Als kleiner Junge fuhr ich in den Ferien regelmäßig zu Tante Luna. Meine anderen Geschwister mochte sie nicht sonderlich. Sie meinte immer, sie sei schon zu alt für soviel Trubel, aber mich schien sie zu mögen. Und ich mochte meine Tante über alle Maßen.
Wenn ich so zurückdenke, sehe ich sie vor mir auf dem Bahnsteig stehen und auf mich warten. Tante Luna war eine kleine schrullige Person mit Strohhut und geblümtem Kleid. Sie war recht mürrisch und mied Fremde. Bei ihr zu Hause habe ich nie Besuch gesehen.
Tante Luna wohnte auf einem abgelegenen Bauernhof, den sie mit ein paar Hühnern und ihrer Katze teilte. Alles war total verwildert, das totale Kinderparadies. Ich stromerte den ganzen Tag durch die Gegend, auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Nur zum Essen und Schlafen kam ich zurück.
Den eigentlichen Schatz entdeckte ich durch Zufall. Tante Luna wollte Gurken einlegen und bat mich, vom Dachboden einen Steintopf zu holen. Ich war selten auf dem Boden. Da standen nur Gläser und altes Geschirr. So dachte ich jedenfalls.
Während ich nach dem passenden Steintopf suchte, hörte ich das leise Schluchzen eines Kindes vor mir. Doch da war nichts zu sehen, nur alte Blumentöpfe und ein Spiegel, dem eine kleine Ecke fehlte. Darüber hing eine zerschlissene Pferdedecke. Aber dieser Spiegel war merkwürdig. In ihm konnte ich mich nur in schwarz-weiß sehen. Das muss an dem Halbdunkel liegen, dachte ich mir. Jedenfalls war hier niemand und enttäuscht nahm ich den nächstbesten Steintopf und brachte ihn zu Tante Luna.
Ich muss wohl leicht verwirrt ausgesehen haben, denn die Tante fragte mich sofort, was los sei. Aber was sollte ich ihr denn sagen? Dass ich ein Schluchzen gehört hatte? Ich schwieg.
Kinder sind grundsätzlich neugierig und der Gedanke an das weinende Kind ließ mich nicht mehr los. Am nächsten Tag kletterte ich auf den Dachboden. Jetzt wehte ein zaghaftes Summen aus der Ecke herüber. Da musste doch etwas sein, was ich übersehen hatte.
Ich stülpte die Blumentöpfe um und tastete die Wand ab: nichts! Wieder hockte ich mich vor den Spiegel. Vielleicht hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Frustriert wollte ich die Decke über den Spiegel ziehen, doch plötzlich starrten mich zwei große himmelblaue Augen aus dem Spiegel an. Mein eigenes Bild war verschwunden, nur diese Augen musterten mich. Erschrocken wich ich zurück und stolperte panisch zur Treppe.
„Geh nicht! Lass mich nicht allein!“, verfolgte mich eine zarte weinerliche Stimme.
Nein, ich war nicht sonderlich mutig, aber es zog mich zurück zu diesem Spiegel.
„Wer bist du?“, fragte die Stimme.
„Florian“, murmelte ich und hockte mich in sicherer Entfernung vor den Spiegel. Das Glas war nun pechschwarz und die blauen Augen strahlten wie zwei Kerzen in der Nacht.
„Ich bin der Jan! Wohnst du hier?“, setzte die Stimme aus dem Spiegel nach.
„Meine Tante lebt hier und in den Ferien bin ich immer bei ihr“, antwortete ich.
„Du kennst also diese Hexe, die mich gefangen hält!“ Jetzt blickten mich die Augen vorwurfsvoll an und die Konturen eines Gesichtes begannen sich abzuzeichnen.
Meine Tante war zwar wunderlich, aber eine Hexe und Kindesentführerin? Das wollte und konnte ich nicht glauben. Heftig schüttelte ich den Kopf.
„Doch!“, bekräftigte Jan und jetzt sah ich Tränen den Spiegel hinunter rinnen. „Sie hat mich hier eingesperrt!“
„Das geht überhaupt nicht! Und Tante Luna würde sowas nie machen!“, entgegnete ich entrüstet.
„Warum bin ich sonst in diesem Spiegel?“, kam die traurige Gegenfrage.
Der Junge tat mir unendlich leid. Konnte Tante Luna wirklich so grausam sein und ein Kind in einen Spiegel einsperren?
„Berühre den Spiegel und du wirst wissen, ich lüge nicht!“, forderte Jan energisch.
