„Musst du unbedingt in aller Frühe losreisen? Die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen!“
Ludger lehnte an der Wand ihrer gemeinsamen Zelle und sah missmutig zu, wie sein Bruder zwei Tuniken, ein Stück Seife, einen Laib Brot, sowie je ein Stück Käse und Hartwurst provisorisch in eine großes Tuch wickelte, das er sich nun über die Schulter warf.
„Je eher, desto besser“, gab Khalid zurück, „Ich möchte nicht, dass alle sehen, wie ich mich auf den Weg in mein Exil mache. Außerdem“, mit einem Blick auf die nun behandschuhte Rechte, „fühle ich mich hier nicht mehr so recht wohl.“
„Ich verstehe dich ja!“ Ludger verließ seinen Wachposten an der Wand und trat auf seinen Bruder zu. „Aber warte doch zumindest noch einen oder zwei Tage. Du bist gerade erst aus dem Hospital entlassen worden, du bist noch nicht bereit für eine so weite Reise.“
Khalid musste lächeln. Sein Bruder war noch immer der festen Überzeugung, ihn beschützen zu müssen.
„Danke für deine Sorge, aber ich werde das schon schaffen. In der ersten Zeit werde ich ja noch auf Dörfer treffen. Wenn ich zu erschöpft sein sollte, kann ich mich dort erholen.“
„Dann nimm zumindest das hier!“
Ludger kramt einige Suons aus der Tasche, zwölf an der Zahl, die Khalid nach einigem Zögern schließlich annahm.
„Na gut, aber ich werde es dir so bald wie möglich zurückzahlen, versprochen!“
Widerwillig musste Ludger grinsen, doch kurz darauf zeigte sich wieder die tiefe Sorge auf seinem Gesicht.
„Pass bloß auf dich auf, kleiner Bruder. Ich brauche dich hier noch!“
Khalid seufzte und schloss Ludger fest in die Arme. Dieser große blonde Trampel wird mir fehlen, dachte er bei sich.
„Es wird Zeit.“, sagte er schließlich laut, „Lass uns gehen!“
Die Sonne zeigte bereits zaghafte Ansätze, hinter dem Horizont hervorzukommen, als die beiden den völlig leeren Klosterhof betraten. Die prickelnd warme Morgenluft versprach einen glühend heißen und staubtrockenen Sommertag.
Es war der Tag der Laurane, ein Tag des Wissens, der Bildung und der geistigen Arbeit vor dem Oris, dem Tag der rechtschaffenen, körperlichen Arbeit. Dies war ein weiterer Grund, weswegen Khalid gerade an diesem Tag losreisen wollte. Es erschien ihm äußerst passend, dass er am Laurane das Kloster eben dieser Heiligen verlassen musste.
Bis zum großen, auch zu dieser Tageszeit offen stehendem, Tor gingen die Brüder schweigend, es konnte im Moment nichts gesagt werden, dass nicht noch weiteren Schmerz verursacht hätte.
Schließlich traten sie gemeinsam hinaus und blickten auf den schmalen Weg, der hinunter nach Eibenbach führte, sich dahinter verbreitete und schließlich weit hinter dem Horizont in die große Weststraße mündete, von wo aus Khalid seinen Weg nach Norden nehmen würde.
„Nun denn…“ begann der nun ausgestoßene Novize, ohne jedoch zu wissen, wie er den Satz fortführen sollte. Stattdessen beließ er es bei einer hilflosen Armbewegung und blickte seinen Bruder an, in der Hoffnung, dieser würde irgendetwas Passendes sagen.
Ludgers Blick war verschleiert von der tiefen Trauer, die er verspüren musste, doch er zeigte sich gefasst. In diesem Moment wirkte er ungemein erwachsen.
„Geh schon, kleiner Bruder! Mach es uns beiden nicht noch schwerer.“
Khalid nickte.
„Wirst du endlich aufhören, mich ‚kleiner Bruder’ zu nennen, wenn ich wieder da bin?“
„Wir werden sehen. Ich werde deinen Vorschlag in Erwägung ziehen,“ gab Ludger grinsend zurück.
„Grüß Maria von mir. Und pass gut auf sie auf! Vielleicht sehen wir uns ja schon viel eher wieder, als du glaubst, schließlich musst du auch bald zu deiner Pilgerreise aufbrechen.“
„Ja, wer weiß. Ich hoffe es wirklich.“
„Leb wohl Ludger. Ich…nun ja…bis bald!“
Der Worte waren genug gewechselt. Khalid spürte, dass er mehr nicht würde hervorbringen können. Mit einem letzten Blick auf seinen Bruder und das Kloster, das hinter diesem langsam in den neuen Tag hineindämmerte, machte er den ersten Schritt zurück, wandte sich dann um und lief, schneller als notwendig, getrieben vom Gefühl der Fremdheit die Klosterstraße hinunter durch das Dorf Eibenbach in die unbekannte Landschaft dahinter.
