Lilith
Als er aus tiefer Bewusstlosigkeit erwachte und die Augen öffnete, blendete ihn die Sonne nicht mehr.
Er schaute umher und sah, dass das kleine Boot an Land getrieben war. Es lag am Strand im Schatten von Palmen. Gleich nebenan sah er eine Anlegestelle, wahrscheinlich für eine Yacht.
Er hatte Durst und sein Gesicht brannte. Wenige Meter vom Boot entfernt floss ein Bach mit klarem Wasser ins Meer.
Er verließ das Boot und legte sich ins Wasser; es war angenehm kühl. Er trank.
Dann ging er zum Boot zurück, zog es an Land.
Er lief wieder zum Bach, zog sein Hemd aus und legte sich noch einmal ins Wasser, trank wieder in kleinen Schlucken. Er hatte einmal gehört, dass man sehr langsam seinen Flüssigkeitshaushalt ausgleichen müsste.
Mit kleinen Schritten ging er den Pfad entlang, der vom Strand in den Wald führte. Wasser quietschte in seinen Turnschuhen. Überall standen Palmen, Bäume mit Früchten, die er nur teilweise kannte, überall blühten Blumen in allen Farben. Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach, Lichtstreifen bewegte sich auf dem Boden. Ein Papagei kreischte.
Neben dem Pfad lief der Bach entlang. Immer wieder machte er eine Pause, legte sich ins Wasser und trank.
Dann verlief der Pfad nach links, und er sah das Haus.
Ein hoher Zaun aus Maschendraht umgab das Grundstück. Das Holztor ließ sich leicht öffnen.
Es war ein Holzhaus auf Pfählen mit großen Fenstern. Es hatte eine Terrasse. Er stieg die Treppe hoch und kam zum Eingang. Die Tür stand offen.
„Hallo!“ rief er laut. Niemand antwortete.
Er ging hinein und kam in ein Wohnzimmer.
Alte Möbel, ein großer Esstisch mit sechs Stühlen, ein Bücherregal voller Bücher, ein Schrank mit vielen Gläsern, in der Ecke ein Sofa, zwei Sessel und ein kleiner runder Tisch. An den Wänden hingen Bilder, Aquarelle von Landschaften.
Armin rief noch einmal „Hallo!“, wieder antwortete niemand.
Gleich neben dem Wohnzimmer war eine kleine Küche, komplett eingerichtet. Ein riesiger Kühlschrank stand in einer Ecke. Er machte die Tür auf und sah, dass er gut gefüllt war. Voller Getränke, Wurst, Käse, Eier, Früchte, Gemüse, im Gefrierfach Fleisch.
Ein Gasherd war auch da. Wahrscheinlich funktionierte hier alles mit Gas.
Neben der Küche war ein Zimmer. Er öffnete die Tür, ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett, daneben zwei Nachttische. Auf jedem Nachttisch lag eine Bibel. Eine Glastür führte in einen Garten.
An der einen Seitenwand stand ein großer Schrank. Er machte die Tür auf und sah Kleidungsstücke für Männer und Frauen.
Alles merkwürdig hier, dachte er, ein voll eingerichtetes Haus, niemand da und alle Türen offen.
Er ging weiter, fand ein anderes Schlafzimmer, fast gleich eingerichtet. Am Ende des Flures war noch ein Zimmer. An der verschlossenen Tür hing ein Zettel, „Bitte nicht eintreten“, stand darauf.
In einem Badezimmer waren WC, eine große Badewanne, eine Dusche, Handtücher, Schränke mit allem Notwendigen für Männer und Frauen.
Als er wieder ins Wohnzimmer kam, sah er einen Brief auf dem Tisch liegen.
Liebe Gäste!
Sie sind hier auf einer kleinen Insel gelandet, wahrscheinlich ist Ihr Rettungsboot hier an die Küste getrieben worden. Ich hoffe, dass Sie alles finden werden, was Sie brauchen.
Bei einem Rundgang werden Sie viele Bäume mit Früchte finden. Alle Früchte kann man essen, sie sind nicht giftig. Gefährliche Tiere gibt es hier nicht.
Im Meer können Sie baden, es gibt keine Haifische.
