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Die wahren Träumer - Kapitel 1 - von MangaEngel, 13.07.2009
"Verehrte Frau Streißler, liebe Trauergemeinde. Wir nehmen heute Abschied von Richard Streißler. Wohl kaum ein Chirurg hatte so ein gutes Verhältnis zu seinen Patienten wie er es hatte. Er war nicht nur bei den Operationen für die Kranken da, er kümmerte sich auch davor und danach sehr fürsorglich um sie. Er hat persönliche Krisen niemals in seine Arbeit oder sein Familienleben einfließen lassen und war stehts fröhlich und optimistisch. Er machte jedem Mut, selbst Menschen, mit denen er nichts zu tun hatte. Er war jemand, der selbst bei einer dringenden Operation kurz anhielt, um ein weinendes Kind zu trösten. Er war jemand, der ehrlich über Erfolgsaussichten war und doch Mut machen konnte mit seinem Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. In seiner gesamten Karriere kamen nur drei Menschen ums Leben und selbst bei diesen hatte er alles getan, was möglich war. Wer sich in seine Hände begab, begab sich in die Hände eines Mannes, der sich für einen einsetzte. Der für einen kämpfte. Und das mehr als einmal mit dem Tod persönlich. Das nun er letztendlich diesem erlag, zudem an einer Hitzeerschöpfung, weil er einer alten Dame das Leben trotz hoher Temperaturen retten wollte. Weil er einer Frau, die einen Kreislaufkollaps auf der Straße hatte, helfen wollte. Wie sonst könnte solch ein Mann wie Richard Streißler sterben als bei dem Versuch, Menschen zu retten. Letztendlich verstarb er durch seine selbstlosen Art. Er hinterlässt nur eine Tochter, denn auch seine Frau verstarb vor sechs Jahren auf eine ebenfalls tragische Art. Und trotz diesem schweren Schicksalsschlag hat er niemals eben jene Tochter, noch seine Patienten oder Kollegen jemals im Stich gelassen oder vernachlässigt. Wo manche Menschen schon einen 24-Stunden-Tag haben, hatte er einen 30-Stunden-Tag. Oft musste er gezwungen werden, sich schlafen zu legen, da er seine Hilfe jedem jederzeit zuteil werden wollte. Und selbst dann sprang er mitten in der Nacht aus dem Bett, wenn das Telefon wegen einem Notruf klingelte. Viele Menschen verdanken ihm heute ihr Leben. Und ein paar einen angenehmen, menschenwürdigen Tod. Er selbst hatte leider nicht diese Ehre, doch letztendlich starb er für den guten Zweck und im Wissen, auch jener alten Frau das Leben gerettet zu haben. Und so sagen wir nun 'Lebe wohl, lieber Richard Streißler'. Ich sage mit Absicht 'Lebe wohl', denn du wirst weiterleben in unserer Erinnerung."
Der Trauerredner verstummte und es herrschte kurz andächtiges Schweigen, nur durchdrungen von ein paar Schluchzern. Schließlich ergriff der Priester, der die ganze Zeit ruhig neben dem Sarg gestanden hatte, wieder das Wort. "Sie dürfen sich nun verabschieden. Frau Streißler, würden sie wohl beginnen?" Eine junge Frau Anfang der Zwanziger stand auf und blieb kurz ruhig stehen, kämpfte mit ihrer Fassung, ehe sie langsam zum Sarg vor ihr ging. Es war kein weiter Weg, denn sie hatte in der ersten Reihe gesessen, doch es war wohl ihr schwerster Weg und daher sehr lang. Sie hatte die ganze Zeit über eine weiße Rose in der Hand gehalten und hätte sie nicht lange Handschuhe getragen, sie würde an den Fingern wohl bluten. Sie schaute auf den Sarg aus Eichenholz, in dem ihr Vater lag. Lange stand sie da, fast, als wüsste sie nicht, was sie tun soll, ehe sie doch tief Luft holte und ein "Auf Wiedersehen, Papa" flüsterte. Sie beugte sich vor und legte die Rose auf den Sarg. Dieser wurde dann langsam in das Loch runtergelassen. Sie sah dabei zu, wie der Sarg immer tiefer sank und schließlich stoppte. Nach und nach standen die anderen Gäste auf, um sich ebenfalls zu verabschieden und so ging sie zögernd zur Seite. Man konnte ihr Gesicht durch den Schleier zwar kaum sehen, doch sie weinte nicht. Nicht eine Träne. Viel mehr war sie verwirrt, verzweifelt. Wie konnte es sein, dass erst ihre Mutter und dann ihr Vater starben? Wieso wurden ihr beide Elternteile genommen. Und das, bevor diese irgendetwas erinnerungswürdiges aus ihrem Leben erlebten. Sie hatte nicht geheiratet, keine Kinder. Ihre Mutter hat nichtmal erleben dürfen, wie sie als Zweitbeste ihr Abitur bestanden hatte. Sie waren beide einfach weg. Für immer. Ihre einzigen Stützen im Leben wurden ihr von der Natur genommen. Ihre Mutter ertrank, weil sie als Altenpflegerin einen alten Mann aus einem See retten wollte und ihr Vater erlag einem Hitzeschlag, weil er bei über 40 Grad eine Frau wiederbelebt hatte. Wo war da die Fairness, dass Menschen, die nur grausam sind, locker 80 Jahre alt werden dürfen und ausgerechnet diese beiden gütigen Menschen so jung sterben mussten?