Khalid blickte sich nicht um.
Er wusste nicht, ob er es schaffen würde, weiterzugehen, sähe er noch einmal die bis vor kurzem noch so vertrauten Mauern, die kleiner werdende Silhouette seines Bruders davor, die gewiss noch an der selben Stelle zu sehen war.
In dem jungen Mann kämpften zwei grundverschiedene Emotionen um die Vorherrschaft. Einerseits fühlte er die Schwere des Verlusts so intensiv, dass es ihm schwer fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen, andererseits spürte er immer deutlicher, dass es das Richtige gewesen war, das Kloster zu verlassen, dass er dort nicht hingehörte.
Der Verlust überwog – vorerst.
Doch je weiter der Morgen fortschritt, desto mehr ließ sich Khalid von der ihn umgebenden Schönheit und Lebensfreude ablenken.
Es wurde heiß, doch noch nicht so unerträglich, dass man Schatten hätte suchen müssen. Die Vögel schrieen sich die Seelen aus dem Hals in dem unermüdlichen Versuch, sich gegenseitig zu übertreffen. Seitlich der Straße war dicht bewachsenes Ackerland mit vereinzelten Baumalleen dazwischen. Die Luft roch satt nach Lavendel und wildem Mohn. Ein Tag, geschaffen für Künstler und Poeten in ihren Versuchen, die Schönheit der Welt ewig festzuhalten. Und mitten in alledem wie ein kleiner Makel ein junger Mann, der sich noch nicht so recht sicher war, ob es ein Frevel wäre, sich zu freuen.
Die Freiheit schmeckt bittersüß, ging es ihm immer wieder durch den Kopf.
Den ganzen Vormittag über begegnete Khalid keiner Menschenseele. Auch die Landschaft veränderte sich kaum und so begann er, Melodien zu pfeifen, von denen er nicht einmal genau wusste, woher er sie kannte.
Als die Mittagssonne schließlich drückend wurde und der Novize gerade ein kleines Waldstück durchquerte, setzte er sich am Stamm einer alten Ulme nieder, um eine kleine Rast einzulegen.
Bewusst teilte sich Khalid seinen Proviant ein, biss nur ein paar mal von einem Kanten Brot ab und nahm dazu etwas Käse und einige, leider äußerst saure, Johannisbeeren, die er am Wegrand gepflückt hatte.
Da er keinen Grund fand, der ihn zur Eile hätte treiben können, und ihn nun nach dem Essen eine matte Schläfrigkeit überkam, streckte sich der Pilgerjüngling auf dem weichen, moosbewachsenen Boden aus und ließ sich von den Geräuschen des Waldes in einen dämmrigen Halbschlaf gleiten.
Als Khalid wieder erwachte, war es ihm unmöglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Das Licht war düster geworden und dichte Wolken verdeckten den Himmel, die Sonne war nicht zu sehen.
Fluchend richtete sich der junge Mann auf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass es zu regnen anfangen würde, noch ehe er ein Obdach fände. Doch als er sich gerade wieder den Beutel über die Schulter geworfen hatte um weiterzumarschieren, hielt er inne und sein Blick wanderte über den Waldboden und fixierte schließlich einen Punkt.
Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, legte Khalid seine Habe wieder beiseite und fing an, zunächst zögernd, dann immer schneller und schließlich wie vom wilden Hund gebissen, im Boden zu graben.
Der Anfall war so schnell wieder vorbei wie er gekommen war und ein verwirrter junger Mann blickte in ein armtiefes Loch, auf dessen Grund er einige schwarze Knollen ausmachen konnte.
Mit der Gewissheit, es sei besser, sich selbst keine Fragen zu stellen, zog er die daumengroßen Gewächse aus der Erde und betrachtete sie.
Es schien eine Art Pilz zu sein, aber etwas Ähnliches hatte er bislang noch nie gesehen.
Schultern zuckend legte der Finder insgesamt ein halbes Dutzend dieser Erdpilze mit in sein Tuch und erhob sich, missbilligend die verdreckte Tunika bemerkend.