Sie sollen sich hier erholen können. Fühlen Sie sich wie zu Hause.
Ich werde in wenigen Tagen wieder kommen, mache gerade eine Reise.
G.
P.S.: Bitte betreten Sie das eine Zimmer auf keinen Fall !!!
Müdigkeit überkam ihn, er legte sich auf das Bett im Schlafzimmer und schlief sofort ein.
Gegen Mittag wachte er wieder auf. Er fühlte sich gut, war kaum noch erschöpft.
In der Küche bereitete er sich ein Frühstück:: Kaffee, Spiegeleier und Zwieback.
Im Bad hatte er eine Badehose gesehen, sie passte ihm wie angegossen. Mit einem Handtuch und einer Flasche Mineralwasser lief er den Pfad entlang zum Strand, bunte Vögel saßen auf den Palmen.
Das Meer war ruhig, er ging ins Wasser. Es war lauwarm. Er schwamm, Fische in allen Farben begleiteten ihn. Nach längerer Zeit legte er sich in den Schatten einer Palme, trank immer wieder.
Das Passagierschiff war ziemlich schnell gesunken, er war ins Wasser gesprungen und hatte das kleine Boot gefunden. Wie es zum Unglück kam, wusste er nicht, wusste auch nicht, wie lange er im Meer getrieben war.
Irgendwann hatte ihm mal ein alter Matrose erzählt, dass Wellen sich aufschaukeln können, riesengroß werden, sehr lange Strecken auf dem Meer zurücklegen. Vielleicht hatte eine solche Welle das Schiff zum Kentern gebracht.
Er dachte an den Brief, den er gefunden hatte. Merkwürdig das Verbot, einen Raum zu betreten. Herr G. würde bald zurückkommen, sicherlich besaß er eine große Yacht.
Die Anlegestelle hatte er ja gesehen, man würde ihn dann schon in einen Hafen bringen.
Er schlief ein.
Erst am späten Nachmittag wachte er wieder auf. Er stand auf und ging wieder ans Meer. Ruhig war es.
Er wollte wieder zum Haus zurückgehen, sah dann aber in der Ferne einen dunklen Punkt auf dem Meer. Kam Herr G. schon wieder zurück?
Der Punkt näherte sich nur sehr langsam, das konnte kaum eine Yacht sein, dachte er.
Er setzte sich wieder in den Sand und wartete. Ein kleines Boot trieb auf die Küste zu. Er sprang ins Wasser und schwamm darauf zu.
Als er es erreicht hatte, sah er sie. Sie lag auf dem Boden des Bootes, schien besinnungslos zu sein. Sie hatte lange rote Haare. Toll sieht sie aus, dachte er, wenn die sich erst mal erholt hat...
Er zog das Boot an Land und ging zum Bach, machte das Handtuch nass und legte es dann über das Gesicht des Mädchens. Sie stöhnte, steckte sich einen Zipfel des Handtuchs in den Mund und saugte Wasser heraus. Dann schlug sie die Augen auf. Grün waren sie.
„Wo bin ich? Ich habe Durst“, sagte sie sehr leise.
Er hob sie hoch. Leicht ist sie, dachte er und trug sie zum Bach. Er setzte sie ab, sie legte sich ins Wasser und begann zu trinken.
„Langsam“, sagte er.
Er hob sie wieder hoch und trug sie den Pfad entlang zum Haus. Sie hatte ihre Augen wieder geschlossen.
Er brachte sie ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett. Sie regte sich nicht, atmete aber ruhig.
Dann zündete er die Gaslampen im Haus an.
Er zog ihr die Schuhe aus, ihre Jeans und ihre Bluse. Gesicht und Arme waren von der Sonne verbrannt. Im Bad und fand er sofort eine Creme.
Er setzte sich zu ihr aufs Bett und begann sie vorsichtig einzucremen. Wunderschön war sie. Dann deckte er sie zu und ging auf die Terrasse.
Es war jetzt völlig dunkel geworden, Sterne waren am Himmel. Schon immer wollte er sich mit Himmelserscheinungen befassen, hatte aber nie damit begonnen. Wenn er mehr Ahnung von Sternbildern hätte, würde er vielleicht wissen, wo er sich gerade befand, dachte er.
