Diogenes
Ich schaue ihn mir genauer an:
Sein Kopf über dem unrasierten Gesicht ist kahl, nur hinten fallen einige Strähnen grau gesprenkelten Haars bis fast auf den Kragen seines speckig glänzenden schwarzen Sakkos, das überhaupt nicht zu der hellen, fadenscheinigen Tweedhose passt. Seine Manschetten sind ausgefranst und am Rande so schwarz wie seine Fingernägel. Sein Alter kann ich nur schwer einschätzen, etwa 50 bis 60 Jahre vermute ich. Gewaschen und in anständiger Kleidung sähe er fast genau so aus wie ich.
Vor ihm steht ein Einkaufswagen aus einem Supermarkt, beladen mit Tüten, Kleidungsstücken und einem Schlafsack. Alles abgedeckt mit einer durchsichtigen Plastikplane. Er hat ein Buch in der Hand, „Diogenes“ kann ich auf dem Einband lesen.
Die Leute laufen vorbei, ab und zu wirft jemand eine Münze in die Blechdose, die vor ihm steht.
Ich bleibe längere Zeit vor ihm stehen, werfe dann auch ein Geldstück ein und frage ihn, ob er mitkommen wolle. Ich sei gerade allein, wir könnten zusammen etwas essen.
Zunächst zögert er, scheint überrascht, kommt dann aber mit. Als wir bei mir zuhause angekommen sind, holt er seinen Wagen aus dem Kofferraum meines Autos und stellt ihn in den Hausflur.
Ob er sich frisch machen könne, fragt er. Ich zeige ihm das Bad. Mir fällt ein, dass irgendwo noch ein Karton mit Kleidung herumstehen müsste. Ich finde ihn in der Garage, stelle ihn vor das Bad und rufe: „Vor der Tür steht ein Karton mit alten Kleidungsstücken, vielleicht können Sie etwas davon gebrauchen.“ Keine Antwort.
Wir sitzen zusammen am Küchentisch und essen, Kartoffeln und Gemüse, dazu habe ich Steaks gebraten und eine Flasche mit spanischem Rotwein aufgemacht. Er will keinen Wein, er trinke keinen Alkohol mehr, schon seit längerer Zeit. Leitungswasser will er, er sei daran gewöhnt, sagt er.
Der Mann hat Hunger, greift kräftig zu, schaut mich öfter an und schüttelt den Kopf. Völlig verändert sieht er aus, hat sich gewaschen und rasiert, meine abgelegten Kleidungsstücke passen ihm.
„Warum haben Sie mich mitgenommen?“, fragt er nach einer Weile.
Ja, warum habe ich ihn zu mir nach Hause eingeladen? Meine Frau ist angeblich bei ihren Eltern. Als ich den Obdachlosen sah, kam mir eine besondere Idee. Ich sage aber:
„Sie hatten ein Buch in der Hand, „ Diogenes“, habe ich auf dem Einband gelesen.“
„Ja, ein Buch über Diogenes, einer der vor vielen Jahren am Tag mit einer Lampe über den Marktplatz von Athen ging und einen Menschen suchte.
Ich sehe ihn verblüfft an
Ich sage ihm, dass ich Heiner Müller heiße und bei einer Großen Bank arbeite. Ich erwähne nicht, dass ich heute meinen Arbeitsplatz verloren habe.
Für ihn scheinen Namen keine Rolle zu spielen.
„ Nennen sie mich, wie Sie wollen, Franz, Uwe, Gerd oder …“
„Dann werde ich Sie Diogenes nennen“, sage ich.
Er nickt erstaunt.
Wir gehen zusammen ins Wohnzimmer. Ich hole eine weitere Flasche Wein und einen Krug mit Leitungswasser für Diogenes, stelle alles auf den Couchtisch.
Diogenes sitzt mir in einem Sessel gegenüber.
Er hält sein Glas mit beiden Händen fest umklammert und dreht es hin und her.
„Ich brauche inzwischen nicht mehr, als ich in dem Einkaufswagen habe. Ich brauche nichts mehr, auch keine soziale Anerkennung. Ich fühle mich freier als vorher. Ich will meine Ruhe haben. Ich glaube, das Leben ist wollen, möchten, sollen. Müssen ist etwas ganz anderes.“
Wo er denn schlafe, frage ich ihn, was er im Winter mache. Es gäbe einen alten Friedhof in Prenzlau, da würde schon lange keiner mehr beerdigt. Jetzt wolle man aber daraus einen Parkplatz machen. Für den Winter habe er einen warmen Schlafsack, warme Kleidung erhalte er vom Roten Kreuz und von der Caritas.
„ Ich habe viel Zeit, über mich selbst nachzudenken, über die Frage, warum und wozu. Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden, vielleicht gibt es sie nicht, ich weiß nur, dass es kein Anrecht auf Wohlstand und Glück gibt.“
Er hatte immer langsamer gesprochen und vor sich hin geschaut.
Zeit habe ich nie gehabt, denke ich. Kleiner Bankangestellter bin ich geworden. Wollte mal eine Familie haben und mit einer Frau zusammen leben. Daraus ist nichts geworden. Seit Jahren leben wir nebeneinander. Sie ist enttäuscht, dass ich nicht zumindest Bankdirektor geworden bin und lässt mich das täglich merken.
Dazu der Stress bei der Arbeit, täglich musste ich Kunden irgendeinen Unsinn andrehen, wurde von meinem Chef immer wieder ermahnt, die Quote einzuhalten. Und jetzt bin ich auch noch arbeitslos. In meinem Alter wird es schwer sein, eine neue Arbeit zu finden. Die Raten für das Haus werde ich nicht mehr bezahlen können.
Er geht zum Bücherregal und schaut sich philosophische Werke an, nimmt Heidegger heraus und liest.
Ob ich das schon gelesen hätte, fragt er mich nach einiger Zeit. Ich sage, ich hätte da einiges stehen, hätte versucht es zu lesen, aber Heidegger könne ich nicht verstehen, da fehle mir die Bildung.
Der schreibe schon kompliziert, meint er. Wenn ich wolle, könne er mir etwas helfen, ihn zu verstehen.
Ich bin überrascht.
Ja, er habe sich längere Zeit mit Heidegger beschäftigt, sagt er, zögert ein wenig und fügt dann hinzu: „Über den habe ich mal etwas geschrieben, das ist allerdings schon lange her.“
Ich hole ihm einen Krug mit frischem Wasser, habe die Tabletten darin aufgelöst. Diogenes sagt bald, dass er ziemlich müde sei. Ich zeige ihm das Gästezimmer.
Bald darauf höre ich ihn schnarchen.
Ich ziehe seine alte Kleidung an, seinen Wagen mit den wenigen Habseligkeiten schiebe ich in den Vorgarten. Die Umhängetasche mit seinen Papieren hänge ich mir um. Dann gehe ich noch einmal ins Haus, zünde eine Kerze an und öffne den Gashahn.
Als ich auf die Straße komme, schaue ich noch ein letztes Mal mein Haus an, nichts wird davon übrig bleiben. Ich begegne niemandem. Es ist schon spät.
In der Nähe des Friedhofes höre ich das Martinshorn.
>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne haben, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)