Die Weiterreise war nun merklich unangenehmer, die Luft war erdrückend schwül, der Himmel von einer dichten grauen Wolkendecke überzogen. Die Furcht vor dem bevorstehenden Gewitter trieb Khalid zu schweißtreibender Hast an.
Dennoch ließ der Regen noch zwei Stunden auf sich warten, setzte jedoch dann mit unvermittelter Heftigkeit ein.
Khalids dünne Kleidung war binnen weniger Momente völlig durchnässt. Hektisch blickte er sich um, suchte nach Zivilisation, fand keine. Das weite Ackerland war mittlerweile abgelöst worden von endlosen Weiden, die nur von kleinen Baumbeständen unterbrochen wurden. Weit und breit war kein Gehöft zu sehen.
Resigniert, keine andere Möglichkeit sehend, lief der Durchnässt weiter den Weg entlang, während die Welt um ihn ins Dunkel versank und er schließlich nicht mehr sehen konnte als eine Wand aus Wasser zu jeder Seite.
Später konnte er nicht mehr sagen, wie lange er durch den strömenden Regen geirrt war, gefühlt war es wohl ein ganzes Menschenalter, bis aus der Ferne jenes Licht auftauchte, das er erst spät bemerkte, das ihn aber daraufhin umso mehr antrieb.
Nach und nach schälten sich die Umrisse eines größeren Gebäudes aus der Düsternis und als Khalid näher kam, erkannte er die Quelle des Lichts, das ihm wie ein rettender Anker erschien, als Sturmlaterne, die am Aushängeschild des offensichtlichen Gasthofes hin- und herklapperte. Dahinter konnte er verschwommen mit verwässerten Augen eine große gepflasterte Straße erkennen, die nach rechts und links abzweigte und sich dann im Dunkel verlor.
Also hatte er die Reichsstraße erreicht, früher als erwartet.
Doch dafür interessierte sich Khalid im Moment kaum, ebenso wenig für die Aufschrift des Schildes, auf dem „An der Klosterkreuzung“ geschrieben stand. Die Aussicht auf ein warmes und trockenes Plätzchen zog ihn direkt in das Gebäude hinein.
Am späten Morgen war ihnen mitgeteilt worden, dass sich aufgrund einer wichtigen Ankündigung – anders als sonst – alle Mitglieder des Klosters zugleich zum Abendessen einfinden sollten.
Ludger beobachtete nachdenklich die hereinkommenden, bis aufs Mark durchnässten Menschen und fragte sich, wo Khalid gerade sein mochte.
Als sich der Tumult in dem großen Speisesaal einigermaßen gelegt hatte, erhob sich der Abt von seinem Platz zwischen den anderen Älteren und wandte sich der Menge zu.
Sofort verstummten alle Gespräche.
„Meine lieben Brüder und Schwestern“, begann Feldokar, „es tut mir außerordentlich leid, wenn ich euch von euren Pflichten abhalte, aber ich habe euch etwas mitzuteilen und es ist einfacher, wenn ihr direkt alle anwesend seid.“
Er machte eine dramatische Pause und blickte in die Runde. Es war offensichtlich, dass ihm nicht wohl war bei dem, was er tat.
„Es wird in diesem Jahr für die Novizen keine Pilgerreise zu den Meditationsstätten des Nordens geben.“
Erregtes Gemurmel erhob sich nach diesen Worten im Saal. Ludger erhob sich entsetzt. Der Abt musste sich mit einigen beschwichtigenden Gesten wieder Ruhe verschaffen.
„Ich weiß, dass dies eine harte Entscheidung ist und sie ist mir nicht leicht gefallen. Doch ich habe Berichte gehört, nach denen die Barbaren ihre Stämme vereint und eine gemeinsame Streitmacht errichtet haben sollen, um in den Süden zu marschieren. Es soll schon vereinzelte Angriffe im Nordwesten Maza´als gegeben haben. Ich kann und will nicht euch gute junge Männer auf diese ohnehin schon so gefährliche Reise in so unruhigen Zeiten schicken. Ihr werdet bereits am Unterricht der Akoluthen teilnehmen, die Pilgerfahrt werdet ihr dann später nachholen, wenn sich die Dinge beruhigt haben. Wir wollen alle hoffen, dass das bald sein wird. Nun möchte ich euch nicht länger aufhalten und wünsche euch einen guten Appetit und den Segen Lauranes.“
Unvermittelt setzten die Gespräche an allen Tischen gleichzeitig ein, doch Ludger blieb weiter stehen und sah Feldokar wie erstarrt an. Dieser nickte ihm zu und verließ den Saal. Nach kurzem Zögern folgte ihm der Novize, der immer noch aus allen Wolken gefallen zu sein schien.