Ich dachte mir nichts dabei und vielleicht würde ich wirklich etwas spüren. Also legte ich meine Rechte auf das Glas. Die Oberfläche des Spiegels erzitterte. Wellenartig verbog sich das Glas und zersprang mit einem spitzen Knall. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, stand in dem Spiegelrahmen ein blonder Junge, ungefähr so alt wie ich, barfuß und in Latzhosen. Er strahlte mich an.
„Du hast mich erlöst!“, rief er freudig. Vorsichtig trat er aus dem Spiegel heraus, seine kleinen nackten Füße wichen geschickt den zuckenden Scherben aus. „Ihr wollt mich zurück in mein Gefängnis bringen, aber nicht mir!“, lachte er lausbubenhaft und streckte dem Spiegel die Zunge heraus.
„Los komm! Ich will endlich wieder die Sonne sehen und spielen!“, rief er mir zu und zog mich hoch.
„Aber Tante Luna!“, wandte ich ein. Bestimmt würde es großen Ärger geben, wenn sie das mitbekam.
Jan zog die Stirn kraus. „Da müssen wir verdammt aufpassen!“, meinte er nachdenklich.
Wir stahlen uns heimlich aus dem Haus. Tante Luna werkelte in der Küche und schien keinen Verdacht zu schöpfen.
Auf der Türschwelle lag Tante Lunas Katze und aalte sich in der Mittagssonne. Ich stieg über sie hinweg, doch Jan trat ihr mit vollem Schwung in die Seite und schleuderte sie auf den Hof. „Blödes Katzenvieh!“, zischte er und um seine Mundwinkel gruben sich harte Falten.
„Warum machst du das? Was hat dir die arme Katze getan?“, fuhr ich ihn an.
Jan riss überrascht seine Augen auf und blickte mich ängstlich an. Sein Gesicht war wieder weich und unschuldig.
„Tut mir leid. Wirst du mich jetzt an deine Tante verraten?“ Seine Augen bettelten um Verzeihung.
„Ich bin keine Petze!“, beruhigte ich ihn.
„Du bist ein wahrer Freund!“, flüsterte Jan. Irgendwie schmeichelte mir das. Ich hatte keine wirklichen Freunde und nun sagte jemand sowas zu mir. Ja, ich wollte für Jan ein Freund werden und da konnte ich mich doch an solchen Kleinigkeiten wie der Sache mit der Katze nicht aufhalten! Eine Freundschaft ist schließlich viel wichtiger!
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag mit lauter Unfug. Anfangs fand ich es auch lustig, aber Jans Ideen wurden immer grausamer. Er schien Freude an der Zerstörung und dem Leid anderer zu haben.
Beispielsweise lockte er die Kühe auf der Weide an den Elektrozaun und band in Windeseile ihre Schwänze an die Stromleitung. Gequält zerrten sie an ihrer Fessel und versuchten zu fliehen. Ihr Klagen ging mir durch und durch. Verzweifelt drosch ich auf die Umzäunung ein und Jan schaute mir belustigt zu. Seine Gesichtszüge waren hart geworden, die kindliche Unschuld völlig verschwunden.
Aus meinen Taschen kramte ich eine geschliffene Glasfeile. Tante Luna hatte sie mir mit den Worten geschenkt, eines Tag würde sie mir Glück bringen. Jetzt half sie mir, die Stromleitung zu durchtrennen. Jan riss beim Anblick der Scherbe entsetzt die Augen auf und wich zurück.
Sein Blick glitt hinüber zum nahen Wald. Ein grausames Grinsen malte sich um seine Mundwinkel. Mit einer lässigen Handbewegung entfachte er ein kleines Feuer zwischen seinen Fingern und pustete die Flammen in den Wind. Ein Feuerball jagte über das Feld auf den Wald zu und setzte das Unterholz in Brand. Knisternd breitete sich das Feuer aus und die Bäume standen in Flammen. Schwarze Rauchfahnen stiegen in den Himmel empor und im Dorf erklangen die Sirenen.
Jan neigte den Kopf und lauschte. Dann lachte er vergnügt auf.
„Jetzt müssen wir noch das Haus der Hexe vernichten und alles, was mich wieder in den Spiegel zwingen kann!“, rief er mit dunkler Stimme und stampfte auf. Aus dem Boden stieg eine Sandsäule empor, die sich um ihre eigene Achse drehte. Blitze zuckten in ihr auf.
Jan kicherte schrill und drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war verzerrt und die Augen strahlten glutrot. Ich war wie gelähmt; was hatte ich da aus dem Spiegel befreit?
