Es war kurz vor Weihnachten, die Straßen waren verschneit. Eine junge Frau ging die Straße entlang, ein kleines Mädchen an der Hand. Die Frau war adrett gekleidet, hatte ein Netz mit Apfelsinen in der Hand und eine Tasche mit Weihnachtseinkäufen. Das Kind war am Quengeln, es war müde. Das lange Anstehen beim Obstverkäufer war langweilig gewesen, die Mutter hatte neugieriges Umherlaufen verboten. Auch die gehetzte Jagd von einem Geschäft in das nächste war anstrengend und das kleine Mädchen hatte in der Eile ihre Neugier nicht stillen können. Ihre Fragen waren unbeantwortet geblieben, nur ein gereiztes „Gib endlich Ruhe, ich hab andere Sorgen!“ hatte sie oft genug gehört an diesem Vormittag. Die Beinchen taten weh vom schnellen Laufen, doch das Kind beeilte sich wohl noch nicht genug. Ungeduldig zerrte die Mutter es hinter sich her, gereizt, nervös, schimpfend. Dem Mädchen kullerten erste Tränchen über das Gesicht.
Die Passanten blickten das Pärchen an, manche mitleidig ob des weinenden Kindes, manche ärgerlich über die ungeduldige Mutter. Die junge Frau hasste diese Blicke. Sie fühlte sich beurteilt, verurteilt. „Was wisst ihr schon von meinen Problemen und dem Zeitdruck! Schert euch um euren eigenen Dreck!“, dachte sie wütend und fauchte die Kleine an: „Hör endlich auf zu heulen und beeil dich!“. Sie musste noch Koffer packen für den Weihnachtsbesuch bei der Oma. Und die Wohnung auf Hochglanz putzen, das erwartet ihr Mann. Das ging ihr alles auf die Nerven, eigentlich wollte sie einfach nur ihre Ruhe haben.
Endlich hatten beide die Wohnung erreicht. Die junge Frau schob ihr Kind im Flur zur Seite und fauchte es an: „Hör auf zu heulen und zieh die Jacke aus und die Stiefel, bevor du hier alles einsaust!“. Dann trug sie ihre Einkäufe in die Küche. Das kleine Mädchen mühte sich noch mit der Jacke ab, als die Mutter noch gereizter zu ihr trat und grob erst die Jacke und dann die Stiefel auszog. Wütend blickte sie auf das Mädchen, das langsam Angst bekam. Da zerrte ihre Mutter sie auch schon mit schmerzhaftem Griff am Arm in die Stube. Die Schläge prasselten auf das Mädchen herab. „Du bist so ungezogen. So ein bockiges und quengeliges Kind mag ich nicht. Du weißt doch, dass wir morgen zur Oma wollen. Du bist schuld, wenn ich nicht fertig werde!“ Als die Mutter sich ausgetobt hatte, schob sie das Kind zu einem Stuhl. „Setz dich hin und rühr dich nicht! Wenn ich auch nur noch einen Mucks höre, setzt es noch etwas!“ Das Mädchen setzte sich, weinte ganz leise in sich hinein und dachte: „Ich bin Böse. Ich hab immer Schuld.“
Von Jurewa
Am 27.09.2009 um 14:01 Uhr
du beschreibst die vorweihnachtliche Stresssituation sehr eindringlich, fast fühle ich mich, als stände ich daneben. Und doch bleibt bei mir so etwas wie Ratlosigkeit zurück. Warum ist die Mutter so gestresst? Wieso stellt der Vater so hohe Anforderungen? Warum fährt sie zur Großmutter, wenn es keine freudige Erwartungen gibt? Und warum ist sie überhaupt so gestresst, wo liegt ihr Problem?
Ich hätte gerne mehr über diese Frau und ihr Leben erfahren.
Dein Schreibstil ist flüssig und fast fehlerfrei, sehr schön.
Lieben Gruß,
jurewa
zuletzt geändert am 27.09.2009 um 14:07 Uhr.
Von Aabatyron
Am 30.08.2009 um 11:14 Uhr