Er starb.
An jedem Tag, an dem er mordete starb auch ein Teil von ihm. Seine Seele zerfiel zu grauer Sinnlosigkeit. Er suchte sich seine Opfer aus, indem er einfach das Telefonbuch an einer willkürlichen Stelle aufschlug, und mit geschlossenen Augen auf die dünnen Seiten tippte. Es waren nur Daten für ihn, Buchstabenfolgen. Die Menschen, die sich dahinter verbargen interessierten ihn nicht.
Wenn er die Lust verspürte, ein Leben auszulöschen, aber kein Telefonbuch in der Nähe war, stellte er sich einfach an den Eingang eines Geschäftes und zählte die Menschen, die herauskamen. Wenn er bei zehn angekommen war, kannte er sein Opfer.
Nur ein Gesicht.
Er machte keinen Unterschied zwischen jung und alt, auch ob das Opfer arm oder reich war interessierte Ihn nicht. Neunzehn Menschen sind schon durch ihn gestorben. Er kannte seine Opfer nicht. Aber den letzten Mensch, den er töten würde, den kannte er schon lange, sehr gut sogar.
Er selbst würde sein letztes „Kunstwerk“ sein. Er bezeichnete sie immer als seine Kunstwerke. Was das ist, liegt ja bekanntlich immer im Auge des Betrachters.
Er hatte nie etwas für Menschen übrig. Seit seiner Jugend interessierten ihn die Menschen in seiner Umgebung nicht, denn sie waren ihm egal. Er betrachtete sich selbst nicht als einer von Ihnen, und er glaubte, dass dieses Gefühl erwidert wurde.
Er war der stumme Zeuge, unbeachtet von allen anderen. Verloren, vergessen, und ignoriert von der Gesellschaft. Und genau so ignorierte er auch die klagenden und flehenden Schreie seiner Kunstwerke, während er sie erschuf. Er schaltete alles auf stumm.
Als er noch ein Kind war, nicht älter als zehn, wohnte er bei seinem Onkel George.
Sein Onkel besaß einen kleinen Laden, wo er selbstgemachte Wurst und andere Spezialitäten verkaufte. George wollte, dass sein Neffe eines Tages das Geschäft übernehmen sollte, und führte ihn schon früh in den harten Alltag eines Schlachters ein.
Einmal kam er mit einem Schuhkarton zu seinem Neffen. Darin befand sich ein kleines Kaninchen mit seidenem Fell, großen Schlappohren und neugierigen Augen.
Er gab es dem Jungen.
„Hör mir zu Junge“ sagte er. Sein Onkel sprach ihn nie mit ´John´ an, er war immer nur der Junge.
John hörte ihm zu, aber seine Augen waren fest auf das kleine Tier in seinen Händen gerichtet. „Du musst dich gut um ihn kümmern. Gib ihm viel zu essen, damit er schön dick und saftig wird.“ Der Junge nickte nur, drehte sich um und verschwand mit dem Tier in der großen Scheune. Irgendetwas beunruhigte Onkel George. Vielleicht war es der Glanz, den er in den Augen des Jungen gesehen hatte. Wie bei einem Irren, dachte er.
Als die Zeit kam, wo das Kaninchen geschlachtet werden sollte, ging John zu seinem Onkel. „George, ist das Tier jetzt dick genug zum Schlachten“ fragte er. Sein Onkel, der auf der Holzveranda vor seinem Haus saß und Pfeife rauchte, sah ihn über seine Brille hinweg an. Wie oft hat er mich das in den letzten Monaten gefragt? Schätzungsweise zwanzig mal, dachte George. John gab ihm das Kaninchen, ließ es aber keinen Augenblick aus den Augen. Das Tier war wirklich zu stattlicher Größe herangewachsen. „Hast du ihm endlich einen Namen gegeben?“ fragte er.
„Wieso? Es ist doch nur ein Tier“ Die Antwort kam völlig tonlos aus seinem Mund. „Jedes Kind gibt seinem Tier doch einen Namen“ sagte Onkel George. Aber nicht jedes Kind musste es hinterher auch schlachten, fügte er im Gedanken hinzu. John zuckte nur mit den Schultern.
