2009
Anderszeit
Unter das Glasfenster schiebe ich, in den dazu vorgesehen Schlitz, meinen feuchten, zerknitterten gelben Überweisungsschein.
Eine gepflegte, schlanke Frauenhand, mit glitzernden, aufgeklebten, eckigen Fingernägeln langt nach dem Zettel, glättet diesen und lässt ihre Fingerkuppen auf der Tastatur des Computers über die Buchstaben tanzen.
Meine E Card steckt die selbe schlanke Hand mit den eckigen, glitzernden Fingernägeln in die Spalte des Netzkastens. Danach schiebt sie mir die Karte durch den Schlitz unter dem Glasfenster zurück.
Die junge Frau schenkt mir erst jetzt einen Windhauch lang ihren Blick und sagt: „Nehmen sie Platz bis sie aufgerufen werden.“ Ich sage „Danke“ um ihr müdes, eisiges Gesicht zu erwärmen.
Wie in einem Vortragssaal gereiht wurden die vielen Sitzmöglichkeiten angeordnet, sie sind, bis auf wenige Plätze besetzt.
Bevor ich mich entscheide, wo ich Platz nehmen könne, lasse ich meine Blicke über die vielen Wartenden schweifen. Ich und sie alle sind für die nächsten Stunden aus unseren gewohnten Alltag in diese Anderszeit versetzt worden.
Einige sitzen vermummt in ihren Winteranzug steif auf den Sitz, andere blickten stumm, teilnahmslos vor sich hin. Sie wissen nicht, was sie mit ihrer zugeteilten Wartezeit anfangen könnten.
Zwischendurch werden Namen durch den Laussprecher ausgerufen. Zugleich erhebt sich der genannte Patient und verschwindet hinter einer Türe mit der zugeteilten Nummer, von U1 bis U 15.
Kehren diese Leute aus den U Zimmern zurück ergeben sich manch bunte Bilder: Arme, oder Beine umwickelt mit verschiedener Verbänden, Gips, Bandagen, mit weißer Gaze nach chirurgischen Eingriffen umbindet, oder sie hinken auf Krücken gestützt aus dem Behandlungszimmer.
Selten vernehme ich einen Seufzer der Erleichterung, oder höre einen hell klingenden Gruß bevor die Patienten dieses Haus verlassen. Ihr Leben hat sich zu plötzlich verändert.
Endlich entscheide ich mich, neben einer, mit dickem Anorak bekleideten Frau, Platz zu nehmen. „Warten sie schon lange?“ frage ich sie. Ohne mich anzublicken murmelt sie, ja, sehr lange, sie müsse sich entscheiden welche Hilfe sie annehme, Therapie oder Operation. Unentschlossen wartet sie weiter.
Mein Name kommt mir durch den Lautsprecher entgegen. Ich erhebe mich, gehe auf die besagte Türnummer zu: auskleiden, auf der Liege Platz nehmen, Seitenlage, Rückenlage, nicht atmen, auf die andere Seite legen, aufstehen, ankleiden und draußen warten.
Erneut warte ich. Spaziere durch die Reihen. Am steinernen Mosaikboden haben sich Pfützen gebildet, Regenschirme spießen aus den Abstelltonnen. Trotz der guten Klimaanlage riecht es nach kranken Körpern.
Ein Rettungswagen braust mit Blaulicht und lautem Tatü dem Eingang zu.
Eine Trage wird aus dem Auto geschoben, die Sanitäter eilen herbei und eh ich es bemerkt habe, umrunden geschäftige Ärzte und Schwestern die über den Korridor geschobene Bahre, bis sich eine U Türe hinter ihnen schließt.
Für kurz beleben sich die Blicke der sprachlos Wartenden, beobachten neugierig den blitzartigen Vorgang, um gleich darauf in ihren begonnen Rhythmus weiter zu dösen.
Nochmals wird mein Name ausgerufen. Ich eile in den Untersuchungsraum.
„Alles ist hin. Eine Operation wäre die Lösung. Freilich therapeutische Behandlung brächte eine Linderung. Nur, bei diesem Befund weiß ich nicht.“
„Ich habe es geahnt.“ Flüstere ich.
Der eifrige Doktor, mit seinen erfrischenden Worten und seiner Lebensengerie muntern mich auf.
„Vielen Dank, ich werde darüber nachdenken und mich noch einmal melden.“ Sage ich und schließe hinter mir die U Türe.
Ich nehme meinen Mantel von der überfüllten Garderobe, höre plötzlich hinter mir ein schmerzhaftes Weinen und Rufen:
„Nein, Nein, Nein.“ Sie kann sich nicht entscheiden. Die verstörte Frau läuft auf den Ausgang zu, dort schiebt sie ein Mann in das wartende Auto.
Noch sitzt steif und teilnahmslos jene Frau am Stuhl, neben der ich kurz Platz genommen hatte.
Ich verlasse eilig die Ambulanz.