Anmerkung des Autors: Die Grundidee, mit der diese kurze Geschichte entstanden ist, basiert auf einer Hindu-Parabel. Die Story wurde sehr stark verändert, so das nur noch die Aussage als Vergleich herhalten kann. Es ist allerdings nicht so, dass ich in irgendeiner Form mich für oder gegen diesen Glauben ausspreche oder Vergleiche durch veränderte Personen mit anderen Religionen ziehen will.
Jason Marsh war ein glückliches Kind, auch wenn die Umstände dem Betrachter ein anderes Bild zeigten. Er war der siebte Spross der arbeitslosen Jody Marsh und sein Vater war nicht der Vater der anderen sechs Kinder. Aber das kümmerte ihn und seine Geschwister kaum, denn „Vater“ gab es bei ihnen zuhause nur als Wort, nicht als etwas Greifbares. Jody gab sich alle Mühe, arbeitslos zu bleiben und wenn das bedeuten musste, sich pausenlos zu bekiffen und betrinken, nun gut, dann eben auf diese Art. So gestaltete sich die Jugend Jasons aus einer Mischung Verzweiflung, Armut und Spott, den er als einziger seiner Familie ohne Anzeichen von Neid oder Wut wegstecken konnte. Er ging regelmäßig zur Schule, auch wenn ihm schon bald klar wurde, dass höhere Ziele nur mit Geld zu erreichen waren, viel Geld. Also, nichts für ihn. Aber er war nicht doof und bekam ein zumindest halbwegs brauchbares Zeugnis. Damit konnte er hier in Chicago doch auf einen Job an irgendeinem Fließband hoffen.
Eines Tages, irgendwann zwischen dem Abschlusszeugnis und dem Vorhaben, sich bei Rannings Inc, dem Spezialisten für Getriebelösungen vorzustellen, kam Jason nach Hause und wunderte sich nicht, dass ihn seine Mutter deswegen (er war natürlich wieder viel zu lange unterwegs gewesen) maßregelte. Er hatte schon vor längerer Zeit aufgegeben, ihr zu erklären, er sei schon volljährig. Vielleicht kamen ihre Wutausbrüche daher, dass Jody nach ihm keine Kinder mehr zur Welt brachte. Auf jeden Fall bestärkte ihn jeder weitere Ausbruch täglich in dem Entschluss, wegzuziehen. Während der Standpauke warf sie ihm ein kleines Paket hinterher und als er dieses aufhob, wunderte er sich über das Gewicht. Es war klein und ziemlich schwer, aber noch interessanter war, das kein Absender oder Adressat, geschweige den Briefmarken darauf waren. Nachdem sich seine Mutter endlich beruhigt hatte, zündete sie sich einen Joint an und meinte, das Päckchen vor der Tür gefunden zu haben.
„Du kannst das nicht behalten, Mum. Es gehört bestimmt einem der Nachbarn und wurde nur falsch abgegeben.“
„Wenn du meinst, dann frag doch die Scheißer. Wetten, das, egal wen du fragst, der dir das Ding sofort aus der Hand reißt?“ Damit hatte sie wohl nicht unrecht, aber was sollte er damit nun machen?
„Mach es doch selber auf.“ Sie hustete und deutete mit ihrem Joint als Aufforderung auf und ab. „Ich bin mir sicher, es ist für dich.“
„Woher willst du das wissen?“ Er drehte das Paket noch mal nach allen Seiten. „Es steht nichts darauf und man darf keine fremden Pakete öffnen.“ Sie lachte ihn aus. Natürlich lachte sie ihn aus, er kam sich ja auch etwas einfältig bei seinem Entschluss, den wahren Empfänger des Päckchens zu finden, vor, aber er hatte das Gefühl, das es so richtig war. Er ging mit dem Paket in sein Zimmer, stellte es auf den Schreibtisch und fing an, nachzudenken.