Ein Glück, dass er diese junge Frau gefunden hatte. Er war jetzt nicht mehr allein. Es war jetzt für ihn nicht mehr wichtig, schnell von der Insel wegzukommen.
Wahrscheinlich war sie auf dem gleichen Schiff gewesen wie er, er konnte sich aber nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben.
Er löschte die Lampen, ging ins Schlafzimmer und schaute sie an. Mondlicht fiel durch die große Glastür. Mitte zwanzig müsste sie sein, dachte er. Er legte sich neben sie, strich ganz vorsichtig über ihr Haar.
Als er wieder aufwachte, war es schon hell. Die Frau lag nicht mehr neben. Er stand auf.
Sie hatte den Tisch für zwei gedeckt, ein großes Frühstück mit Wurst, Käse, Eiern und Früchten vorbereitet. Auch Servietten lagen auf dem Tisch.
Sie hatte sich wohl geduscht und auch sonst zu recht gemacht, trug ein weites langes, weißes Kleid.
„Du solltest dich wohl zuerst einmal waschen und kämmen“, sagte sie. „Auch ein Hemd solltest du anziehen. Es wäre schön, wenn du in Zukunft anständig angezogen zum Essen erscheinen würdest. Wir werden ja wohl eine längere Zeit miteinander auskommen müssen.“
Er sah an sich herunter, sah dass er immer noch die Badehose anhatte. Er konnte zwar nicht ganz verstehen, warum er sich waschen und warum er ein Hemd anziehen sollte. Er war doch gut gebaut. Gefiel ihr die große Tätowierung auf seiner Brust etwa nicht? Diese Badenixe war doch bisher von allen Frauen bewundert worden, die er kennen gelernt hatte.
Sie würden doch gleich an den Strand gehen.
Er ging ins Schlafzimmer und zog sich ein buntes Hemd an, das er gestern im Schrank gesehen hatte.
Sie goss ihm Kaffee ein, und er sah sie an.
„Wo sind wir hier?“ fragte sie.
„Weiß ich nicht.“
„Komischer Gastgeber hier“, meinte sie.
„Hast du den Brief auf dem Tisch gelesen?“, fragte er sie.
„Ja. Alles sehr merkwürdig hier, ich habe Kleidungsstücke genau in meiner Größe gefunden. Ich heiße übrigens Ellen, Ellen Goldberg.“
„Armin Koslowski.“
Beim Essen schaute er sie immer wieder an. Das ist jetzt die richtige Frau für mich. Hoffentlich hat sie Spaß am Sex, dachte er.
„Bist du schon länger auf dieser Insel?“, fragte sie.
„Gestern angekommen, das Schiff, auf dem ich war, ist gesunken.“
„Welchen Namen hatte dein Schiff?“
„Nepomuk.“
„Dann waren wir zusammen auf dem gleichen Schiff“, sagte sie. „Gesehen habe ich dich allerdings nie.“
„Ich war meistens unter Deck!“
Er musste sie immer wieder anschauen, was für ein Glück hatte er da gehabt.
Seine begehrlichen Blicke beunruhigten sie.
Als sie gegessen hatten, räumte sie den Tisch ab, stellte das schmutzige Geschirr in die Küche.
„Wir sollten jetzt baden gehen“, sagte er.
Er zog das Hemd wieder aus, holte ein Handtuch aus dem Badezimmer und ging hinaus.
Als er am Hoftor ankam, holte sie ihn ein. Sie hatte einen Korb in der Hand und trug einen Bikini.
Sie legten sich zusammen unter eine Palme am Strand. Er stand gleich wieder auf und ging ins Wasser. Sie folgte ihm sofort, hatte wohl Angst, alleine zu bleiben.
Das Wasser war ruhig. Sie schwammen eine ganze Weile, sie hielt sich immer neben ihm.
Dann gingen sie wieder an Land.
„Kein Mensch wird nach mir suchen“, sagte er. „Ich war Mechaniker auf dem Schiff.“
„Und deine Eltern?“
„Sind vor drei Jahren bei einem Unfall umgekommen. Geschwister habe ich nicht.“
„Hast du keine Freundin?“
„Im Moment nicht, das kann sich aber schnell ändern.“
Er schaute sie an.
