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Prosa => Phantasy & SciFi


Herzblut - Kap. 12 - von Paglim, 06.05.2009
Ja, es geht tatsächlich noch weiter bei mir! Hoffe mal, es ist überhaupt noch jemand da, der das liest...


10 Minerva, 1084 Laurane; nachts

Er schwebte im leeren Raum. Vor ihm, hinter ihm, um ihn herum die gigantische Gestalt, das gewaltige Abbild seines Vaters. Er konnte die Augen nicht heben, war er doch nur ein Staubkorn, wenn nicht gar geringer, gegenüber dieser Monstrosität, dennoch wusste er über jeden Zweifel erhaben, dass es sein Vater und niemand anderes war. Er wollte fort, doch die Aura dieser Gestalt hielt ihn fest, so dass er in immer gleichen Kreisen um sie herum schwebte.
Es war die alte, immer gleiche Angst, die Khalid befiel.
„Lass mich“, flüsterte er, doch seine Stimme war zu schwach, um gehört zu werden. „Lass mich in Frieden. Die Zeiten haben sich geändert, Vater. Ich bin kein kleiner Junge mehr.“
Doch er glaubte selbst nicht daran. Die Riesenhaftigkeit des Abbilds ließen jedes Vertrauen in seine Stärke verschwinden.
Plötzlich erklang Donnergrollen, wie von einem heraufziehenden Gewitter, das immer lauter wurde. Dann erst registrierte Khalid, dass es sein Vater war, der lachte. Er lachte und lachte, laut und schallend und die Häme troff aus seinem Lachen wie Blut aus einer Wunde. Es ließ Khalids Ohren schmerzen, seinen Kopf dröhnen, drang in sein Innerstes und wollte ihn zerreißen.
Dann war es fort. Alles war fort. Khalid befand sich im absoluten, letzten Nichts. Nicht einmal Finsternis war um ihn, selbst sie war fort. Das Nicht-Sein war so präsent, dass es fast spürbar, ja sogar zu schmecken war. Er wusste, er war allein. Und er wusste, dass er über Äonen allein bleiben würde, hier in diesem finalen Nicht-Sein.
Was das nun Nichts?
Oder war es Alles?
Machte das überhaupt einen Unterschied?
In seinen Gedanken hörte er von ferne noch das Lachen seines Vaters, das langsam abklang.

Schwer atmend setzte sich Khalid auf, eine Hand an die schmerzende Schläfe gepresst. Wie sehr beneidete er Menschen, die sich nach dem Aufwachen nicht an ihre Träume erinnern konnten. Ihm stand jedes Einzelne Bild, jede Emotion noch deutlich vor Augen.
Seltsam, welche Ruhe er in dieser vollständigen Einsamkeit empfunden hatte…
Khalid schüttelte den Kopf. Nicht darüber nachdenken, es ist Unsinn, es sind nur dumme Träume, mit denen mein Geist sich selbst martert.
Er sah sich um. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, würde dies aber vermutlich bald in Erwägung ziehen. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken und so erhob sich der Halbraggar, um die schmerzenden Muskeln zu strecken. Hilda und Ludger schliefen noch selig und Khalid nutzte den Moment, um den friedlichen Ausdruck im Gesicht seines Bruders zu betrachten. Es wirkte fast, als würde er lächeln und dieser Anblick tat gut.
Weißdorn hob verschlafen den Kopf, als Khalid an ihm vorbeiging und ließ ihn dann mangels Interesse wieder auf die Pfoten fallen, während der früh Aufgestandene ein Stück weit abseits ging, um ein Geschäft zu erledigen.
Der vergangene Tag war fürchterlich gewesen. In fast vollständiger Schweigsamkeit waren sie vorangeschritten. Einige Male hatte Khalid noch versucht, seinen Bruder anzusprechen, hatte es aber nach etlichen einsilbigen oder völlig fehlenden Antworten gelassen. Hilda gehörte ohnehin nicht zu der gesprächigsten Sorte Mensch und so wurde es ein grimmiger, stiller Marsch, während die Anspannung sie umgab wie eine Gewitterwolke, die kurz davor stand, sich zu entladen.
Seine beiden Begleiter hatten sich dabei immer wieder solch bitterböse Blicke zugeworfen, dass Khalid nicht sicher war, ob es ein Fluch oder ein Segen sei, dass die Beiden sich nicht untereinander verständigen konnten, ohne ihn um Hilfe zu bitten.
Schwer seufzend trat der Halbraggar den Rückweg zu ihrem Lager an. Er hatte gedacht, die Reise mit Hilda wäre anstrengend gewesen, aber dies übertraf Alles. Er fühlte sich fast schuldig, dass er eine solche Enttäuschung empfand. Natürlich hatte Ludger viel Schmerzvolles durchgemacht, aber daran trugen sie keine Schuld. Im Gegenteil, sie waren alle gemeinsam auf dem Weg, den Schuldigen in dieser Sache zu stellen und dabei hatten sie alle ihr eigenes Motiv. Davon abgesehen war dies einfach nicht der Bruder, den er nun schon so viele Jahre kannte. Nicht einmal zu den Zeiten vor ihrem Ausbruch von Zuhause war er so gewesen. In sich gekehrt, ja, das schon, aber immer hatte er sich ihm, Khalid, anvertraut.
Dieser Mensch war nicht sein Bruder und sein abweisendes Verhalten schmerzte mehr als eine körperliche Wunde.
Sie wussten nicht recht, wo sie waren, aber das Tyr leitete sie und Khalid wusste, dass der Weg richtig war. Die Gegend war recht einsames Acker- und Weideland, das Getreide stand zu dieser Jahreszeit schon so dicht und golden, als wünsche es sich nichts sehnlicher als abgeerntet zu werden. Die vergangene Nacht hatten sie in weichem Gras im Schutz einer kleinen Anhöhe mitten im Nirgendwo verbracht. Weit und breit waren keine Ansiedlungen oder Straßen zu sehen. Weder Daved noch das Tyr schienen sich Gedanken über die Art des Weges zu machen und so waren sie teilweise durch dichtes Unterholz oder auch quer über eben jene erwähnten Felder geschritten.