Der erste Weg führte ihn zum Postamt. Da konnte man ihm nicht weiterhelfen, außer man würde das Paket öffnen, aber das wollte er nicht (vielleicht war ja etwas darin, das niemanden etwas anging bis auf den Empfänger). Also fing er damit an, sich vorsichtig durch die Nachbarschaft zu fragen, ob jemand etwas vermisse. Die meisten vermissten Geld oder billigen Schmuck oder anderen Nippes, meistens erst dann, wenn sie gefragt wurden. Einige vermissten das Gefühl, einem Bengel mit unverschämten Fragen mal die Fresse polieren zu dürfen. (Einer, Gary Moore, lies seinen Gefühlen freien Lauf) So blieb Jason nur noch der Weg zum Fundbüro. Die ältere Dame, Rose hieß sie, hinter dem dicken Ab- und Ausgabetresen wunderte sich über den Jungen. Er solle doch einfach mal reinschauen. Aber er versicherte ihr, das es falsch sei, und letztendlich konnte er hier das Paket loswerden. Rose teilte ihm mit, nachdem er seinen Namen und Anschrift auf einen Zettel hinterlassen hatte, sie wäre sich ziemlich sicher, das sich niemand für das Päckchen finden würde.
Es vergingen die Jahre und es waren keine guten für Jason. Er zog in sein eigenes Appartement, 20 qm, feucht und laut. Einige Zeit später verlor sich der Kontakt zu seiner Familie. Jeder ging seine eigenen Wege. Irgendwann mal hörte er von einem Feuer in seiner alten Wohngegend und als er nachfragte, stellte sich heraus, das seine Mutter mit einem Joint im Bett verbrannt war. Er war als Einziger bei dem Armenbegräbnis und Einsamkeit zog sich auch anschließend wie ein roter Faden durch sein Leben. Er verlor seinen ersten Job, bekam keinen weiteren und verwahrloste zusehends. Das führte auch dazu, dass sich keine Frau für ihn interessierte. Freunde hatte er keine und mit 35 brach er sich beide Beine beim Heruntertorkeln im Treppenhaus. Er konnte sich keine vernünftige Behandlung leisten und die Knochen heilten schlecht. Ihm blieb eine Gehbehinderung und vervollkommnten das Bild einer gescheiterten Persönlichkeit.
Als er sich eines Tages mit einer Papiertüte vom Store die Treppen raufschleppte, staunte er nicht schlecht, das sich das Päckchen, welches er beinahe vergessen hatte (manchmal träumte er von einem Diamanten, der in dem Paket steckte), vor seiner Haustür fand. Darauf war ein Brief vom Fundbüro geklebt worden und der besagte, das sich niemand auf das Päckchen gemeldet hatte und er vom Gesetz her nun rechtmäßiger Eigentümer desselben sei.
„Das ist ja seltsam“ murmelte er, als er sich auf das Bett setzte und das Paket wieder in den Händen drehte. Er war versucht, es zu öffnen (der Diamant kam ihm wieder in den Sinn), aber was auch immer darin war, es war nicht für ihn bestimmt. „Warum verfolgst du mich“ fragte er das Ding und er hatte das Gefühl, es wäre schwerer als früher. Aber das konnte nicht sein, es war unversehrt. Niemand konnte etwas dazu gepackt haben. Er tat es damit ab, das seine Kraft zunehmend nachließ. „Was jetzt“ fragte er sein Spiegelbild in der zerbrochenen Fensterscheibe. Er beschloss, das Paket zu verstauen. Der Tag würde kommen, an dem sich der wahre Besitzer finden würde. Also versteckte er es vor etwaigen Einbrechern, aber wohl besser vor sich selbst, unter einem Bodenbrett und versuchte gleich darauf, mit Hilfe von zwei Ein-Liter-Flaschen billigem Whiskey, dasselbe zu vergessen.
Die Zeit brachte für Jason aber keine Erleichterung in seinem Schicksal. Die Schmerzen in den Beinen und im Becken deuteten auf eine zunehmende Hüftgelenkversteifung hin und immer mühsamer kam er in das Appartement. Auch der Alkohol tat sein Übriges und er begann zunehmend, Essen zu horten und sich nur von geringen Mengen zu ernähren, in der Angst, eines Tages das Zimmer nicht mehr verlassen zu können. Im Laufe der Jahre kamen auch neue Bewohner dazu: Ratten und Mäuse. Aber die jagten wenigstens die Kakerlaken. Es kam, wie es kommen musste, und Jason wurde eines Tages überfallen. Die Kids waren wohl eher auf planlose Zerstörung aus und Jason konnte nur dabei zusehen, als „EINER“, nicht zwei oder drei, ihn festhielt und die anderen seine Bleibe verwüsteten.
