu verfügen.

Na schön ... was Gwynn anging, so hatte sie für Demeter jetzt schon fast alles getan, was sie tun konnte. Sobald sie die Information an Cel weitergeleitet hatte, lagen die Dinge nicht mehr in ihrer Hand. Das Oberkommando der Allianz würde sich darüber den Kopf zerbrechen müssen, wie man einen Agrarplaneten, der offenbar nicht einmal über ein planetares Verteidigungssystem verfügte, vor einem massiven imperialen Angriff schützte. Cel jedenfalls würde zufrieden sein, wenn sie sich nachher in der Jade-Grotte trafen.

Die Prozedur ... Gwynn erinnerte sich noch gut daran, wie Cel ihr das System erklärt hatte. Natürlich war es viel zu gefährlich, einen einzigen regulären Treffpunkt zu bestimmen, den man bei allen Rendezvous beibehielt. Sie trafen sich jedesmal an einem anderen Ort. Alles, was Gwynn brauchte, um herauszufinden, wo das nächste Treffen stattfinden sollte, war die Tagesausgabe der Imperial News, den ersten Buchstaben der ersten Schlagzeile im Sportteil dieser Zeitung und das Branchenverzeichnis von Delamere, in dem alle Restaurants, Bars, Kneipen, Cafés und ähnliche Lokalitäten der Stadt fein säuberlich in ihrer alphabetischen Reihenfolge aufgelistet waren. Heute war es der Buchstabe J (die Schlagzeile hatte "JANKINS GEWINNT DEN SUPERCUP" gelautet), und der erste akzeptable Eintrag unter J war die Jade-Grotte. Als Jankins, ein bekannter Smashballspieler, es das letzte Mal in die Schlagzeile der Imperial News-Sportnachrichten geschafft hatte, hatten Gwynn und Cel sich in Jabbys Frühstücksbar getroffen. Das System war ebenso einfach wie genial. Es war Gwynn, die das Verfahren zum erstenmal als Prozedur bezeichnet hatte, und dieser Name war ihm bis heute erhalten geblieben und ein stehender Witz zwischen ihr und Cel.

Gwynn lächelte beinahe, als ihre Anspannung unmerklich nachließ. Sie hatte es wieder einmal geschafft ... und wieder einmal war sie mit heiler Haut davongekommen. Jetzt musste sie nur noch in das Passwortprogramm zurück und sich abmelden ... So, das war's ... Und jetzt war es endgültig überstanden, aus und vorbei. Ich werde nie wieder ...

Das Aufkreischen der Alarmsirene traf Gwynns Nervensystem mit der unmittelbaren Wucht eines Fausthiebes. Sie blieb sitzen wie zu Stein erstarrt, von dem schrillen, auf- und abschwellenden Heulen auf ihrem Platz festgehalten, gebannt - wie ein wildes kleines Tier, das mitten in der Nacht eine Straße überquerte und vom hypnotisch grellen Scheinwerferstrahl eines sich nähernden Gleiters gebannt und festgehalten wurde -, gelähmt, panikstarr, außerstande, sich zu bewegen ... bis es zu spät war. Kostbare Sekunden vertickten ungenutzt, waren unwiderruflich verloren, während Gwynns Verstand jede Funktion verweigerte, vollkommen paralysiert war.

Sie saß immer noch so da, als ein vor Waffen starrender Trupp Soldaten in organisiertem Chaos hereinstürzte. Erst als sie sie aus ihrem Schalensessel hochrissen, ihr Handschellen anlegten und sie hinauszerrten, begriff Gwynn, dass es wirklich geschah. Dieses Mal war es kein Alptraum, es war ... real. Und mit schneidender Klarheit formte sich ein einzelner Gedanke in ihr: Warum? Warum ausgerechnet heute? DAS IST NICHT FAIR!!!


Fortsetzung folgt ...



©2005 by Karmanjaka. Jegliche Wiedergabe, Vervielfaeltigung oder sonstige Nutzung, ganz oder teilweise, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors unzulaessig und rechtswidrig.

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