Zurückgekehrt fand der Halbraggar Hilda sich gerade aufrichtend mit Erstaunen im Blick.
„Du bist früh auf den Beinen“, murmelte sie, diese Tatsache augenscheinlich missbilligend. Khalid lächelte stumm in sich hinein. Die Raggar war ein Kind des Waldes und Zeiten zum Aufstehen gewohnt, die selbst dem ehemaligen Novizen zu früh waren. Dass er nun schon vor ihr wach war, verletzte wohl ihren Stolz. Dieser kleine Sieg tat ihm unangemessen wohl.
„Nun, ich denke, wir haben es eilig oder etwa nicht?“, gab er zurück, um noch ein wenig den Finger in die Wunde zu bohren. Doch Hilda hatte sich längst wieder gefangen und der übliche Hochmut lag in ihrem Blick.
Sie sagte nichts auf Khalids Seitenhieb, wie um zu zeigen, dass sie über derlei Späße stand, sondern warf stattdessen einen Blick auf den noch schlafenden Ludger und bemerkte: „Wir sollten uns über ihn unterhalten.“
Verstimmt verzog der Halbraggar die Mundwinkel. Zum einen mochte er nicht ausgerechnet mit Hilda über seinen Bruder reden, zum anderen missfiel ihm ihr Ton.
„Er hat einen Namen“, antwortete Khalid.
„Das weiß ich auch“, gab die Raggar zurück. Ob sie nicht verstanden hatte, worauf ihr Gegenüber hinaus wollte oder dies schlicht ignorierte, war nicht zu erkennen. „Du solltest dir überlegen, was wir mit ihm machen.“
„Mit ihm machen?“ Khalid war verwirrt. „Wovon sprichst du?“
„Nun, es ist doch offensichtlich, dass er uns nur aufhält. Er scheint in seinem Leiden ja kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Außerdem möchte er offensichtlich nicht mit uns kommen. Wir sollten ihn irgendwo sicher unterbringen und bei unserer Rückkehr kannst du ihn wieder mitnehmen.“
Khalid ließ ein wütendes Schnauben vernehmen.
„Er begleitet uns“, sagte er in einem Ton, der eigentlich keinen Widerspruch dulden sollte. Nur dachte Hilda nicht daran, sich dem zu unterwerfen.
„Mit welcher Begründung?“, hakte sie nach.
„Er ist mein Bruder“, antwortete der Halbraggar und machte klar, für wie offensichtlich er diesen Grund hielt. „Ich bin lange von ihm getrennt gewesen und für ihn war es genauso schwer wie für mich. Du kannst das nicht verstehen. Ludger und ich sind wie zwei Teile eines Ganzen. Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, uns immer gegenseitig beschützt. Wir vertrauen uns mehr als…“ Er stockte. „…alles andere“, schloss er leise – nachdenklich.
„Ist das so?“, fragte Hilda, doch in ihrer Stimme war keine Spur von Hohn oder Schadenfreude zu finden. Forschend blickte sie Khalid an, der ihrem Blick nicht lange standhalten konnte. „Es war einmal so, nicht wahr?“, fuhr sie fort. „Und du denkst, dass du ihm noch immer so vertraust wie früher, aber du bist dir nicht sicher, ob das bei ihm auch der Fall ist.“
Schockiert setzte sich Khalid ins Gras. Was ihn entsetzte war nicht das, was Hilda sagte, nicht einmal ihre Ernsthaftigkeit, sondern vielmehr, dass sie eine Wahrheit aussprach, die er sich bisher verleugnet hatte. Er antwortete nicht und so fuhr die Raggar nach kurzer Zeit fort:
„Du sagst, ich verstehe dich nicht.“ Ihr Ton war tatsächlich eine Spur mitfühlend. „Und vermutlich kann ich das auch nicht, weil ich nie Geschwister besaß. Aber Weißdorn und ich haben ein Band, das dem euren ähnlich ist und jeder Moment, in dem ich nicht bei ihm bin, schmerzt mich. Doch du musst herausfinden, ob dieses Band zwischen dir und Ludger noch besteht. Denn wenn das nicht der Fall ist, kann es sein, dass er dich im entscheidenden Moment im Stich lässt und wenn du dich dann auf ihn verlässt, bist du verloren.“
Einen Augenblick herrschte Stille, dann erhob sich Hilda und ließ ihn allein.

Ihr Marsch war an Tristesse nicht zu überbieten. Normalerweise wären Khalid die Ruhe und die Zeit zum Nachdenken willkommen gewesen, doch heute wäre es ihm lieber, wenn er jeden Gedanken hätte vertreiben können. Allerdings gab die monotone Landschaft dazu kaum Gelegenheit.
Den ganzen Vormittag über warf Hilda ihm vielsagende Blicke zu, doch Khalid sah sich nicht in der Lage, das Gespräch mit seinem Bruder, der stumm mit ausdrucksloser Miene hinter ihnen her trottete, zu eröffnen.
Doch schließlich hielt er es nicht länger aus. Er brauchte endlich Gewissheit in den Fragen, die ihn die ganze Zeit quälten. Langsam senkte er das Tempo und ließ Ludger zu sich aufschließen.
„Du musst das nicht tun, das weißt du doch?“, fragte er nach einer Weile leise.
Unbewegt warf Ludger ihm einen Blick zu.
„Was meinst du?“
„Ich meine, dass du uns nicht begleiten musst, wenn du nicht willst. Ich zwinge dich nicht dazu.“
Die Mundwinkel des Größeren verzogen sich leicht, verärgert.
„Willst du mir auf freundliche Art mitteilen, dass ihr mich nicht dabei haben wollt?“
Khalid seufzte und verdrehte im Geiste die Augen, nahm sich aber zusammen. Er durfte sich nicht reizen lassen.