In einem kleinen Nebenraum, dessen Nutzen Ludger gerade nicht einfallen wollte, wartete der Ältere auf ihn.
„Ich denke mir, du möchtest mit mir reden?“
Ludger hob an, wusste dann aber doch nicht, was von den zahllosen Dingen, die ihm durch den Kopf schwirrten, er zuerst aussprechen sollte.
Als keine Antwort kam, fuhr Feldokar fort:
„Hör mir zu Ludger: Ich habe die Nachricht erst heute bekommen und sofort meine Schritte eingeleitet. Khalid ist heute Morgen ohne ein Wort zu mir verschwunden. Hätte ich gewusst, wie die Dinge sind, ich hätte ihn aufgehalten, das musst du mir glauben. Ich habe einige Reiter ausgeschickt, die ihn finden und hierher zurückbringen sollen. Seine Verbannung vergessen wir einmal für den Moment, es gibt Wichtigeres.“
Ludger antworte noch immer nicht und nach einigen Momenten des Schweigens fasste ihn der Abt bei der Schulter.
„Dein Bruder ist ein gewiefter Bursche, das solltest gerade du wissen. Er wird zurechtkommen, bis er gefunden wird. Mach die keine Sorgen um ihn, in ein oder zwei Tagen ist er wieder in diesen Mauern und in Sicherheit. Ich liebe euch beide wie meine eigenen Söhne, seit ihr in dieses Kloster gekommen seid. Schon allein wegen allem, was ihr durchmachen musstet. Glaub mir Ludger, ich werde dafür sorgen, dass es Khalid gut geht. Und nun komm wieder herein und lass uns gemeinsam essen und dann beten wir für seine Sichere Heimkehr.“
Der junge Mann machte eine abwehrende Handbewegung, noch immer blass.
„Danke Hochwürden, ich habe keinen Hunger. Ich werde…ein wenig spazieren gehen…nachdenken.“
Mit diesen Worten wollte er den Raum verlassen, doch der Abt hielt ihn noch einmal zurück und sah ihm tief in die Augen. Sein Blick war voller Sorge und es schien, als sei er in den letzten Tagen merkwürdig schnell gealtert.
„Tu nichts Unüberlegtes mein Sohn. Du weißt, dass das Unerlaubte Verlassen des Klostergeländes mit Ausschluss aus dem Orden bestraft wird. Außerdem möchte ich nicht nach zwei verlorenen Söhnen suchen müssen. Hast du verstanden?“
Ohne ein weiteres Wort ließ Ludger den alten Mann stehen.
*
Es war, als betrete er eine andere Welt.
Sobald er die schwere Holztür mit Mühe ins Schloss gedrückt hatte, wurde es atemberaubend still und köstlich warm. Der Sturm schien draußen ausgesperrt zu sein und konnte nicht vordringen in diese Insel der Ruhe.
Khalid atmete erleichtert auf und merkte erst jetzt an seinem schmerzenden Kiefer, wie sehr er die Zähne aufeinander gepresst hatte, während er sich durch das Unwetter kämpfte.
Der Innenraum des Gasthauses war nicht sonderlich geräumig und dazu sehr sparsam eingerichtet. Dennoch vermittelten die holzvertäfelten mit Tuch behangenen Wände und vor alles das im Kamin lebhaft prasselnde Feuer häusliche Gemütlichkeit und Wärme. Die verschiedenfarbigen Vorhänge tauchten den Raum in ein harmonisches, aber nicht näher zu beschreibendes Gemisch von Farben, so dass das Licht weder zu hell noch zu dunkel war.
Wer immer dieses Vorhänge arrangiert hatte, wusste genau, was er tat. Oder sie. Khalid vermutete eher sie.
Im Kontrast dazu standen die grob zusammengezimmerten, eher praktisch geplanten vier Tische, auf deren Bänke jeweils gut zehn Personen bequem Platz nehmen konnten.
Nachdem weit und breit niemand zu sehen war, schritt Khalid, trotz der Wärme noch immer zitternd, über den mit Stroh bestreuten Fußboden aus gestampftem Lehm hinüber zu der den Tischen nicht unähnlich anmutenden Theke.
Hinter dem Tresen war eine geschlossene Tür zu sehen, die vermutlich in die Küche führte, weiter nichts. Zur Rechten hing ein weiterer schwerer Vorhang, hinter dem der Wanderer eine aufwärts führende Treppe ausmachen konnte.