Sie gingen gemeinsam über den Hof zu dem kleinen Gebäude, wo die Tiere geschlachtet wurden. George holte den Schlüsselbund aus seiner Hose (er ließ die Schlüssel niemals irgendwo rumliegen, aus Angst, der Junge könnte auf dumme Gedanken kommen, und sich dabei verletzen) und schloss die schwere Metalltür auf. Ein muffiger Geruch kam ihnen entgegen. George rechnete damit, das sich der Junge erst mal übergeben müsste, aber stattdessen atmete John tief durch die Nase ein und hielt das Tier in seinen Händen.
Der Boden des Raumes war, genau wie die Wände, mit weißen Kacheln gefliest, damit die Reinigung nach der Arbeit leichter fiel. Auf der rechten Seite befand sich ein einfacher Holztisch, der als Schlachtbank für die kleinen Tiere diente. Ein Beil hing an der Wand. Neben dem Tisch befand sich eine kleine Wasserwanne. Zwei Kabel führten von der Wanne zu einem großen, altmodischem Trafo.
George nahm zwei große Schürzen und zwei Paar Handschuhe von dem Haken hinter der Tür. Erst wollte John die Handschuhe nicht anziehen, aber als George sagte, dass er das Tier sonst nicht schlachten dürfe, streifte er sie sich widerwillig über.
George wollte dem Knaben gerade behutsam erklären, wie ein Tier richtig geschlachtet wurde, er wollte ihm erklären, das es durch einen Stromstoß betäubt werden würde, damit es keine Schmerzen spürte...aber es war schon zu spät.
John packte das arme Tier brutal mit der linken Hand, und griff mit der anderen instinktiv nach dem Beil. Mit fünf kurzen, harten Hieben trennte er dem Kaninchen erst den Kopf, und dann sämtliche Gliedmaßen ab. Der Kopf, mit den großen niedlichen Schlappohren kullerte von Tisch und zog dabei ein dünnes Rinnsal scharlachroten Blutes hinter sich her. Der kleine, pelzige Körper zuckte noch und wand sich unter den Fingern des Jungen. George starrte erst die Blutlache, die sich zwischen Johns Fingern ausbreitete, und dann den Jungen selbst an. Er konnte nicht glauben was er gesehen hatte. Vorsichtig, als ob sein Neffe ein wildes Tier wäre, das man besser nicht aufwecken sollte, griff er nach dem Beil und wand es ihm aus seinen Fingern. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, das sich der Junge wehren würde, aber er tat es nicht.
Seit diesem Tag wusste Onkel George, dass der Junge niemals seinen Laden übernehmen würde. Und so kam es dann auch.
Onkel George ist nun schon seit fast zwanzig Jahren tot. John konnte sich noch genau an seinen Gesichtsausdruck erinnern, als er mit der großen Axt aus dem Schuppen an seinem Bett stand. George hatte geschrieen wie am Spieß, als die große Axt heruntersauste und ihm den rechten Arm kurz unterhalb der Schulter abtrennte. Eine Fontäne aus Blut schoss ihm aus dem Stumpf, an dessen Ende einmal eine Hand gewesen war. Er schrie auch noch, als seinem Bein das selbe Schicksal widerfuhr. Erst als John die Axt ein letztes mal schwang gab sein Onkel Ruhe.
John saß auf seinem Bett. Der Gestank der Essensreste, die überall im Zimmer verteilt waren, war unerträglich. Dazu gesellte sich ein süßlicher Geruch von den Dingen, die auf dem Boden lagen.
Die Sonne strahlte durch die Jalousie und die Lichtstrahlen schienen mit ihren leuchtenden Fingern nach ihm zu greifen. Er wich ein Stück zurück.