„Nein, das will ich nicht“, sagte er beherrscht. „Ich bin froh, dass du dabei bist und Hilda… nun ja, sie ist eben etwas gewöhnungsbedürftig, mach dir um sie keine Gedanken.“
Schulternzuckend akzeptierte Ludger diese Tatsache und ließ ein gemurmeltes „Gut.“ Vernehmen. Da für ihn diese Sache damit offenbar aus der Welt geschafft war, setzte Khalid noch einmal von neuem an.
„Ich sage das nur, weil ich den Eindruck habe, dass du…“ Der Halbraggar stockte, nach Worten suchend. Er war für so etwas nicht geschaffen. „… dass du das nicht tun willst, dass du an dieser Verfolgung nur teilnimmst, weil ich dabei bin.“
„Nein.“ Die Antwort kam schneller als ein Augenschlag und war von einer Überzeugung, die Khalid erschrecken ließ.
Dann herrschte wieder Stille und jeder Augenblick, jedes ungesprochene Wort, war ein Angriff auf Khalids Mauern, der nicht endete, bis der Halbraggar schließlich nicht mehr an sich halten konnte.
„Warum bist du nur so?“, schrie er, alle Frustration entladend. Hilda blickte ob des lauten Geräuschs überrascht zurück, beschloss aber wohl schnell, sich nicht weiter einzumischen. Und endlich zeigte Ludger eine erkennbare Reaktion und sah seinen Bruder erstaunt an. Der war allerdings noch nicht am Ende.
„Warum machst du es uns so schwer?“, fuhr er fort und mit jedem Wort flossen Schmerz und Zorn in das Gesagt. „Ich dachte, du freust dich, dass wir uns wieder sehen, dass alles einfacher würde, wenn wir uns wieder unterstützten so wie früher. Ich verstehe, dass du um Marie trauerst, du bist nicht der Einzige. Aber weder ich noch Hilda tragen Schuld daran. Was bringt dich dazu, so zu sein?“ Khalid atmete schwer, sein Gesicht war feuerrot und Schweiß vermischte sich auf seinen Wangen mit Tränen, deren Fließen er nicht einmal bemerkt hatte.
Für einen kurzen Augenblick sah Ludger ehrlich verletzt aus, doch diese Emotion verschwand so schnell aus seinem Gesicht wie jede andere zuvor.
„Das hat nichts mit Marie zu tun“, sagte er leise, tonlos. „Du kannst es nicht verstehen.“
„Dann versuche zumindest, es mir zu erklären!“, flehte Khalid verzweifelt.
Ludger blieb stehen und für einen Moment war er wie erstarrt. Seine Gesichtsmuskeln hatten sich verkrampft und zuckten leicht, als föchte er einen inneren Kampf aus.
Dann plötzlich drehte er sich mit von Wut verzerrter Miene zu seinem Bruder, so dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurück machte.
„Du bist tot!“, schrie er.
Und dann, als wäre all seine Kraft mit diesem Aufschrei verloren gegangen, fügte er mit kaum hörbarer Stimme hinzu: „Jedenfalls solltest du es sein.“
In seinen Augen lag nunmehr eine Verzweiflung, deren Tiefe über Khalids Verständnis ging.
„Als ich deine Leiche sah“, fuhr er fort, „als ich sah, dass du tot warst, da ist auch etwas in mir gestorben. Und jetzt bist du wieder da, stellst dich vor mich, grinst und erwartest, dass alles wie früher ist. Aber was in mir fortgegangen ist, wird niemals wiederkehren. Es ist verloren, für immer. Und plötzlich bist du der lachende Gewinner und ich bin tot. Also frag mich nicht, wieso ich so bin!“
Zum Schluss war Ludger immer lauter geworden und schließlich wandte er sich ab und marschierte einfach weiter.
Khalid blieb völlig fassungslos zurück. Er wusste, er musste etwas sagen, wollte er das Band zwischen ihnen noch retten, doch er konnte nicht.
Er hatte keine Worte für das, was er empfand.

Von nun an war jedes denkbare Gespräch verstummt. Ludger hatte sich wieder in die Lethargie geflüchtet und schlich in einem sich immer vergrößernden Abstand hinter den Anderen her, weswegen diese regelmäßig auf ihn warten mussten. Khalid hatte nicht mehr versucht, das Wort an ihn zu richten. Er hatte auch noch nicht mit Hilda gesprochen, obwohl diese augenscheinlich neugierig auf den Inhalt ihres Streits war. Aber sie ließ ihm Zeit und dafür war er dankbar.
Es war mittlerweile früher Nachmittag. Der Himmel war verhangen und es war empfindlich kalt geworden, doch Khalid bemerkte es kaum, obwohl der instinktiv den Mantel enger um sich zog. Geleitet vom Tyr ließ er scheinen Schritten freien Lauf, während seine Gedanken sich in wirren Bahnen bewegten.
Was war zu tun? Er konnte im Augenblick rein gar nichts bewirken. Alles was er täte würde von Ludger falsch aufgefasst werden. Er war klar, dass seinem Bruder geholfen werden musste, nur wie? Er, Khalid, hatte ja nichts getan, was er wieder gut machten könnte, wollte er sich nicht dafür entschuldigen, noch zu leben.
Es bestand noch immer Hoffnung. Sie waren Daved auf der Spur, dem vermutlichen Verursacher von Ludgers Zustand und womöglich würde Rache an ihm Balsam für die Seele seines Bruders sein.