Es war noch immer unbehaglich still, als hätten die Tücher alle Geräusche der Welt geschluckt. Khalid wurde langsam nervös. Er hoffte inständig, dass das Gasthaus einen Stall besäße, denn für ein Zimmer würde sein Geld wohl kaum reichen, selbst wenn er Arbeitskraft anböte, was im Moment wohl wenig vonnöten zu sein schien.
Der Novize war schon im Begriff, sich hinter den Tresen zu begeben, als er von der Treppe Schritte vernahm.
Als der Vorhand wenig sanft zur Seite geschoben wurde, war der einen stämmigen Wirt erwartende junge Mann zunächst überrascht. Stattdessen betrat nämlich eine tief über einen kunstvoll geschnitzten Gehstock gebeugte Gestalt unter endlosem aber vollständig unverständlichem Gemurmel den Schankraum. Es war Khalid unmöglich, das Alter dieses Mannes festzustellen, der seinen Gast offensichtlich noch gar nicht bemerkt hatte, sondern die Fenster ablief und die Läden überprüfte, während er sein fast schon melodisch anmutendes Gebrabbel fortsetzte.
Amüsiert beobachtete Khalid ihn dabei und fragte sich beiläufig, ob der schwere Wollumhang, den der Alte trotz der Wärme hier drinnen trug, dessen gebückte Gestalt überhaupt erst verursachte, bevor er mit einem vernehmlichen Räuspern auf sich aufmerksam machte.
Das Gemurmel endete abrupt und die Gestalt wandte sich mit erbarmungswürdiger Langsamkeit um. Als der Alte sich bemühte, den Kopf zu heben, um ihn ins Blickfeld zu bekommen, sah Khalid ein Gesicht, dessen Konturen man vor lauter Falten kaum mehr wahrnehmen konnte. Dennoch vermutete er, dass sein Gegenüber einst ein gutaussehender Mann gewesen war, die nussbraunen, äußerst intelligent glitzernden Augen zeugten nocht heute davon. Doch diese Zeiten mussten verdammt lange her sein. Es schien, als wäre sein Gesicht eine Maske, die im Regen verlaufen war. Gekrönt wurde das Ganze durch einen Kranz silbrig weißer Haare, die an der Stirn bereits eine größere Lücke aufwiesen und den Jüngeren daran erinnerten, dass ihm eine ähnliche Haartracht noch bevorstehen würde, allerdings in nicht ganz so ferner Zukunft.
“Junge!” kam ihm eine überraschend tiefe, kratzige Stimme entgegen, die er eher einem Köhler oder Bergmann zugeordnet hätte. “Was machsu denn hier? Da draußn probn se den Weltunnergann.”
“Nun ja, deswegen bin ich auch hier drinnen und nicht dort draußen.” Khalid lächelte unsicher. Reden war nicht seine Stärke. “Ich bin ein Pilger aus dem Kloster Eibenbach. Ich war auf der Durchreise nach Norden und wurde von dem Gewitter überrascht. Ich... wollte euch fragen, ob ihr einen Schlafplatz in der Scheune und etwas zu Essen habt.”
Der alte Mann lachte, was klang als würde man einen Beutel mit Steinen schütteln, und zeigte dabei das schwarze Loch in seinem Mund. Khalid mochte sich nicht vorstellen, was dort in den Schatten lauerte.
“Nen keckes Bürschchen bisse. Hassu denn auch genuch Geld, um dein vorlautes Mundwerk zu rechtfertign?”
Der Mann schleppte sich langsam heran, die sanften und zugleich durchdringenden Augen weiter auf den Jüngeren gerichtet.
Dieser überlegte noch, was er antworten sollte, als der Greis bereits fortfuhr.
“Lasset gut sein Junge. Bis nich der erste Novisse, der auf seiner Wallfahrt hier vorbeikommt. Ich würde nie nich von nem Jünger vonner Laurane Geld annehm. Dennoch”, er hob mahnend den Zeigefinger, als sich das Gesicht des nassen Wanderers aufhellte, “erwarte ich von jedem von euch Burschen, dasser mir im Gegnzuch hier nen bisschen zur Hand geht.”
Khalid nickte eifrig, während sein Gegenüber grübelnd an ihm vorbei schaute.
“Lass mich ma überlegen. Heut is türlich nimmer viel zu tun. Werdn wohl auch nich kehnen Gast mehr ham. Für Arbeitn draußn isset Wetter zu mies. Am bestn wäret, wenne mein Gilla frachst, mein Tochter. Die is inne Küch und macht uns Vesper fettich.”