"Anna?" Irritiert sah sie auf, als sie ihren Namen hörte. Ein junger Mann im Anzug stand vor ihr, er hielt noch immer eine Rose in der Hand und sah sie besorgt an. "Alles in Ordnung?" fragte er weiter nach und Anna nickte leicht. "Ich bring dich nach Hause, warte kurz, ok?" sagte er und ging eilig an ihr vorbei, um ebenfalls dem Mann die letzte Ehre zu erweisen. Anna stand immer noch unschlüssig da, völlig in Gedanken versunken. Sie spielte ein wenig an dem schwarzen Jacket herum, es war eigentlich viel zu warm, aber sie trug es aus Höflichkeit. Wie es alle Männer heute tatet, die zur Beerdigung gekommen waren. Der Mann erschien wieder neben ihr und legte einen Arm um ihre Schulter, führte sie mit leichtem Druck vom Grab, vom Friedhof weg. Er hatte schon ein Taxi bestellt und achtete darauf, dass sich Anna nicht den Kopf stieß, ehe er selbst einstieg. Er sagte dem Taxifahrer eine Adresse und sah dann wieder besorgt zu der jungen Frau neben ihm. "Schau mich nicht so an, Stefan. Ich weine nicht, falls du das denkst." sagte sie monoton und starrte auf ihre schwarzen Handschuhe. Stefan schaute noch eine Weile, als wolle er sichergehen, dass sie wirklich nicht weinte, ehe er angeschnallt versuchte, seine Jacke auszuziehen. Der Taxifahrer besah sich die zwei Passagiere im Rückspiegel und schüttelte nur leicht den Kopf. Und so fuhren sie langsam durch die Straßen von Düsseldorf. Schnell ging es fort von den großen Straßen und Kreuzungen und hinein in das Labyrinth aus Gassen und Wohngebieten mit 30er-Zonen. Und dann stoppte das Taxi auch schon vor einem alten Reihenhaus mit Verzierungen an der Aussenwand und einer Zahl unter dem Dachgiebel, die stolz "1868" anzeigte. "Soll ich mit hochkommen?" fragte Stefan nach, doch Anna schloß einfach die Taxitüre und ging die drei Treppenstufen zur Eingangstüre hoch. Das Taxi stand noch kurz da, ehe Stefan seufzend seine eigene Adresse nannte und der pastellgelbe Wagen in einer Seitenstraße verschwand. Anna hatte in der Zwischenzeit die Haustüre geöffnet und das Treppenhaus betreten. Sie stieg diese bis in den dritten Stock hoch, auf dem Weg hörte sie die schwere Haustüre zufallen. An der Wohnungstüre angelangt, schaute sie kurz melanchonisch auf das Türschild, dass immer noch "Richard und Anna Streißler" anzeigte, ehe sie das Papier rausfriemelte und die Tür zur Wohnung öffnete.