Khalid war unwohl bei dem Gedanken. Sein Ziel in dieser Sache war nicht Vergeltung, er wollte nur das Pak wiedererlangen, um den Krieg zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen… oder? War es tatsächlich so? Er fühlte sich nicht als Wohltäter oder Weltverbesserer und schon gar nicht als Held. Eigentlich war es ihm in seinem ganzen Leben nur darum gegangen, Sicherheit und Freiheit zu erlangen und zu behalten. Nach der Flucht in ihrer Kindheit war das zunächst auch gelungen… bis Daved alles zerstört hatte. Und dennoch waren es keine Rachegelüste, die ihn trieben. Es war hauptsächlich das Tyr – dessen Motivation für ihn ohnehin unergründlich war -, aber es war auch Angst. Ja tatsächlich, er hatte Angst, Angst davor, was Daved täte, wenn ihn niemand hinderte, Angst davor, was passieren würde, wenn er sich gegen das Tyr zur Wehr setzte. Interessant übrigens, dass er sich einer Macht unterordnete, die er nicht einmal richtig kannte. Es hinterließ einen faden Nachgeschmack. Nun, jedenfalls war dieser Macht wohl an seinem Überleben gelegen, also würde die Alternative vermutlich wenig verlockend sein.
Hatten die Helden der großen Epen auch nur so gehandelt, weil sie Angst vor der Alternative hatten? Wohl kaum, dazu waren sie zu mutig und fehlerlos. Also würde vermutlich niemals jemand ein Epos über ihn verfassen – er passte nicht recht ins Muster. Das war aber wohl auch nicht allzu traurig.
Wie gern er einfach nach Hause gehen würde… tatsächlich, es war ihm nicht aufgefallen, er hatte Heimweh. Doch nach welcher Heimat? Diejenige bei dem Menschen, der sich sein Vater nannte, konnte es wohl kaum sein und auch im Kloster hatte er sich nie recht heimisch gefühlt. Vielleicht war es die Sehnsucht danach, eine Heimat zu haben? Ja, das konnte gut sein. Durfte man das als Heimweh bezeichnen? Es passte nicht recht.
Gleichgültig, er war vom Wesentlichen abgekommen. Er musste überlegen, wie er wieder zu Ludger gelangen konnte. Hilda hatte zwar ein wenig übertrieben, im Grunde hatte sie aber auch recht mit der Behauptung, dass sein Bruder sie behinderte, sie vielleicht sogar gefährden konnte. Doch das war nicht der Hauptgrund für ihn, zu handeln. Mehr denn alles andere wollte er das Band zwischen ihnen wiederherstellen, die alte Vertrautheit zurückgewinnen, die er nie recht zu schätzen gewusst hatte.
Ein Ziel. Sie würden bald an einem Ziel ankommen. Was? Ja, zweifellos, in der Nähe war irgendetwas, was das Tyr erreichen wollte. Aber es war nicht Daved, nein, das spürte er. Es war noch nicht lange da, das Tyr wollte ursprünglich einen anderen Weg nehmen. Etwas hatte sich verändert. Hatte es mit Ludger zu tun?
Auf jeden Fall war das Tyr unruhig. Es war wie ein geräuschloses Knistern. Und es war unentschlossen, als wäre es nicht sicher, dass dieser Weg tatsächlich der Richtige war.
Khalid machte sich Sorgen. Das verhieß nichts Gutes.

Tatsächlich dauerte es aber noch eine Weile, bis sie das Ziel, welches Khalid gespürt hatte, erreichten. Sie durchwanderten zurzeit ein etwas größeres Waldstück und befanden sich vermutlich irgendwo auf der Grenze zwischen Smatis und Kynos. Im Wald war es etwas wärmer, da die Bäume eine natürliche Barriere gegen den Wind bildeten. Gleichzeitig stahl das dichte Blätterdach aber auch das Licht, so dass noch vor dem Sonnenuntergang, der unweigerlich bald seinen Einsatz haben würde, alles in ein diffuses Dämmern getaucht war.
Urplötzlich waren sie auf eine Straße gestoßen, die mitten durch das Holz führte und Khalid hätte wohl auch ohne Unterstützung des Tyrs beschlossen, dass es besser sei, diesem Weg zu folgen. Missmutig betrachtete er seine von Dornen zerschundenen Hände. Der Rest seines Körpers war dank der guten Kleidung, die Gilla ihm gegeben hatte, recht gut geschützt, dennoch war er erleichtert, sich nicht mehr durch das Unterholz schlagen zu müssen.
Schließlich – endlich – öffnete sich der Wald zu beiden Seiten der Straße in einer ovalen Lichtung und Hilda, noch immer die Spitze ihres Trupps, blieb plötzlich stehen, anscheinend überrascht. Khalid schloss nach wenigen Schritten mit ihr auf und sah, was sie stutzig gemacht hatte.
Die weitläufige Lichtung teilte sich in mehrere verschiedene Bereiche. Direkt vor ihnen, rechts der Straße, reihten sich Baumstümpfe dicht an dicht aneinander. Folgte das Auge der Waldgrenze, so sah es weiter hinten auf der Lichtung Löcher, die wohl durch das Entfernen jener Stümpfe samt Wurzelwerk entstanden und im weiteren Lauf des Blickes mehr und mehr von Gras überwachsen waren. Kam man schließlich zur Linken an, so sah man eine Baumschule, wobei das Wachstumsstadium der Pflanzen immer weiter fortschritt, bist sie zu ihrer linken Seite etwa Schulterhöhe hatten.
Inmitten dieses seltsamen Schauspiels standen eine Hütte am Wegesrand und daneben ein Erdhügel von der Größe zweier Männer. Er war mit Reisig bedeckt und durch verschiedene Spalten stieg stetig Rauch auf.
„Ich hätte nie gedacht, dass hier draußen jemand lebt“, murmelte Hilda. „Wir haben schon seit einiger Zeit keine Dörfer mehr zu sehen gekriegt.“
Khalid zuckte nur mit den Schultern und versuchte, zu verbergen, dass er tatsächlich herzlich wenig überrascht war. Er hatte zwar nicht gewusst, womit er rechnen musste, aber nun, da er sie vor Augen hatte, war es eindeutig, dass diese Hütte sein Ziel gewesen war.