Er bekräftigte seinen Entschluss mit einem Nicken und machte Anstalten, sich von Khalid abzuwenden, hielt dann aber noch einmal inne und streckte diesem eine arthritisch gekrümmte Hand entgegen.
“Man nennt mich übrigens Samuel. Willkommn inner Klosterkreussung!”
Normalerweise gab es für ihn nichts Schöneres, als mit Maria im Arm im Stroh der Scheune ihres Vaters zu liegen und mit der Hand den gleichmäßigen Herzschlag unter ihrer Brust zu erfühlen, doch heute konnte Ludger keine Ruhe finden. Und er spürte, dass seine Geliebte sich ebenso Sorgen machte.
“Er ist irgendwo da draußen, Maria. Jederzeit könnte er diesen verdammten Barbaren in die Arme laufen. Und ich sitze hier nutzlos herum! Verdammt, ich halte das nicht länger aus!”
Sanft schob er die junge Frau beiseite und erhob sich, um ruhelos auf und ab zu laufen. Diese warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
“Ich weiß, Ludger. Aber der Abt hat Recht, Khalid kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.”
“Ich muss ihn suchen, er kann noch nicht weit gekommen sein!”
Maria trat nun auf ihren Gefährten zu, nahm ihn bei der Schulter und unterbrach so seinen endlosen Gang. Ihr Blick suchte seine Augen und hielt sie fest.
“Hör mir zu Ludger!” Sie betonte jede einzelne Silbe, um deutlich zu machen, wie ernst es ihr war. “Khalid ist dein Bruder und ihr habt jede freie Minute eures Lebens miteinander verbracht. Daher werde ich jede deiner Entscheidungen akzeptieren, wie sie auch aussehen mögen. Aber bedenke Folgendes: die Welt dort draußen ist riesig und du kannst noch nicht sicher sagen, ob er weiter auf der Straße reist oder nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass du ihn alleine und zu Fuß finden kannst. Vermutlich würdest du dich nur verirren und die Reiter des Abts müssten dich auch noch zurückholen. Sie werden ihn vielleicht schon morgen, spätestens aber übermorgen gefunden haben. Dafür solltest du nicht deinen Ausschluss aus dem Orden riskieren. Und nicht zuletzt,” ihr Blick glitt zur Seite, “würde ich krank werden vor Sorge, wenn du auch noch verschwinden würdest.”
Luder schloss die Frau, deren letzte Worte nur noch erstickt hervorkamen, in die Arme. Ihrem Stolz zuliebe tat er so, als würde er ihre Tränen nicht bemerken.
“Ich würde dir niemals weh tun!”
“Hab Geduld, Ludger. Wir warten noch ein, zwei Tage und dann sehen wir weiter.”
Der Novize nickte, doch wäre er ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er sich eingestehen müssen, dass er nicht überzeugt war.
Der erste Eindruck Khalids von der geräumigen Küche war die verwirrende Mischung verschiedenster Gerüche. Der Duft von süßen und scharfen Gewürzen und Kräutern schlug ihm entgegen und bildete eine Sinfonie, die seine Wahrnehmung überreizte, so dass ihm kurz schwindelig wurde.
Der Raum selbst war fast so groß wie der Schankraum und angefüllt mit Dutzenden von Regalen, in denen sich Geschirr für mindestens hundert Personen stapelte, ebenso Tiegel, Flaschen und Krüge verschiedener Größen mit nicht näher bezeichnetem Inhalt. An der gegenüberliegenden Wand brannte unter einem gewaltigen Rauchfang ein nicht minder großes Feuer, auf dem zur Zeit allerdings ein recht kleiner Topf hing.
In diesem rührte die offensichtliche Herrin der Küche, ein Koloss von Frau, mit Sicherheit an die zwei Schritt lang, fast genauso breit und mit den Schultern eines Hufschmieds.
Bei seinem Eintreten hielt sie in ihrer Tätigkeit inne und wandte sich ihm zu, wobei ihr langes weißblondes Haar, das stellenweise zu Zöpfen geflochten war, so tief hing, dass Khalid fürchtete, es könnte Feuer fangen.
“Was gibt´s?” donnerte ihm eine markante, aber durchaus weibliche Stimmte entgegen.
“Seid ihr Gilla?”, gab er schüchtern zurück, “Euer Vater hat...”
“Die bin ich und ich bin weder mehrere Personen noch was Besonderes, also lass die verdammte Höflichkeit sein! Du bist ein Novize vom Lauranerkloster, hm?”
Der Angesprochene nickte, woraufhin Gilla schnellen Schrittes auf ihn zu kam. Er fühlte sich unbewusst an einen wütenden Bullen erinnert.