„ Ich wollte in die USA fahren und dort eine Reise
machen, habe ein Philosophiestudium gerade abgeschlossen. Einen Freund habe
ich nicht, von Männern habe ich im Moment die Nase voll.“
Sie dachte an ihren letzten Freund. Was sie wollte oder dachte, hatte ihn nie interessiert. Ins Bett wollte er sie bekommen, weiter nichts. Sie dachte an ihren Vater, der ihre Mutter fast immer als Dienstbotin behandelt hatte, an Männer, die sie kennen gelernt hatte. Fast alle hatten Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt.
„Kann man denn mit Philosophie was anfangen?, fragte er. Damit kann man doch nichts verdienen.
„Ich habe Denken gelernt, Geld brauche ich nicht zu verdienen. Meine Eltern
haben mir etwas hinterlassen.“
„Prima, wenn man leben kann, ohne zu arbeiten.“
„Ich arbeite schon, studiere immer weiter, lerne neue Denkweisen kennen.“
„Wenn du das arbeiten nennst...“
Eine verwöhnte Göre war sie, die hatte sicher von nichts eine Ahnung
und hat noch nie in ihrem Leben etwas gearbeitet, dachte er.
Dieser Typ hatte keine Ahnung von Frauen, dachte sie.
„Ich habe immer gearbeitet, in Fabriken und auf dem Bau. Habe dann einen praktischen Beruf erlernt. Hast du schon mal richtig gearbeitet?“
„Körperlich nicht, aber geistig.“
„Das dachte ich mir gleich, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“
„Was soll denn das heißen?“
Dieser Typ wurde immer unverschämter, das konnte auch nur ihr passieren, mit so einem auf einer Insel zu landen. Hoffentlich komme ich bald wieder hier weg, dachte sie.
„Du lagst da im Boot in feinen Designerklamotten. Schau dich mal an, schau mal deine Hände an, wahrscheinlich hast du noch nie einen Besen in der Hand gehabt, hast noch nie den Boden geschrubbt, kochen kannst du wahrscheinlich auch nicht! Ein bisschen studieren, das Fitnessstudio, die Kosmetikerin, ein berühmter Friseur! Aber gut siehst du aus.“
Sie sah ihn an und sagte nichts. Sie überlegte, wie sie ihn angreifen, verletzen könnte. Sie durfte ihn aber nicht zu sehr reizen. Dieser Typ könnte gefährlich werden.
„Ich habe die Nase voll von euch Emanzen, die alles diskutieren müssen, anstatt was zu tun, sich verzweifelt bemühen, Überlegenheit zu zeigen, die sie nicht haben! Die so tun, als wenn Männer sie nicht interessieren und doch froh wären, wenn ein Mann sie mal richtig dran nehmen würde.“
„ Typisch männliche Vorstellungen hast du von Frauen, aber wahrscheinlich
kannst du nichts dafür. Es kommt immer darauf an, wie man aufgewachsen ist.“
Wut stieg in ihm hoch. Diese Göre dachte wohl, er würde hier nach ihrer Pfeife tanzen, alles würde so ablaufen, wie sie sich das vorstellte. Zum Essen fein anziehen! Er würde es ihr schon besorgen!
„Das musste ja jetzt kommen! Ja, wir hatten keine Hausangestellten, wir hatten keine Zeit für irgendwelchen Firlefanz, wir mussten arbeiten. Ich bin stolz darauf, dass ich so aufgewachsen bin, zumindest habe ich etwas vom Leben gelernt.“
„Mag sein, aber ich kenne mich auch ein bisschen aus. Wenn ich dich so ansehe, weiß ich, was du gerne machen würdest!“
„Was denn?“
„Mich mal richtig dran nehmen, wie du dich ausdrückst! Aber daraus wird nichts! Das kannst du vergessen!“
Sie stand auf, nahm den Korb in die Hand, klemmte ihr Handtuch unter den Arm und ging in großen Schritten schnell davon.