„Vielleicht können wir hier einige Vorräte auffüllen“, merkte er an. Die Raggar nickte, beugte sich zu Weißdorn herunter und flüsterte ihm einige Worte zu, woraufhin dieser im Wald verschwand. Unterdessen hatte Ludger sie erreicht und ließ den Blick gleichgültig über die Szene schweifen. Khalid enthielt sich seines Kommentars und übernahm stattdessen die Führung, rasch in Richtung der Hütte schreitend. Neugier brannte in ihm, er wollte endlich erfahren, was das Tyr veranlasst hatte, ihn an diesen Ort zu führen.
Es war nicht mehr nötig, auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht hatte der Bewohner dieser Hütte sie bereits bemerkt, vielleicht war es auch nur der Zufall, der seine Hand im Spiel hatte, auch wenn Khalid mit der Zeit angefangen hatte, an diesem Phänomen zu zweifeln. Gleich aus welchem Grund, im selben Moment als der Halbraggar mit seinem Bruder und seiner Base die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, öffnete sich die Tür und ein einst groß gewachsener, nun durch gebeugte Gestalt geschrumpfter Mann verließ die kleine Kate. Nur einen Augenblick später hatte er sie erblickt, lächelte, nickte, als hätte er sie bereits erwartet und ging mit nach vorne geöffneten Händen auf sie zu.
Khlaid konnte sich nicht erwehren, er musste ebenfalls lächeln. Es war, als ströme ein Schwall von Wärme durch ihn beim Anblick dieses Alten, dessen wucherndes Haupt- und Barthaar ihm ein recht wildes Aussehen verliehen. Die stark abgetragene Kleidung aus grobem Wildleder tat ihr übriges dazu.
Auffordernd blickte Khalid zu Hilda hinüber, in deren Augen nichts als Verwirrung lag. Doch er ließ ihr keine Chance, einen Kommentar zu geben, wandte sich ab und ging auf ihren Gastgeber zu.
„Nun nun“, erklang eine freundliche, gutherzige Altmännerstimme, „ihr schaut mir nicht wie Händler aus. Besuch also? Gut gut, das haben wir selten, ja selten haben wir das hier draußen. Gut gut, ja, dann will ich mich meiner Pflichten erinnern, ja ja, und euch hereinbitten, denn so gehört es sich, soweit wir wissen. Tja ja, hm hm, was noch? Hm, etwas haben wir doch noch vergessen, nicht wahr? Oh, ah, aber ja, wie konnten wir nur…natürlich! Also, wie sind dann eure Namen, Besucher?“
Er sprach Sareis und er tat es ohne Pause in einer Gleichförmigkeit, die an sanftes Meeresrauschen erinnerte, ohne dabei undeutlich zu werden oder langweilig zu wirken. Während seiner Rede hatte er Khalid erreicht und dieser konnte die vorsorglich ausgestreckten Hände ergreifen, so dass sie für einen Augenblick dastanden wie ein gerade angetrautes Paar. Ein gräulicher Schleier von Asche lag auf den Händen wie auch auf Gesicht und Kleidung des Alten, was ihm ein leichenähnliches Antlitz verlieh.
„Mein Name ist Khalid“, antwortete der junge Mann verspätet. Trotz der gebeugten Haltung seines Gegenübers musste er aufblicken, um diesem in die kleinen, tief in den Höhlen sitzenden Augen, die ständig blinzelten, als wären sie geblendet oder wollten Schmutz entfernen, zu schauen. „Dort drüben sind meine Base Hilda und mein Bruder Ludger. Wir sind nur auf der Druchreise.“
Der Alte blickte von einem zum anderen und nickte dabei, als würde er sich etwas bestätigen. „Gut gut, ja ja, hm hm, sehr schön ist das. Sehr schön solche Namen, doch wirklich. So gut und so nützlich. Und so schön, ja schön. Wirklich, wir könnten meinen, nie solch schöne Namen gesehen zu haben. Ach, sollten wir nicht hören sagen? Nein… ja, möglicherweise. Und doch, wir liegen nicht ganz falsch, denn wir können sie sehen eure Namen in euren Augen und eurem wunderbaren jugendhaften Angesicht. Solch schöne Namen. Nun kommt denn herein, ihr schönen Namen mit euren schönen Augen und setzt euch mit uns zu Tische. Wir wollen gastgebern und gastgebern lassen.“ Noch im Sprechen begriffen machte er kehrt und ging zur Hütte zurück. Khalid wollte ihm folgen, wurde jedoch wenig sanft von einer großen Hand an der Schulter gepackt und aufgehalten.
„Was denn, Hilda?“, fragte der Halbraggar leicht verärgert.
„Das fragst du noch?“ Ihre Stimme klang, als könne sie es nicht fassen, dass Khalid sie überhaupt gefragt hatte. „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber das muss ich auch nicht, um zu wissen, dass dieser Alte nicht ganz klar im Geist ist. Was will er von uns? Und was wollen wir hier? Für solcherlei Späße haben wir keine Zeit.“
Mit einem begütigenden Ausdruck nahm Khalid die Hand von seiner Schulter weg. „Keine Sorge, Hilda. Das Tyr hat uns hierher geführt und es wird seine Gründe haben.“
Die Verwirrung auf dem Gesicht der Raggar vertiefte sich noch weiter. „Das Tyr? Was um alles in der Welt hat das Tyr denn damit zu tun? Ich sehe hier keine Gefahr, außer vielleicht in der Hütte dieses Wahnsinnigen.“
Khalid verwarf die Bemerkung mit einer Handbewegung und ging weiter. Er hatte kein Bedürfnis, sich jetzt mit seiner streitlustigen Base zu beschäftigen. Für den Moment verhielt diese sich nun gefügig und folgte ihm, doch in ihrem Blick war Wachsamkeit und eine Menge von unterdrücktem Zorn. Kurz überlegte Khalid, mit einer scherzhaften Bemerkung die Stimmung zu verbessern, doch unterließ er es dann. Hilda sah nicht so aus, als würde sie gerade Spaß verstehen. Ludger schlich wie immer ausdruckslos hinter ihnen her.