“Also wie gesagt, ich bin Gilla.” Sie reichte ihm eine gewaltige Hand und Khalid musste sich zusammennehmen, um nicht vor Schmerz zu zucken, als er sie ergriff.
Dann stemmte die Matrone die Hände in die Hüften und blickte auf ihn herab. Sie stand direkt vor ihm, so dass der Novize Mühe hatte, an ihrem ausladendem Busen vorbei in ihr Gesicht zu schauen.
“Ne Menge ist ja nicht gerade an dir dran, Junge. Nun, viel ist heute so oder so nicht zu tun. Zuerst holen wir dich aus diesen Lumpen heraus, so kann ich dich nicht gebrauchen. Wie heißt du, Junge?”
“Khalid,” brachte dieser hervor, während er von Gilla in einen Nebenraum gezogen wurde, in dem Kleidung, Möbel, Puppen und alles sonst Denkbare lagerte.
Die Hünin wühlte kurz in einer Kiste und holte dann eine Hose, ein Hemd und ein großes graues Tuch hervor. Letzteres reichte sie ihm, legte die Kleidung auf die Truhe und riss Khalid daraufhin die Tunika vom Leib, was diesen dazu brachte, ein wenig männliches Geräusch von sich zu geben.
“Nun stell dich nicht so an, Junge. Hast doch nix, dessen du dich schämen müsstest.” kommentierte Gilla grinsend. “Außerdem konnte ich ja nicht ahnen, dass ihr Mönche keine Unterwäsche tragt. So, jetzt trockne dich erst mal ab!”
Die Wirtstochter wandte sich noch einmal der Truhe zu, holte einen Lendenschurz hervor und legte ihn zu den restlichen Sachen.
“Du hast Glück, Junge. Du hast ungefähr die gleiche Statur wie mein früherer Mann.”
Khalid schauderte bei dem Gedanken.
“Wo ist dein Mann jetzt?” fragte er, um sich abzulenken.
“Fort. Weggelaufen. Kein großer Verlust. Du kannst auch die Sandalen ausziehen, ich hab hier noch ein paar Stiefel für dich.”
“Ich danke euch... dir,” verbesserte sich der Novize hastig, während er sich wieder ankleidete. Die Sachen waren gut, die Hose aus robustem Wildleder, das Hemd aus Schafswolle, ohne dabei zu kratzen. Die Stiefel waren aus weichem Leder und mit Pelz gefüttert.
“Dank mir nicht zu früh, Junge! Die Kleidung ist nur für deinen Aufenthalt hier. Ich werde dein Zeug waschen und trocknen und morgen kannst du es wieder mitnehmen.”
Khalid nickte, war aber dennoch dankbar für die Großzügigkeit der Köchin. Nebenher fragte er sich, wozu die Frau nach seinem Namen gefragt hatte, wenn sie es doch vorzog, ihn “Junge” zu nennen.
“Ich werde auch dein Päckchen auspacken und trocknen, was noch zu gebrauchen ist.”
Der junge Mann schluckte. Er hatte noch gar nicht an seine Vorräte gedacht.
“Also mit der Wurst und dem Käse ist alles in Ordnung,” berichtete Gilla, nachdem sie das Tuch losgebunden hatte, “aber das Brot ist völlig durchgeweicht, das kann niemand mehr essen. Und was ist das?”
Sie hielt eine der Knollen hoch, die Khalid eingesteckt hatte.
“Ehrlich gesagt weiß ich das nicht.” gab dieser zur Antwort. “Ich glaube, es ist eine Art Pilz. Ich habe die zufällig im Wald gefunden, unter der Erde. Ich weiß nicht einmal, ob die essbar sind.”
Die Augen der Matrone leuchteten plötzlich.
“Essbar? Kleiner, weißt du überhaupt was du da gefunden hast? Das sind Trüffel! Eine Delikatesse, wahnsinnig teuer und unfassbar schwer zu finden. Und dann gleich sechs dicke Knollen! Die sind ein kleines Vermögen wert! Junge, wie hast du die gefunden?”
“Ich habe... gegraben.”, gab Khalid verwirrt und eingeschüchtert zurück. “Du... kannst sie haben, wenn du möchtest.”
Ein völlig verdatterter Gesichtsausdruck antwortete ihm.
“Schätzchen, du bist kein sonderlich gute Verhandlungspartner. Hör mal: du bekommst die Kleidung dafür, die Übernachtung, das Essen und noch ein paar Münzen, damit du deine Reise sicher fortsetzen kannst. Einverstanden? Ich kann doch einen armen kleinen Mann wie dich nicht ausnutzen.”