Das Bett war blutverschmiert, aber es war nicht sein eigenes. Mit ausgestreckten Armen ließ er sich langsam auf die Silhouette sinken, die sich unter der Decke abzeichnete, wie eine böse Vorahnung. Stöhnend und mit geschlossenen Augen bohrte sich mit seinem Kopf immer tiefer in das Ding unter der Decke. Der Blutfleck erblühte wie eine Rose.
Die Augäpfel unter seinen Lidern zitterten, während er mit erstickter Stimme schrie und die Decke wegriss.
Sein Kopf lag auf etwas fleischigem. Sein Haar war völlig verklebt von dem Blut, das aus dem Ding kam. John drehte sich auf den Bauch und sah sich, auf den Ellenbogen abstützend, sein neuestes Kunstwerk an.
Der Torso des jungen Mädchens war aufgeschlitzt. Der Schnitt führte vom Bauchnabel rauf bis zur Höhe des Brustbeins. Dort gabelte er sich wie die Arme eines Ypsilons bis fast zu den Achseln. Die Haut war weit umgeklappt, die Rippen waren entfernt worden und die inneren Organe lagen frei.
Die Arme und Beine des Mädchens waren mit der großen alten Holzsäge (sie hing in seinem alten Wandschrank) abgetrennt worden, und lagen auf dem Boden verteilt.. Der Kopf lag bei den anderen in der Badewanne.
Er hob seinen Kopf und stieß sein Gesicht mitten in den blutigen See, bohrte seinen Schädel immer tiefer in die Eingeweide hinein. Mit weit geöffnetem Mund, streckte er seine Zunge heraus, berührte damit den Magen, die Leber, den Darm. Er schmeckte sie, war völlig abgetaucht, ja fast verloren in seiner Phantasie. Er war nicht mehr in seinem eigenem Körper.
Er betrachtete die grausame Szenerie von außen, als Zuschauer. Jede Kleinigkeit, jedes Detail saugte er in sich auf. Er ging um das Bett herum, wobei er genau darauf achtete, nicht über eines der Beine zu stolpern. Er ging näher ran, hörte sein eigenes Schmatzen, sah sich auf dem Bett liegen. Mit der einen Hand fuhr er über den unvollständigen Körper, während die Andere langsam an die Stelle zwischen seinen Beinen glitt. Er stöhnte.
Die Sonne war fort.
Das Zimmer wurde in gnädige Dunkelheit gehüllt. Er wachte auf. Seine Arme waren um das tote Fleisch in seinem Bett geschlungen und er atmete schwer.
Der Fleck an seiner Hose war schon hart und verkrustet. Er stand auf und ging ins Bad.. Das Blut in seinem Haar begann zu trocknen.
Die Neonröhre flackerte und das grelle Licht ließ das Bad steril, und das viele Blut darin leuchtend rot aussehen.
Die Köpfe in der Wanne, es waren vier, glotzten mit ihren toten Augen wie Idioten. Einigen waren noch die Qualen, die sie erleiden mussten anzusehen.
Er ließ warmes Wasser in Wanne laufen und entkleidete sich. Die Köpfe bewegten sich langsamen, schienen zu schweben, so wie Ihre verlorenen Seelen in die ewige Dunkelheit schwebten. Sie stießen aneinander, und das hohle Geräusch, das sie dabei erzeugten ließ ihn grinsen.
Er setzte sich langsam in die Wanne und wusch sich. Das Wasser verfärbe sich zu einem sanftem rosa. Er schöpfte das Gemisch aus Wasser und Blut von Toten mit den Händen und spritzte es sich ins Gesicht. Vielleicht trank er auch etwas davon.
Draußen war es mittlerweile stockdunkel.
Nur in seinem Bademantel gekleidet ging er zurück in sein Schlafzimmer. Heute Abend würde er seine Kunstsammlung um ein Exponat erweitern. Mit gelassenem Blick griff er sich das Telefonbuch.
Mit dem Daumen der linken Hand rauschte er die Seiten langsam durch. Er zählte.
Eins...
...zwei...
...drei...
Bis Zehn, so wie immer.
Dann schlug er das Buch an der Stelle auf, wo er gestoppt hatte und kreiste mit dem Zeigefinger, wie ein Geier über seiner Beute.