Er schaute ihr nach, attraktiv sah sie aus, lange Beine, gut gepolstert an den richtigen Stellen, ihre Haare reichten bis zu den Hüften. An so was war sicherlich schwer heranzukommen. Aber sie würden ja wahrscheinlich längere Zeit hier allein sein, da würde sich schon was ergeben. Er würde ihr schon zeigen, wer hier das Sagen hatte!
Seine Erfahrungen mit Frauen waren bescheiden, an so eine war er nie herangekommen, aber das würde sich ändern.
Fünf Jahre war er jetzt auf Schiffen unterwegs, immer unter Deck, wo alles nach Öl stank und eine Bullenhitze herrschte.
Selten war er da mal heraus gekommen, hatte oben auf dem Deck nach Luft geschnappt.
Aber jetzt war alles anders.
Er stand auf und ging zum Haus zurück.
Sie saß in einem Sessel am Fenster und las. Zu recht hatte sie sich gemacht, trug ein langes Kleid, war frisch frisiert, sogar Schuhe mit hohen Absätzen hatte sie an.
Wortlos ging er an ihr vorbei ins Schlafzimmer, sah, dass sie ausgezogen war.
Er ging zurück ins Wohnzimmer.
„Du bist also in das andere Schlafzimmer umgezogen“, sagte er.
„Ja, das erschien mir besser so.“
„Wenn du meinst...“
Er holte sich ein Bier und setzte sich zu ihr.
„Was liest du denn da?“
„Auf den Nachttischen liegen Bibeln, ich schaute da mal rein. Ich habe gerade die Geschichte von Adam und Eva gefunden.“
„Also du glaubst tatsächlich an diese Geschichte, glaubst du wirklich, dass
alles so passiert ist, wie es da drin steht?“
Ellen schüttelte den Kopf.
„Unsinn, ich weiß, dass es sich hier um Metaphern handelt, wahrscheinlich eine
uralte Geschichte aus einem andern Kulturkreis. Aber diese Geschichte will
uns etwas mitteilen. In dieser Geschichte geht es nicht um die Rolle der Frau,
die sie nach Vorstellung der Männer zu spielen hat! Ich weiß auch, dass du
solche Vorstellungen hast.“
Er sah sie an, wie sie da in dem Sessel saß, sich immer wieder die langen Haare aus dem Gesicht strich. Erregt war sie. Auch er war erregt, aber nicht über diese Geschichte, schlafen wollte er mit ihr, dafür würde er fast alles tun. Er stand auf.
„Jahrhunderte lang haben wir Frauen uns darauf verlassen, dass die Männer
Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit pflegen, aber das war nie der Fall.
Sie haben die Frauen ausgeschlossen und ihre Schwäche auf die Frau
projiziert.“
Armin lachte: „Davon steht nichts in der Bibel. Er setzte sich wieder hin. Ich
hab mal im Religionsunterricht gehört, dass die Frau dem Mann gehorchen
soll. So war das auch bei uns zu Hause.“
In den Arm nehmen sollte er sie jetzt, aber er wusste, dass sie das nicht zulassen würde.
„Ja, das könnte euch Männern so gefallen. Und es hat euch sehr lange Zeit gefallen, dass die Frau dem Mann gehorchen musste. Die christlichen Kirchen haben dies Märchen verbreitet.
Bei den Juden gibt es noch eine andere Fassung, Adams erste Frau heißt da Lilith. Sie verließ ihn und das Paradies, weil sie sich nicht unterordnen wollte.“
Er sah sie erstaunt an, das hatte er noch nie gehört. Eva war doch die erste Frau!
„In diesem Text hier steht“, sagte sie, „dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, Adam ist nicht der Eigenname des Mannes sondern des Menschen.
Adam ist Mann und Frau. Der Mann aber hat sich den Eigennamen angeeignet!“
„Und wozu brauchte der "Adam" dann Eva?“
Sie schaute in die Bibel.
"Es ist nicht so gut, dass der Mensch alleine ist,“ heißt es dann weiter.
Gott macht Tiere und dann Eva aus einer Rippe von Adam, sie soll ihm eine
Hilfe sein. Und was sagt Adam? Er sagt nicht "Danke für die Hilfe", sondern
"das Fleisch ist von meinem Fleisch, sie soll "Frau" heißen, weil sie vom Mann
genommen wurde!"