Der Novize nickte, auch wenn er sich in seinem Stolz gekränkt fühlte. Es war allerdings auch schwer, sich von dieser gewaltigen Frau nicht einschüchtern zu lassen.
Das Strahlen kehrte wieder auf das Gesicht von Gilla zurück.
“Mit diesen Wunderknollen kann man jedem Gericht, ob süß oder scharf, mehr Geschmack verleihen. Ich mache ein wenig davon in unser Essen, dann wirst du es merken. Du bist wirklich ein Goldjunge, ich könnte dich küssen!”
Kurzzeitig geriet Khalid in Panik, beruhigte sich dann aber wieder, als er sah, dass die Köchin ihre Drohung nicht in die Tat umsetzen würde.
“Nun erzähl mal, wo willst du überhaupt hin?”
“In den Norden, ins Land der Barbaren.”
Gillas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig und Sorge machte sich breit.
“Süßer, das würde ich mir zwei mal überlegen. Hast du es noch nicht gehört? Die Barbaren sammeln ihre Truppen und scheinen nach Süden marschieren zu wollen. Sie werden nicht begeistert sein über Besuch zu dieser Zeit.”
Der junge Mann war überrascht, davon hatte er tatsächlich noch nichts gehört.
“Sie marschieren in den Süden? Aber wieso das denn?”
“Das weiß niemand. Aber versteh mir einer diese Wilden. Ehrlich Junge, du solltest wieder in dein Kloster zurückkehren, da bist du in Sicherheit.”
“Das geht nicht!” gab Khalid ohne zu Zögern zurück. Es war ein Problem, dass die Raggar Kriegsvorbereitungen trafen, aber zurückkehren konnte er noch nicht, so viel stand fest.
“Kleiner, du...”
“Es geht nicht!” wiederholte sich der Novize energisch. Er wusste, dass Gilla das nicht verstehen konnte und er hatte kein Bedürfnis danach, es ihr zu erklären. Doch die Wirtstochter schien zu merken, wie ernst es ihm war.
“Nun, wenn es dir wirklich so wichtig ist. Aber es bricht mir das Herz bei dem Gedanken, dass dir etwas passieren könnte, Süßer.”
Khalid musste lächeln. Die gewaltige Matrone war auf dem zweiten Blick wirklich liebenswert.
“Kannst du mir bitte erklären, wie ich reisen muss?”
“Du musst einfach der Straße nach Norden folgen, mein Kleiner. Nach zwei Tagesmärschen solltest du die Issir erreichen. Es gibt dort eine Fährstation direkt an der Straße. Dahinter enden alle Wege. Über dieses Land kann ich dir nichts mehr sagen, mein Junge.”
Ihr Gegenüber bedankte sich und bemühte sich, zuversichtlich zu lächeln, woraufhin sich Gilla wieder in die Küche aufmachte.
“Jetzt bekommst du erst mal was Gutes zu essen und danach mache ich dir ein heißes Bad. So warm wie hier wird es dir nämlich in den nächsten paar Wochen nicht mehr werden.”
Von Paglim
Am 29.04.2008 um 07:51 Uhr
Also ich bin definitiv kein professioneller Schreiber, mach das nur neben dem Studium. Das ist mein zweiter Roman, bzw. mein vierter, ich hab davor ne Trilogie geschrieben. Bei der hab ich aber eher noch geübt.
Ich habe an sich nicht vor, das außerhalb des Internets zu veröffentlichen, mir reicht das so, aber naja, man kann ja mal schauen. Mir liegt die Geschichte mittlerweile auch sehr am Herzen.
Es geht im Moment nicht sonderlich gut weiter, hatte einige Arbeiten für die Uni zu schreiben, die hatten meine Aufmerksamkeit komplett benötigt. Aber jetzt wird es wohl bald Neues geben.
Vielen Dank nochmal!
Von Jason-Potter
Am 14.04.2008 um 21:21 Uhr
Ganz ehrliche Meinung: das ist bisher das Professionellste - und ich habe hier schon einiges Gutes gelesen -, was auf dieser Plattform veröffentlicht wurde, ja schon so gut, dass ich gestehen muss, leicht neidisch zu sein.
Ich hoffe du schreibst diese Geschichte zu Ende und findest dann einen Verlag, der sie herausbringt und das unter fairen Konditionen; verdient hätte sie es.
Weiterhin viel Spaß beim Schreiben
Grüße Ralf