Er ließ ihn mit geschlossenen Augen sinken. Er öffnete sie langsam wieder und las den Namen und die Adresse des Opfers. Er zog sich an.
Langsam ging er aus seinem Apartment in Richtung Fahrstuhl. Er würde keine Waffe benötigen, das wusste er. Der Fahrstuhl ließ nicht lange auf sich warten, und das freute ihn.
Er drückte auf den kleinen Knopf, der sich auf der Konsole, links neben der Tür befand. Der Fahrstuhl setzte sich summend in Bewegung. Nach einer kurzen Fahrt hielt er sanft an. Die Türen öffneten sich leise und er trat heraus. Er ging einen kurzen Gang entlang an dessen Ende sich eine schwere Metalltür befand. Er wusste, sie würde nicht verschlossen sein. Er überprüfte es jeden Tag.
Er trat ins Freie. Die sternenklare Nacht gefiel ihm, genauso wie der sanfte warme Wind, der mit seinen frisch gewaschenen Haaren spielte. Der Stadtlärm war hier nur ein leises Summen.. Man sah den Verkehr, der um diese Uhrzeit nicht mehr so zähflüssig lief wie tagsüber. Er ging weiter bis an den Rand und stellte sich auf den Mauervorsprung. Er fühlte sich frei. Die Arme weit ausgestreckt und die Beine geschlossen. Er wiegte sich in der Brise. Nach vorn, nach hinten. Dann hielt er kurz die Luft an und ließ sich fallen. Er stieß sich nicht ab, er ließ sich einfach fallen,. Er wollte diesen Augenblick genießen.
Er fiel
...und fiel...
...und fiel.
Der Name, den er sich heute ausgesucht hatte, war sein eigener und heute starb er ein letztes Mal.
Von ThomasF
Am 10.04.2018 um 14:38 Uhr
Von schnarrinator
Am 28.06.2014 um 16:24 Uhr
toller Text! Hat mir echt gut gefallen. Eine Mischung aus 'The Texas Chainsaw Massacre', 'Das Schweigen der Lämmer' und 'Halloween 2007'.
Ich bin beeindruckt, so etwas in einem deutschen Forum zu lesen. Tolle Leistung. Allerdings muss ich sagen, lässt mich der Text an sich eher kalt.
Klar ist er ekelig und brutal, aber nicht wirklich gruselig. Hättest du am Anfang aus der Sicht eines Opfers geschrieben wäre dir dies sicher auch noch gelungen.
Aber alles in allem ein toller Text!
LG NS
Von scrittore
Am 24.07.2009 um 18:18 Uhr
Von Aabatyron
Am 03.07.2009 um 22:02 Uhr
Der Anfang lässt vermuten, dass da in der Jugend einiges "schief" gelaufen sein muss.
Von MartinGeldmacher
Am 28.06.2009 um 21:31 Uhr
Ich muss sagen, dass ich mich beim Schreiben nicht wirklich geekelt habe, aber mir war doch schon etwas mulmig zumute ;)
grüße
Martin
Von MangaEngel
Am 28.06.2009 um 20:49 Uhr
Erinnert mich sehr an "American Psycho", dieses stumpfe, emotionslose Töten, nur in diesem Fall vermischt mit "Das Parfüm", einem mörderischem Künstler, der sogar liebevoll-erotische Gefühle für seine Werke empfindet.
Man ist sich durchgehend nicht sicher, soll man sich vor diesem Mann ekeln, ist er wahnsinnig oder das Ergebnis einer misslungenen Erziehung...
Das er sein letztes Opfer sein wird, war irgendwo schon zu Beginn klar, doch im Laufe der Geschichte vergisst man diese "Tatsache" und ist am Ende doch leicht geschockt, dass er selbst sein letztes Kunstwerk wird.
Wirklich großen Respekt!
Und eigentlich frage ich mich gerade nur noch, ob dir selbst wohl manchmal schlecht wurde von dem, was du da geschrieben hast ;)