Der Tag kam, an dem er wusste, als er unter einer vergilbten Zudecke erwachte, das es sein letzter sein würde. Er starrte zu Decke und dachte über sein Leben nach.
„Wieso war mir so ein Leben vorbestimmt? Was habe ich getan, um so zu enden? Ist es eine Prüfung? Ich kann nicht mehr.“ Er drehte sich zur Seite und starrte auf das Bodenbrett. Das Päckchen war noch immer darunter und zeit seiner Jugend verfolgte ihn das Ding. Sollte er jetzt versuchen wollen, es zu öffnen, würde ihm die Kraft fehlen. Er kann nicht mal mehr hoch aus seinem Bett. „Aber egal, was darin ist, ich habe es nicht geöffnet. Es war nicht für mich bestimmt.“
Da öffnete sich die Tür. Er sah aus den Augenwinkeln, wie jemand das Zimmer betrat und rechnete mit weiteren Einbrechern. Aber die Person, die reinkam, blieb stehen und sagte „Jason, dreh dich zu mir.“ Es war eine freundliche Stimme. Lieblich wie ein Gesang und voller Vertrautheit. Jason brachte seine letzten Kräfte auf und drehte sich auf den Rücken. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, hinter oder auf dem Rücken des Mannes so etwas wie Flügel gesehen zu haben. Da wurde ihm klar, das diese Person keine menschliche war. Er lächelte. Der Schein um den Engel wurde heller.
„Jason, steh auf.“
„Das kann ich nicht, Herr Engel.“
„Doch, das kannst du.“ Eine sanftmütige Geste reichte, um Jason die Last der Jahre abwerfen zu lassen. Er erhob sich und lies den Engel nicht mehr aus den Augen, als er seit Tagen wieder stand. Der Engel neigte den Kopf zur Seite.
„Jason, du kommst mit mir.“
„Ich habe noch nie so etwas Schönes wie dich gesehen. Dein Anblick ist eine Freude für mich.“
„Ja, ich weiß. Dein Leben ist nun vorbei, aber du hast in deiner Zeit nichts Falsches getan. Deshalb darf ich dich abholen.“
Jason war noch nie in seinem Leben so glücklich und zufrieden gewesen.
„Ich habe nur eine Frage.“
Wie als Antwort, öffnete sich das Bodenbrett und das Paket schwebte zu den Beiden hoch.
Der Engel nahm Jason zur Hand, das Paket in die andere und ging mit ihm zur Tür hinaus. Draußen saß ein Schatten, der rings um sich selbst die Luft zum Erstarren brachte. Jason stockte der Atem, ein Schwall unendlicher Ängste strömte von der Gestalt auf ihn ein. Er erzitterte am ganzen Leib, als der Engel zum Schatten sprach: „Er gehört nicht dir. Er hat ein rechtes Leben geführt. Das hier,“ er warf das Paket in die Arme der Gestalt „ist deins. Nimm es und geh. Gib ihn frei. Ich befehle es dir.“
Jason sah für einen Moment das Antlitz des Schattens und erstarrte. Dieser Anblick bedeutet Tod, aber ihm konnte der Seelensammler nichts mehr anhaben. Der Schatten knurrte sehr tief, nahm das Paket und verblasste, als er aufstand und seines Weges zog.
Der Engel machte eine ausholende Bewegung und vor dem alten Mann erschien ein Tor aus warmem Licht. Jason schaute zu ihm auf und stellte seine Frage:
„Was war in dem Paket?“
Der Engel formte ein Wort mit seinen Lippen und obwohl er es nur andeutete, verstand Jason.
„Reichtum.“
Christian Ertl
christianertl@gmx.de