Das innere der Hütte war ein Wirrwarr aller möglichen nützlichen und weniger nützlichen Dinge, der jeden verfügbaren Platz ausnutzte. Insgesamt maß die Behausung nicht mehr als vier mal vier Schritt und es war Platz darin für eine mit Moos gepolsterte Bettstatt, eine Feuerstelle, einen Tisch mit Stuhl, eine kleine Kiste, sowie jede Menge Kräuter, Wurzeln und andere Pflanzen des Waldes, die dicht an dicht von der Decke hingen. An einer Wand lehnte eine langstielige Axt und neben der Feuerstelle stapelte sich Holz. Mitten auf dem Tisch saß ein gewaltiger Rabe, mit dem sich der Alte gerade offensichtlich angeregt unterhielt.
„Schau nur, mein Freund, wir haben Besuch, ja ja, das haben wir. Und so nette Menschen sind es. Zumindest der Kleine, ja, der hat sich mit uns direkt unterhalten, ja, das hat er. Die Große Dicke ist nicht so nett, aber das ist nur, weil sie eine Raggar ist. Hm, aber das trifft sich ja gut, nicht war? Tja ja, vielleicht kommt ihr sogar aus derselben Gegend? Wer weiß, vielleicht seid ihr gar verwandt? Ha Ha!“ Auf sein kurzes und künstliches Lachen viel der Vogel mit schräg gestelltem Kopf und lautem Gemecker ein. In seinen intelligenten schwarzen Augen blitzte es.
Erst jetzt fiel Khalid auf, dass der alte Mann plötzlich Raggaroth sprach. Das hieß, dass Hilda jedes Wort verstanden hatte. Es kostete ihn entsetzliche Mühen, nicht schamlos zu grinsen, als er zu seiner Base hinüber sah, die purpurn angelaufen war und so aussah, als würde sie bald platzen, wenn sie sich weiter zusammenriss.
„Oh, ich Unhöfliger“, fuhr der Alte nun an sie gerichtet, immer noch in der Sprache der Raggar, fort, „ich habe euch ja gar nicht vorgestellt. Seht ihr, das hier ist Alwin, ja, das ist sein Name, zumindest sagte er mir das. Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sprach, als er das sagte, denn gewöhnlich ist er ein Lügner wie er im Buche steht. Tja, aber was soll man machen. Alte Vögel sind unverbesserlich, sagt man, oder? Sagt man das? Na, jedenfalls sagte ich das jetzt. Also kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass man das sagt, immerhin habe ich es gesagt. Oder hieß es, dass alte Vögel nichts mehr dazu lernen? Nun, wie auch immer, aber das stimmt auch. So kann Alwin, wenn das sein richtiger Name ist, nur Raggaroth verstehen. Liegt wohl an seinen Wurzeln. Wenn ich Sareis mit ihm sprechen würde, würde er mich nur dümmlich anblicken und das wollen wir alle doch nicht, nicht wahr? Nein, nein. Also, nun… wo waren wir?“
Verwirrt machte er eine Pause und Hilda nutzte dies, um schnell einzugreifen.
„Du bist ein Druide?“, brachte sie, so freundlich es ihr im Augenblick gelingen wollte, und das bedeutete nicht viel, hervor. Der Alte blickte sie neugierig an.
„Druide? Was? Nein, was ist das? Hm, kann man das essen? Nun, nein, das kann es wohl nicht sein, da würdest du mich wohl nicht fragen, ob ich einer wäre. Denn wohl kaum würdest du mich essen wollen, nicht war? Ha Ha!“ Und erneut gackerte der Rabe als Echo mit. Khalid sah, wie Hildas Finger weiß anliefen, als sie die Nägel in die Handflächen presste.
„Wie heißt du?“, knurrte sie.
„Wie? Was? Wie ich heiße? Nun…hm hm, das ist nicht ganz so einfach, wisst ihr? Nein, nein, nein, gar nicht einfach ist das. Denn, ihr müsst das verstehen, das denke ich zumindest, tja, denn mein Freund Alwin hier, wenn das denn sein richtiger Name ist, also mein Freund Alwin ist ein wunderbarer Zuhörer, aber er selbst ist leider nicht so gesprächig, wisst ihr? Nein, natürlich wisst er es nicht, deswegen sag ich es euch ja, Ha Ha!“ Der Rabe gackerte. „Also jedenfalls erzählt er mir so furchtbar wenig, der gute Alwin, das heißt, wenn das denn sein richtiger Name ist. Und wenn er was erzählt, dann ist das meist irgendein Unsinn, den er sich ausgedacht hat, ja, ich habe euch ja schon gesagt, dass er ein unverbesserlicher Lügner ist. Und er weigert sich einfach, mich mit Namen anzusprechen, während er aber auf seinem besteht. Ein ungerechter kleiner Vogel ist er, hach ja ja. Tja und so ist es dann gekommen, dass seit Jahren oder länger, ich weiß es nicht genau, ich vergesse die Zeit hier draußen ganz gerne, also seit Jahren hat niemand mehr meinen Namen gesagt. Tja ja, und so kam es, dass ich, ob ihr es glaubt oder nicht, mit der Zeit meinen Namen vergessen habe. Tja, und die Händler, die hierher kommen, die nennen mich nur den Köhler, weil das nämlich das ist, was ich mache, ja, ich mache Kohlen, wisst ihr? Aus Holz mache ich sie mit dem Meiler da draußen und deswegen nennen sie mich den Köhler. Tja, so ist das. Hm, also könntet ihr mich auch so nennen, wenn ihr möchtet, einverstanden?“
Khalid konnte nicht mehr an sich halten. Der Alte war dermaßen drollig, dass er vor Lachen in Tränen ausbrach. Hilda war unterdessen weniger in der Stimmung für solcherlei Vergnügen. Sie stieß nur einen zornigen, unartikulierten Laut aus und verließ stampfend, den gleichgültig im Türrahmen stehenden Ludger zur Seite stoßend, die Hütte.