Kurz wollte sie "Ich bin zuhause" rufen, doch sie tat es nicht, sich durchaus im Klaren, dass niemand antworten würde. Sie schloß die Wohnungstür und zog sich an Ort und Stelle Jacke und Schuhe aus. Sie lief bis zum Sofa, dass direkt vor der Türe war und ließ sich darauf fallen. Erst jetzt begriff sie, dass diese Räume von nun an nur noch ihre Räume waren. Nicht mehr die von ihr und ihrem Vater, nur noch ihre. Er würde niemals wieder durch diese Türe kommen oder gehen, sein Zimmer würde nie wieder benutzt werden und das Telefon nie wieder mitten in der Nacht klingeln. Es würde wirklich leer, leblos sein. Ein leises Mauzen ließ Anna aufblicken. Lord Manchester, von ihr immer mit Mannie abgekürzt, stand vor dem Sofa und schaute mit schrägem Kopf zu ihr hoch. Anna war klar, dass Mannie durchaus wusste, was los war. Seit knapp einer Woche war Richard nichtmehr daheim gewesen und sie war trübsinnig. Tiere spüren oft sogar viel früher als Menschen, dass etwas schlimmes passiert. Vielleicht wusste der rot getiegerte Kater schon von dem Tod Richards, ehe dieser es auch nur ahnte. Mit zitternder Hand strich Anna dem Kater über den Kopf, welcher direkt zu schnurren begann und mit aufs Sofa sprang. Er legte sich über ihren Kopf, rieb sich an diesem und leckte ihre Haare ab. Und Anna weinte nur noch mehr. Um ihren Vater. Ihren Freund. Ihre einzige Hoffnung in dieser Welt. Und Mannie tröstete sie und ließ sie weinen. Das musste sie auch, heute durfte sie trauern, doch morgen musste sie stark sein. Für die Kinder. Sie hatten größtes Vertrauen in Anna und wenn diese fix und fertig wäre, dann würde das schlecht für die Kinder sein. Anna hatte keine Kinder. Dabei liebte sie diese so sehr. Es war wohl wenig verwunderlich, dass eine junge Frau im Alter von 23 Jahren noch kinderlos war, doch...für Anna sah es in Sachen Kinder...sehr...düster aus.
Nicht, weil sie hässlich war, im Gegenteil. Sie war zwar von Natur aus sehr blass, doch unter ihren rotbraunen Haaren waren zwei leuchtend grüne Augen und ein zarter Frauenmund, sie war schlank und strahlte immer schon eine gewisse Reife aus, wenn man sie sah. Fast, als hätte sie schon mehr Weisheiten gesammelt als mancher Rentner. Sie wirkte auch elegant, zumindest mehr als Stefan, der schlicht ein Freigeist war. Kurze, wirre blonden Haare und hellblaue Augen über einem immer frechem Grinsen. Und dazu ein Körper, der mit schlaksig wohl am Besten beschrieben wäre. Doch seit dem Tod Richards waren beide sich äußerlich ähnlicher als je zuvor. Denn Annas gütiges, ehrliches Lächeln und Stefans unbeschwertes, neckisches Grinsen waren der Trauer zum Opfer gefallen.
"Morgen, Anna" Ein leicht gekünsteltes Lächeln erschien auf den Lippen der jungen Frau, ehe sie mir einem "Morgen, Stefan" antwortete. Der stand an der Eingangstür und lächelte ein wenig traurig, ließ Anna aber ohne ein Wort vorbei. Schnell füllte sich der Kindergarten mit Leben und alle Kinder kamen in ihren Gruppen an. Es gab im Kindergarten vier an der Zahl, Anna und Stefan führten dabei die Regenbogenfischgruppe mit zwanzig Kindern in der Gruppe. Die Beiden waren sich schon fast so nah wie Geschwister und ein perfekt eingespieltes Team, dass sich schon seit der Grundschule kannte. Niemand kannte Anna besser als Stefan und niemand kannte Stefan besser als Anna. Doch heute wusste Stefan ausnahmsweise nicht, was er sagen oder tun sollte. Denn er selbst hatte selbst seine Großeltern noch, nie war jemand wichtiges gestorben. Er hatte schlicht keine Ahnung von diesem Schmerz. Von der Einsamkeit. "Nein, Stefanie! Mein Turm!" schrie der kleine Markus, als Stefanie mit den Bauklötzen des Turms ein eigenes Bauprojekt starten wollte. Nicht lange und der Turm stürzte ein und die Kinder schlugen sich und wollten mit den Holzblöcken nacheinander werfen. "Stefanie! Markus! Hört sofort auf oder ihr habt eine Stunde Spielwiesenverbot!" sagte Stefan streng und die Kinder schmollten und motzten, doch Stefan wie auch Anna haben schon seit einem Jahr ihre Ausbildung mit Bravour geschafft und wissen genau, wie sie die Kinder zurück zu friedlichem Spielen kriegen können. Keinem der Kinder fiel auf, dass Annas Lächeln nicht so fröhlich war wie sonst, manchmal sogar verschwand. Vielleicht ahnten sie auch nur, dass es besser unangesprochen bleiben sollte. Die Einzigen, die die Sache ansprachen, waren die sechs anderen Gruppenleiter. Sie wussten von der Beerdigung und bekundeten nochmal ihr Beileid. Die Regenbogenfischkinder waren gestern schließlich zwangsweise bei ihnen gewesen. Aber ansonsten blieb es ein ruhiger Tag für die junge Frau. Und auch die folgenden Tage blieben ruhig. Langsam verblasste das Bild des Sarges in ihrem Kopf. Nur das einsame Gefühl beim Betreten der ehemals gemeinsamen Wohnung wich ihr nicht von der Seite.