„Ja, und...“
„Der Mann erkennt sich erst als Mann, nachdem Gott ihm eine Frau vorgeführt
hat, also die weibliche Seite Adams. Das Wort Rippe bedeutet im Hebräischen
auch Seite! Die Identität des Mannes ist davon abhängig, ob er der Frau eine
eigenständige Position in der Welt gibt oder nicht!“
Was diese Frau nicht alles weiß, dachte er. Was sie da sagte, verstand er nicht.
„Wie kommst du denn darauf? Diese Eva war doch schuldig, dass die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden.“
„Aus welchem Paradies? Der Mensch fand erst jetzt Selbsterkenntnis,
Gotteserkenntnis und moralisches Bewusstsein!“
„Dann findest du es also richtig, dass die beiden den Apfel vom Baum
gegessen haben, obwohl sie doch alles hatten?“
„Von einem Apfel ist nirgendwo die Rede, vom Baum der Erkenntnis wird in der Bibel gesprochen.
Sie hatten nicht alles!“
„Dann sollten wir nach deiner Meinung wohl auch hier in das "verbotene Zimmer" gehen!“
„Warum nicht? Ich habe mich nie an irgendwelche Vorschriften gehalten, Vorschriften müssen begründet werden, ich muss einsehen können, dass sie notwendig sind.“
Dieses Gequatsche interessierte ihn wenig.
„Ich glaube, wir sollten jetzt zusammen etwas essen“, sagte er. Und uns danach einen lustigen Abend machen, dachte er.
Der Typ versteht nichts, das geht alles über seinen Horizont, dachte sie, denkt jetzt ans Essen. Sie sagte:
„Wasch erst mal das Geschirr ab und ziehe dich dann anständig an.“
Er schaute sie erstaunt an, ging dann in die Küche, belegte ein Stück Brot mit Käse und holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Dann ging er in sein Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Er hatte wieder lange geschlafen. Nachdem er sich im Badezimmer gewaschen hatte, spürte er eine seltsame Stille. Er schaute nach Ellen, aber sie war nicht mehr da. Auch auf sein Rufen bekam er keine Antwort.
Auch im Garten war sie nicht. Vielleicht war sie baden gegangen.
Er ging ans Meer, nahm ein Handtuch und eine Flasche Mineralwasser mit. Auch hier keine Spur von ihr. Vielleicht machte sie einen Rundgang, wollte die Gegend kennen lernen.
Er schwamm lange. Dann setzte er sich auf einen Felsen.
Eine beschissene Situation, dachte er. Warum musste diese Frau auch so anmaßend sein.
Er ging zum Haus zurück, wahrscheinlich war sie da.
Er wollte etwas essen. Das Geschirr war abgewaschen worden. Er konnte sich nicht erinnern, ob es schon morgens sauber war.
Er setzte sich auf die Terrasse. War sie beim Baden verunglückt?
Er lief an den Strand zurück. Zumindest ein Handtuch müsste er hier finden. Nichts konnte er entdecken.
Langsam ging er zum Haus zurück.
In ihrem Zimmer war sie auch nicht, die Tür stand offen.
Er ging hinein. Die Klamotten, die sie anhatte, als er sie gefunden hatte, waren nicht mehr da.
Er rannte wieder aus dem Haus zum Strand, auch ihr Rettungsboot war verschwunden. War sie wieder davon gefahren? Das schien ihm unmöglich.
Er durchsuchte den Garten, rief nach ihr.
Als er wieder ins Haus kam, sah er etwas, das ihn erstaunte: Die Tür zum „verbotenen“ Zimmer war halb geöffnet.
„Ellen“, rief er.
Sie antwortete nicht.
Er öffnete die Tür vollständig und betrat das Zimmer. Es war leer.
Er kam wieder zu sich, die Sonne blendete ihn. Er hatte Durst und sein Gesicht brannte. Das kleine Boot schaukelte im Wasser. Er wusste nicht, wie lange er jetzt schon auf dem Meer herum trieb.
Er richtete sich mühsam im Boot auf, erblickte aber kein Land nur Meer. In einiger Entfernung trieb ein anderes Boot.