„Nun, was hat sie denn, deine Freundin?“, fragte der Köhler verwundert, nun wieder Sareis sprechend. „Hat sie etwas Schlechtes gegessen? Das kann übel sein, das kann ich euch sagen, oh ja, das kann ich. Hier draußen im Wald kann das ständig passieren. Üble Sache ist das, lass die das gesagt sein. Das kann man nicht einfach so auf die leichte Schulter nehmen, wie man sagt. Tja ja, ich finde, du solltest nach ihr sehen, deiner Freundin, also deiner Base, das sagtest du doch, nicht wahr? Ja, das sagtest du. Also, du solltest nach ihr sehen, deiner Base, nicht wahr?“
Der Angesprochene wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte, unfähig, zu antworten. Kopfschüttelnd verließ er die Hütte und hörte hinter sich noch den alten Köhler sprechen.
„Nun, dann wollen wir uns um das Essen kümmern, wollen wir? Du hilfst mir doch gewiss, ja ja? Das tust du, das sehe ich doch…“
So ging es noch eine ganze Weile weiter, aber Khalid hörte es nicht mehr. Beiläufig fragte er sich, ob der Alte mit Ludger oder Alwin, so das denn sein Name war, gesprochen hatte.

Hilda war nur wenige Schritte nach draußen gelaufen und versuchte nun, mit wilden Fußtritten gegen das unschuldige Unterholz ihrem Zorn Luft zu machen.
„Nun beruhige dich wieder“, rief Khalid noch im Kommen begriffen. „Was führst du dich denn so auf? Es ist doch nur ein alter Mann und er hat uns etwas zum essen und einen Platz für die Nacht angeboten, was willst du denn mehr?“
Mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen wandte sich die Raggar ihm zu. „Mein Zorn richtet sich nicht gegen diesen verwirrten alten Kauz, sondern gegen dich“, knurrte sie. „Warum hast du uns hierher geführt? Wie verlieren viel zu viel Zeit und du hast nichts Besseres zu tun, als über den Wahnsinn dieses senilen Köhlers zu lachen. Davon abgesehen traue ich ihm nicht.“
Empört blickte Khalid seine Base an. „Warum traust du ihm nicht? Der Mann kann doch keiner Fliege was zuleide tun. Er ist etwas verwirrt vom langen Leben in dieser Einsamkeit, aber er ist harmlos, da bin ich mir sicher.“
„Das kannst du nicht wissen“, gab Hilda prompt zurück. „Hier draußen dürfen wir niemandem trauen.“
„Das Tyr sagt mir aber, dass dieser Mann uns nicht Böses will“, konterte Khalid ebenso schnell.
„Das Tyr, ja…“ Kurz und aus einem Khalid unerfindlichen Grund lachte Hilda hart auf. „Nun, wie auch immer. Es gibt noch andere Gründe, warum mir nicht wohl bei der Sache ist. Zum einen sehe ich zwar einen Meiler, aber weder hier draußen noch in der Hütte des Alten gibt es auch nur ein Stück Kohle.“
Der Halbraggar zuckte lediglich mit den Schultern. „Dann war wohl vor kurzem ein Händler hier. Das hat nichts zu bedeuten“, sagte er gleichgültig.
„Das ist noch nicht alles“, fuhr Hilda, immer noch gereizt, fort. „Dieser Kreis aus Bäumen und Stümpfen…er ist nicht richtig. Ein Köhler braucht meistens Unmengen von Holz, also wird er hier regelmäßig Bäume fällen müssen. So schnell können sie aber nicht nachwachsen, der Kreislauf funktioniert nicht, mal abgesehen davon, dass ich dem alten Mann nicht zutraue, alleine die ganzen Stümpfe hier zu entwurzeln. Es sei denn natürlich er ist tatsächlich ein Druide. Aber das ist unmöglich.“
Ein nachsichtiges Lächeln legte sich auf Khalids Lippen. „Nun, du hast die Erklärung ja bereits gegeben. Vielleicht ist doch mehr möglich als du vermutest.“
Doch die Raggar schüttelte vehement den Kopf. „Ein Druide so weit im Süden, außerhalb unserer Lande? Nein, ich hätte davon wissen müssen. Niemand erzählte je von einem Druiden, der hier in euren Landen lebt.“
„Liebe Base“, antwortete Khalid seufzend, „es mag Dinge geben, die du nicht weißt. Und nun lass dieses lächerliche Verhalten und komm wieder mit. Ich habe Hunger, es wird bald Nacht, wir hätten ohnehin rasten müssen. Und selbst wenn dieser Alte wirklich in irgendeiner Weise gefährlich sein sollte, so haben wir immer noch Weißdorn, der über uns wacht. Wir sind hier nicht mehr oder weniger in Gefahr als draußen im Wald.“
Widerstrebend und noch immer verärgert nickte Hilda. „Nun gut, wir bleiben. Aber ich bleibe hier draußen, beim Meiler. Dort ist es warm und in der Hütte ist ohnehin nicht genug Platz für uns alle.“
Khalid nickte und so trennten sie sich. Die Raggar schritt zum Meiler und ließ sich dort ins dünne Gras nieder, während ihr Vetter zurück zur Hütte schritt. Doch schon nach wenigen Schritten stutzte er. Die Stimme, die ihm von dort entgegen schallte, hatte er in der letzten Zeit nur selten vernommen.
„Ja, du hast Recht“, sagte Ludger und es schien fast, als wäre er amüsiert. „Dann ist es also abgemacht.“
Völlig überrascht sah Khalid von der Tür der Hütte aus, wie sein Bruder und der alte Köhler sich die Hand gaben, woraufhin sich Letzterer einer blubbernden Brühe im Kessel über der Feuerstelle und Ersterer dem Eingetretenen zuwandte. Ludger strahlte über das ganze Gesicht.