Das es dann doch nach 18 Tagen einen Vorfall geben würde, hatte keiner geahnt. Anna hatte sich zugetraut, das Zimmer des Vaters betreten zu können. Doch sie war noch nicht soweit. Alles kochte hoch, sie hyperventilierte, ehe sie zusammenbrach. Der Notarzt kam dank der aufmerksamen Nachbarn rechtzeitig. Dieser wollte sie auf ihre Gesundheit ansprechen, doch sie zeigte nur ein Medikamentendöschen, dass in ihrer Tasche war und er verstand es mit einem mitleidigem Gesicht. Er warnte sie, vorsichtiger mit sich selbst zu sein, ehe er und sein Partner gingen. Anna saß weiterhin nur auf dem Sofa, immer noch mit offenem Hemd, das für eine bessere Atmung sorgen sollte. Sie atmete einmal tief durch, ehe sie jenes Döschen öffnete und eine der Pillen schluckte. Sie saß einen Moment zögernd da, ehe sie das Döschen schloß und es wieder in die Tasche steckte. Wie oft hatte sie den Gesichtsausdruck schon gesehen, den der Notarzt gehabt hatte. Zum Glück weiß so gut wie niemand von der Ursache. Selbst am Medikament würde keiner dahinter kommen, was nicht stimmte. Prostacyclin verabreicht man bei sämtlichen Arten von Bluthochdruck sowie dem Raynaud-Syndrom. Bluthochdruck ist herrlich vage. Jeder zweite Fettleibige hat es, mehrere Menschen mit Diabetes, es ist wohl mit eines der normalsten Probleme, die ein Mensch heutzutage haben kann. Sie lachte leise, ehe sie leicht den Kopf schüttelte. Sie hob kurz den Arm und besah sich ihren Ellbogen. Ein paar dunkelblaue Linien waren leicht sichtbar, Blutbahnen, Venen. Sie rieb kurz über diese, ehe sie sich zwang, aufzustehen und zu duschen. Diesen Gedanken zu verfallen war falsch. Wie oft hatte ihr Vater es gesagt? Mehr als man zählen kann... 'Lebe für die Zukunft.' LEBE.
Stefan erfuhr nichts von dem Vorfall, nur, dass Anna mit einem Mal wieder sehr blass, sehr kraftlos wirkte. Doch seinen Nachfragen wich sie nur aus. Und so konnte er nur daneben stehen und hoffen, dass sich seine beste Freundin und Kollegin wieder erholt. Irgendwann. Im Idealfall schon sehr bald, doch Stefan glaubte schon nicht mehr, dass dies passieren würde. Auch Anna war mehr als realistisch. Das musste sie sowieso sein. Und so war ihr auch im Klaren, dass der Tod ihres Vaters der grausamste Einschnitt in ihr Leben sein würde. Diese Wunde würde Jahre brauchen zum Verheilen. Viele Jahre sind eine lange Zeit. Und nicht jeder hat ewig Zeit. "Frau Streißler, Frau Streißler! Darf ich mit Tina das Puppenhaus benutzen?" Claudia sah Anna mit großen Augen bittend an und Anna lächelte bejahend und sah den jauchzenden Kindern zu, wie diese begeistert begannen, die Badewanne in die Küche zu stellen. Sie seufzte leise, ehe sie wieder auf den Tisch vor sich sah, wo sie drei anderen Kindern beim Malen beobachtete. Raus konnte man derzeit leider nicht, die letzten drei Tage hatte es nur noch geregnet, also mussten die Kinder drinnen bleiben. Nicht, dass die Kindergärtner es so anordneten, es war die Befürchtung der Eltern, die Kinder könnten sich erkälten. Und so hieß es den ganzen Tag über volles Programm für Kinder, die ihre Tobereien nun im Flur auslebten und dort mit kleinen Rollern herumfuhren. Kinder waren noch so ahnungslos von der Welt, so unbeschwert fröhlich und glücklich, dass sie in kurzen Momenten sogar Anna damit anstecken konnten. Diese kurzen Momente taten ihr sehr gut, auch, wenn sie schnell wieder dem leeren Gefühl wichen. Aber sie würde es schaffen. Die Trauerzeit durchstehen. Mit den Kindern. Mit Stefan. Und mit Prostacyclin.



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