„Lass Tante Luna in Ruhe!“, presste ich mühsam hervor.
„Halt die Klappe du Versager!“, ranzte mich Jan an und drehte sich zur Sandsäule um. Beschwörend hob er die Arme. Das Gebilde rotierte heftiger um seine Achse und schleuderte nun Blitze auf das Haus der Tante.
So sah er mich also! Er war kein Freund! Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, stürzte mich auf Jan und riss ihn um. Er war wesentlich stärker als ich, aber in mir waren Verzweiflung und Wut. Jan hatte mich als sein Werkzeug benutzt und ich hatte das mit mir machen lassen.
Seine Fäuste waren eisenhart, aber das war mir egal. Ich musste ihn an seinen Plan hindern; über die Schmerzen konnte ich später noch genug jammern! Wir prügelten uns, während um uns alles in Flammen stand. Schließlich gewann Jan die Oberhand und er begann mich zu würgen. „Ich schalte dich aus!“, keuchte er.
Ich weiß nicht mehr wie es dazu kam, aber plötzlich spürte ich die Glasfeile in meiner Hand und ich stach zu. Es war nur ein Reflex und dieser rettete mir und Tante Luna wohl das Leben.
Star vor Entsetzen richtete sich Jan auf und betrachtete die Glasfeile in seinem Oberarm. Wie entfesselt schrie er. „Was hast du getan? Warum nur? Wir hätten die besten Freunde werden können! Du und ich gegen den Rest der Welt!“
Die Luft begann zu sirren und eine dunkle Wolke raste auf uns zu.
„Neeeeeein! Nicht schon wieder!“, begann Jan zu heulen und seine Konturen verschwammen. Die dunkle Wolke steuerte auf ihn zu und sog ihn ein. In diesem Moment stürzte die Sandsäule in sich zusammen und auch der Waldbrand erlosch.
Tante Luna erkannte ich schon von Weitem. Ihren Strohhut auf dem Kopf festhaltet, rannte sie auf mich zu und umarmte mich. „Ich wusste, du würdest es schaffen!“ flüsterte sie mir ins Ohr.
Neben mir lag der schwarze Spiegel und das Wesen, das sich Jan nannte, war darin wieder eingeschlossen. Die Glasfeile war die kleine fehlende Spiegelecke gewesen, die mir nun das Leben gerettet hatte.
Das ist sehr lange her, aber manchmal, wenn ich die Augen schließe, ist mir wie gestern. Tante Luna ist lange tot und auch ich bin schon eisgrau, aber noch immer wache ich über den schwarzen Spiegel. Seit Jahren liegt er unter meinem Bett und manchmal schrecke ich nachts hoch und höre Jan schluchzen.
Morgen kommt mich mein Lieblingsenkel wieder besuchen und ich möchte ihm endlich die Glasfeile schenken, die ich schon so lange für ihn aufbewahre.
Von KeltenPrinz
Am 01.04.2012 um 21:12 Uhr
ich für meinen Teil vergebe keine Sterne mehr, so ein Pauschalurteil ist nichts wert .. wenn dann schreibe ich konkret was ich denke .. das hilft eher, auch wenn es häufig nicht den richtigen Ton trifft ...
Peter
Von Charlet_Chase
Am 01.04.2012 um 20:58 Uhr
Von KeltenPrinz
Am 29.02.2012 um 19:36 Uhr
Du hast Recht! Punkt!
Ich habe diese Geschichte für einen "Wettbewerb" in einem anderen Forum geschrieben.. es gab Beschränkungen: max. 10000 Zeichen und ein Motto
Es fiel mir verdammt schwer, mich zu beschränken, da ich lieber ausgedehnter schreibe, aber nach 2 Tagen war ich durch...
Das Konstrukt der Glasfeile war beabsichtigt, eine Glasscherbe als Geschenk der Tante? ..und so unpraktisch für die Hosentasche! Auch wäre der Zweck des Ganzen eher erkennbar gewesen.. jedenfalls meiner Meinung nach
Und es ist eher Dein Genre? Echt? smile
Von Crisperton
Am 29.02.2012 um 18:39 Uhr
Schlägt auch noch mehr in mein Genre als "Lasse".
Die Idee ist auch gut und der Klou am Ende mit dem älter werden und dem Verschenken der Glasfeile :)
Wobei Glasfeile als Stück eines Spiegels ein wenig irreführend ist, warum nicht einfach eine schmale lange Scherbe ;)
Hättest du länger schreiben können...das einzige Manko :)
Greetings