„Stell dir vor, Bruder, der Köhler verkauft uns einige Decken und einen Haufen Proviant für ein paar Suons“, rief er und schritt dabei auf seinen kleineren Bruder zu. Dieser musste an sich halten, nicht zurück zu weichen. „Er sagt, er bräuchte das Geld eigentlich gar nicht, aber er würde es bei den Händlern gegen Dinge, die ihm nützlicher sind, eintauschen können.“
„Ja, ja, so ist es“, kam von der Feuerstelle. „Das habe ich gesagt, genauso habe ich es gesagt. Und Alwin, oder wie auch immer mein Freund hier wirklich heißt, ist Zeuge gewesen.“ Der Rabe krächzte zur Bestätigung. Plötzlich, nur kurz, lief Khalid ein Schauer über den Rücken, der aber bald wieder durch wohlige Wärme ersetzt wurde.
„Gut…“, stammelte er. „Das ist…gut. Wir brauchen Proviant... für die Weiterreise…nun, ich habe mit Hilda gesprochen. Sie sitzt draußen, am Meiler. Ich denke, wir sollten dort auch später schlafen.“
„Da hast du Recht“, überlegte Ludger. Er war so furchtbar normal, dass Khalid es mit der Angst zu tun bekam. „Dann lass uns doch auch draußen zusammen essen. Die Suppe ist zwar von gestern, aber ich denke, sie wird schmecken. Geh nur schon vor, wir kommen gleich nach.“
Der junge Mann war so verwirrt, dass er nur hilflos nicken konnte und langsamen Schrittes die Kate verließ.
„Was ist denn in dich gefahren?“, rief Hilda, als sie ihn kommen sah, doch Khalid konnte nur den Kopf schütteln. Was war nur mit Ludger passiert? Es musste irgendetwas geschehen sein, während er mit Hilda gesprochen hatte. Nur was? Vielleicht hatte Hilda doch Recht und irgendetwas war mit diesem alten Mann verkehrt… Und was um der Heiligen willen war so seltsam daran, dass die Suppe von gestern war? Wenn sich doch nur in seinem Kopf nicht alles drehen würde! Diese Wärme machte ihn ganz benommen, sie ging wohl vom Meiler aus.
Er kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn im selben Augenblick kamen Ludger und der Alte aus der Hütte. Jeder trug zwei dampfende Schalen in den Händen und auf der Schulter des Köhlers saß Alwin.
Khalid sah Hilda offenen Mundes ihrem anderen Vetter entgegen starrend, der lachend und fröhlich schwatzend voranschritt. Dennoch sagte sie nichts. Ein stummer Blick zwischen der Raggar und Khalid besagte, dass der Zeitpunkt, Ludger darauf anzusprechen, nicht dieser war.
Die Schalen wurden verteilt und zunächst war der Hunger die einzige Macht, der jedwede Aufmerksamkeit galt. Die Suppe schmeckte ähnlich wie die Mahlzeiten im Kloster, wenig. Dafür schien sie umso nahrhafter zu sein, bestand aus Erdäpfeln, verschiedenen Wurzeln und einer kleinen Fleischeinlage, die Khalid nicht näher identifizieren konnte, es mochte Huhn sein.
Während der Mahlzeit unterhielt sich Ludger angeregt mit dem Köhler und ließ sich dabei nicht dadurch stören, dass er immer wieder durch lang gezogene Nichtigkeiten unterbrochen wurde. Der junge Mann sprach von ihrem Leben im Kloster, den Raggar und allem, was passiert war. Dies tat er indes in einer Beiläufigkeit, die Khalid ans Herz griff. Sorgsam achtete er auf die Reaktion des Alten, doch er ließ sich nichts anmerken, wenn die Erwähnung der Raggar ihn irgendwie bewegte. Allgemein zeigte er wenige Gefühle, folgte der Geschichte mit andauerndem Gleichmut.
Khalids Gedanken waren unterdessen wie mit feinem Tuch überzogen. Das Essen hatte ihn schläfrig gemacht und seine Grübeleien erschienen ihm nun unnötig. Welchen Grund es auch immer hatte, es war gut, dass Ludger seine Lethargie hinter sich gelassen und zu seinem früheren Selbst zurück gefunden hatte. Ein Blick auf Hilda zeigte ihm, dass sie diese Meinung offensichtlich nicht teilte. Ihre Mine drückte unverhohlenes Misstrauen aus und offensichtlich ärgerte sie es fürchterlich, dass sie kein Wort verstand. Khalid kicherte. Warum auch immer, das war irgendwie komisch. Dann sank er zur Seite in wohlige Wärme hinein.



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Kommentare


Von Jason-Potter
Am 26.07.2009 um 15:12 Uhr

Hallo Paglim,

Sorry, dass ich erst jetzt dazu gekommen bin, dein Kapiel zu lesen. Meiner Meinung nach ist es das bisher Beste, das du geschrieben hast. Was mir bei deinem Stil schon immer gut gefallen hat und was dich von allen Schreibern in diesem Forum hervorhebt ist die Tiefgründigkeit deiner Charaktere, sie haben echtes Profil.
Außerdem liebe ich deinen anspruchsvollen Humor, dabei kommt dann so etwas wie der Alte heraus. Ich finde ihn spitzenmäßig, vor Allem weil ich glaube (ich bin mir aber nicht sicher), dass da noch mehr dahinter steckt, als du es vermuten lässt.
Ich hoffe du schaust hier noch ins Forum, denn in letzter Zeit ist es hier ja etwas ruhig geworden und die mangelnden Kommentare ermuntern einen auch nicht unbedingt zum munteren Weiterschreiben.
Ich hoffe du tust es trotzdem und veröffentlich es wieder hier, denn ich will wissne wie es weitergeht.

Grüße Ralf

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